Jedes Vergehen kommt zum Ende. Wäre es anders, so gäbe es nichts als Erosion, Paralyse, Todesfraß. Darin läge dann eine seltsame Übereinstimmung von vereinzelter Straftat und allgemeiner Vergänglichkeit. Doch solch schreckenerregend erdachte Perpetuierung hartnäckiger Negation erfährt eine zunächst milde, dann immer deutlichere Abschwächung bis zum gänzlichen Verschwinden ihrer selbst. Irgendwann ist nämlich im richtigen Leben auch mit dem schwelgerischsten fin de siècle einfach Schluss; da wird ein Punkt gesetzt: fertig – aus.
Im Vorhof des Museums für anatolische Zivilisationen in Ankara ist die Kopie einer freistehenden hethitischen Steinskulptur aufgestellt. Die Plastik, die im Original aus dem dreizehnten Jahrhundert vor Christi Geburt stammt, stellt Tessup dar, den Wettergott des Himmels. Seine Kopfbedeckung zieren vier Hörner; flankiert wird seine Gestalt von zwei Löwen; die Rechte ist siegend erhoben, mit der Linken steuert er vielleicht einen Streitwagen: Bewehrte Macht über alle Himmelsrichtungen; ungebrochene Gewalt über alles, was da lebt und webt und west; beidhändige Tatkraft in wetterwendischer Willkür.
Doch das Großreich der Hethiter wurde vertilgt durch den Einbruch der sogenannten Seevölker um das Jahr 1200 der vorchristlichen Zeit … Anatolien sah hernach auf seinem Boden noch unzählige andere Kulturen kommen und gehen, in je ihrem Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sollte ein Oswald Spengler doch Recht gehabt haben mit der These aus seinem in diesem Herbst 2018 nach Christi Geburt hundert Jahre alt gewordenen Buch vom „Untergang des Abendlandes“, derzufolge jede Kultur aus sich selbst heraus wächst und in sich vergeht, ohne nennenswerten Einfluss von außen, quasi organisch, bar jeglicher kontinuierlichen Nachwirkung, mithin (kon)sequenzlos?
Blicken wir auf die andere Seite der Spiegelachse, die das imaginäre Jahr Null in unserer herkömmlichen Zeitrechnungsleiste bildet. Von den hethitischen Rätseln der Jahre um 1200 vor Christus landen wir in dem erst kürzlich aus unzugänglicher Wildnis in urbares Land verwandelten Grund und Boden der Epoche um Anno Domini 1200. Die Mönche des Zisterzienserordens schufen, gänzlich auf sich selbst gestellt, unter anderem hier im nebeligen Norden durch Forst-, Wasser- und Landwirtschaft die Grundlagen unserer heutigen mitteleuropäischen Zivilisation.
Aber die ursprünglich dazugehörige wetterfeste Kultur, die eigene Art zu beten, zu arbeiten und zu lesen, ist längst dem Vergessen anheimgefallen. Spätestens mit dem „Herbst des Mittelalters“, den Johan Huizinga für die flämisch-wallonische Welt so eindrücklich beschrieben hat, gingen Geist und Wissen, Handwerk und Kunst, wie sie sich innerhalb der tausend Jahre zuvor entwickelt hatten, in ihrer bis dato unbestrittenen Geltung still und, in entdeckungsfreudigem fortschrittsgläubigem Zeitgeist, weitgehend unbetrauert dahin.
Jedem Kulturpessimisten hingegen ist der jahreszeitliche Herbst ein Fest. Hier sieht er alles ausgebreitet, wofür er keine differenzierten Worte findet. Die Trauer des Herzens und der Seele wird ihm behelfsmäßig sozusagen eine Augenweide. Im Blick auf den Baum mit seinen welkenden Blättern an trübsinnig nach unten hängendem Zweigwerk vermeint er das Ende der Welt zu erkennen.
So „geerdet“ kann es da mitunter einen verhängnisvollen Umschwung geben: Der Philosoph wird zum Terroristen, gibt seine eigene Tradition hemmungslos wetternd preis. Kein schöpferischer Impuls wohnt ihm dann mehr inne, sondern es triumphiert die Aggression. Das Pikante dabei: Er wähnt sich auch noch gesamtgesellschaftspolitisch im Recht, wenn er nur gründlich allen Eigencharakter über Bord wirft, das Kind mit dem Bade ausschüttet, jegliches Autobiographische von Sprache, Sitte, Staatlichkeit, Sehnsucht, Schönheit, Substanz sui generis demonstrativ verachtet und sie denen madig macht, die in herzbetonter wie seelischer Trauer verbleiben, um diese innerlich durchzuarbeiten und gerade in fortwährender geduldiger Bewältigung neue Kräfte zu bekommen.
Mir scheint, dass die 68er-Bewegung, bei allen berechtigten kritischen Äußerungen und daraus folgenden Umwälzungen, aufs ganze gesehen die eigentümlich herbstlich-individuellen Stärken des Einzelnen völlig unterdrückt hat. Dieses diktatorische Gebaren fällt ihnen mittlerweile auf die Füße. Rechtschreibreform und Rauchverbot haben viele Bürger noch hingenommen. In Hinsicht auf Genderquoten und sonstige „Gerechtigkeiten“ aber sind mittlerweile etliche Zeitgenossen nicht zuletzt von jener rohen Humorlosigkeit genervt, mit der diese gedankenpolizeilichen „Anliegen“ exekutiert werden. Und bei den immer offizieller werdenden Verteufelungen von automobiler Fortbewegungsfreiheit oder deren Gängelung durch hohe Kraftstoffpreise sieht es schon ganz anders aus: Gelbwestfilme sind angesagt – vive la France!
Tiefstehende Sonne lässt vielleicht aufmerken. Dass die Monaden bei Leibniz fensterlos gedacht sind, müsste eigentlich schon zur Genüge irritieren. Und die Auffassung, geschichtliche Entwicklungslinien höben an und vergingen, ohne auch nur leiseste Spuren zu hinterlassen, ist zumindest anfechtbar. Es gibt bei Huizinga unter vielen schönen Sentenzen auch diesen aufschlussreichen Satz: „Das spätere Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist.“ Also ein Herbstabschnitt, auf Schluss und Zielpunkt eingestellt, aber doch so, dass zumindest die priviligierten Schichten in ihren eingeübten, womöglich auch eingefahrenen Ritualen und Gebräuchen souverän hantieren und ihre Rollen spielen konnten. Individuelle Lebenslust war, allem Verfall zum Trotz, nicht minder, sondern durchaus stark. Das frei kräftemessend wettspielerische Element nahm nicht ab, sondern zu. Und wer nicht dieser Hautevolée angehörte – also zu den allermeisten zählte – , lebte so vor sich hin in Mühe und Arbeit wie ehedem die gesamte geschichtlich greifbare Menschheit nach dem Sündenfall.
Solch von 68er-Seite wütend bekämpfter postlapsarischer Urgrund von Kultur und Zivilisation macht bei aller Rede vom frühlingserwachten Werden und herbstdämmrigen Vergehen den biblischen Stachel aus: wider die Lust und / oder den Frust am Untergang. Was sich jahreszeitenunabhängig, epochenübergreifend und erstaunlich allwettertauglich durchzieht, ist jene Schwäche, die es dem Menschengeschlecht letztlich versagt, eine durchgehend stabile, allzeit gültige und überall gleichermaßen anerkannte Herrschaft aufzurichten. Man möchte angesichts der historisch tausendfach verbürgten Fälle von Machtergreifung in wessen Namen auch immer ausrufen: Gott sei Dank. Aber zugleich ist dem alten Adam eine ihm ursprünglich total fremde, jedoch frohe Kunde ganz von außen göttlich eingeflößt, die es ihm erlaubt, mit neuen Augen seine dunkle Misere zu durchschauen.
Aus diesen Lichtstrahlen, die vor lauter Bäumen dann doch den Wald durchscheinen lassen, speist sich unser christliches Abendland. Möglich, dass sich dessen äußere Formen verändern werden und es insofern untergeht wie bisher noch jede von den unzähligen Kulturen, die geschichtlich verbürgt sind. Von den Hethitern über die Zisterzienser bis zur Trauerweide und zum Herbstwald mit sich ankündigendem niedrigen Wintersonnenstand über erstem Schnee: Von allen ist am Schluss doch etwas übriggeblieben. Die Hethiter sind das bisher nachweislich erste Volk mit indogermanischer Sprache; die Zisterzienser wirken in ihrer innovativen Art weiter: Die konnten richtig zupacken! Und mit den Bäumen gilt: Jegliches Vergehen nimmt ein Ende, findet friedlichen Beschluss, kommt zum Punkt, ganz standhaft. Hoffen wir auch diesmal das Beste.
Fotos: (1) Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara, 2014; (2) Mauerwerk ums Kloster Loccum, 2018; (3) Trauerweide, 2018; (4) Schlosspark in Rastede, 1979.
Zitat aus: Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (1941). Herausgegeben von Kurt Köster. Stuttgart 1987. Seite 83.
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