22G+

Musikalisches Doppeljubiläum MMXXII: In den hundert Jahren zwischen 1722 und 1822 wurden Altes und Neues Testament erschaffen.

Vor drei Jahrhunderten schrieb Johann Sebastian Bach (1685-1750) das Deckblatt zum ersten Teil seines Wohltemperierten Klaviers, in eindrucksvoller Schönschrift. Und genau zwei Jahrhunderte ist es nun her, dass Ludwig van Beethoven (1770-1827) die Komposition seiner letzten Klaviersonate abschloss, in kalligraphisch nicht ganz so einwandfreier Niederschrift.

Es muss aber auch gesagt werden, dass Bachs berühmtes Werk überhaupt erst im Jahre 1801 vollständig gedruckt erschien: bei Simrock in Bonn am Rhein, der Geburtsstadt Beethovens! Da waren knapp achtzig Jahre schon vergangen! Der Komponist von insgesamt zweiunddreißig offiziell gezählten Klaviersonaten hingegen sah die Veröffentlichung seines Opus 111 schon im gleichen Jahr seiner Fertigstellung. Doch war die Zeit in den 1820er Jahren auch verlegerisch längst reif und empfänglich geworden für das umfangreiche Schaffen dessen, der „nicht Bach, sondern Meer“ heißen sollte, wie der dritte Wiener Klassiker einmal bemerkte.

Ihm selbst, dessen 250. Geburtstag wir vor kurzem, so gut es eben ging, gefeiert haben, war Bachs Wohltemperiertes Klavier von Kindheit und Jugend an vertraut. Schon lange vor Drucklegung dieses epochalen Werks kursierten im Bachschen Haus, also zu Lebzeiten des Köthener Hofmusikers (1717-1723) und späteren Leipziger Thomaskantors (1723-1750), handschriftliche Kopien, angefertigt von Familienmitgliedern und Schülern. Die wurden wiederum abgeschrieben und so weiter und so fort … – so dass sich diese Musik buchstäblich „unter der Hand“ rasch verbreitete, um von Kennern und Liebhabern in ganz Europa studiert und gespielt zu werden.

Durch die Vermittlung des für seinerzeit schon ältere Musik empfänglichen Barons Gottfried van Swieten (1733-1803) kannten bereits Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) solche Abschriften und ließen sich durch sie zu eigenen Bearbeitungen anregen. Dem österreichischen vormaligen Botschafter in Berlin, der 1777 mit etlichen kopierten barocken Musikalien in die Habsburgermetropole zurückgekehrt war, entging auch nicht, dass der Jungstar Beethoven bei seinen ersten staunenerregenden Auftritten im Wien der 1790er Jahren gern aus Bachs Wohltemperiertem Klavier spielte.

Dem Bonner Hofmusiker und Wiener Starpianisten „Ludwig van“ waren Kenntnis und schöpferische Aneignung von Bachs Wohltemperiertem Klavier durch den Bonner Hoforganisten Christian Gottlob Neefe (1748-1798) zuteil geworden: Der stammte aus Chemnitz, war Thomaner in Leipzig gewesen, zudem studierter Jurist und lebenskluger Musiker in einer fahrenden Schaustellertruppe, ehe man in der gleichermaßen superkatholischen wie aufgeklärt-toleranten kurkölnisch-fürstbischöflichen Residenz zu Bonn die Gaben dieses evangelischen Freimaurers entdeckte und nichts dagegenhatte, dass er seine mitgebrachten Bach-Noten pädagogisch wertvoll einsetzte.

Neefes Unterricht prägte nachhaltig Beethovens künstlerische Laufbahn. Namentlich noch im ersten Satz von Opus 111, in den zweistimmigen laufwerkartigen Passagen, meint man den „alten“ Bach im energischen c-Moll präludierend und in der Durchführung sogar ein wenig fugierend herauszuhören.

Der ganze Kosmos Beethovenscher Klaviermusik ist, wie jede Komposition für besaitete Tasteninstrumente, überhaupt nur in solcher harmonischen Fülle möglich geworden dadurch, dass man in der Bachzeit die reine und die mitteltönige Stimmung zur „wohltemperierten“ weiterentwickelte – eine physikalische Glanzleistung! Man meliorisierte die Intervalle so, dass alle zwölf Töne der chromatischen Aufeinanderfolge innerhalb einer Oktave gleichberechtigt als Grundtöne fungieren konnten. Ohne kleine Schummeleien ging das nicht – aber hier führt einmal die Überlistung der Natur zu schönen Ergebnissen. Um solch neu gewonnene kreative Freiheit theoretisch und praktisch zu demonstrieren, stellte Bach seine Präludien und Fugen je paarweise zusammen, gleichnamiges Dur und Moll direkt hintereinandergeschaltet und dann in dieser Manier halbtonschrittweise aufsteigend jeweils die nächsten beiden Paare …

Den 24 wohltemperiertklavieristischen Pärchen aus Köthen ließ Bach in Leipzig zwei Jahrzehnte später (1742/44) noch einmal so viele folgen, gewissermaßen bei Durchsicht seiner Bücher: Den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Also zweimal 24 Präludien & Fugen, 48 Stücke pro Teil, 96 insgesamt! Stundenlang lässt sich darin stöbern und daraus spielen – das machte Bach selber gern: Wenn er keine Lust hatte, einem Schüler ausführlich Klavierstunde zu erteilen, dann setzte er den auf einen Stuhl und sich selbst ans Instrument, vergaß die Zeit und füllte sie zugleich aus … Einer der derart zum Zuhören geheißenen Eleven hat später berichtet, es sei ihm wie wenige Minuten vorgekommen: also alles andere als langweilig!

Das erste Paar bei Bach steht in C-Dur. In flexibler, sozusagen mutierter Betrachtung ist Beethovens letzte Klaviersonate in ihrer Zweisätzigkeit ebenfalls paarweise angelegt, c-Moll/C-Dur. Die hochdramatisierte Frage, warum es denn in Opus 111 keinen dritten Satz gebe, ist, bei aller geistreichen musikphilosophischen Auseinandersetzung bis hin zum „Doktor Faustus“ (1947) eines Thomas Mann, wenig aussagekräftig für die traktierte Sonate selbst: Hier hat Beethoven eben den zweisätzigen Typus grundgelegt, ähnlich wie bei den beiden kleinen Klaviersonaten Opus 49 (Nummer 1: g-Moll/G-Dur// Nummer 2: G-Dur/G-Dur) oder bei den gewichtigen Opera 54 (F-Dur/F-Dur) und 90 (e-Moll/E-Dur). Auch Haydn und Mozart haben zweisätzige Sonaten hinterlassen, ganz zu schweigen von den vielhundert Einsätzigen des Bach-Zeitgenossen Domenico Scarlatti …

Von den gebrochenen Akkorden ohne Melodie im ersten Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier bis hin zur Arietta-Melodie nebst ihren harmonisch und rhythmisch immer ausziselierteren Variationen im letzten Sonatensatz Beethovens ereignet sich ein musikalischer Höhenflug, der seinesgleichen in der Weltgeschichte sucht. C-Dur in allen Facetten: daraus ergibt sich alles weitere. Zwischen Bach und Beethoven.

Das verlangt mehr, bis nahe an den Punkt, den Bogen zu überspannen. Klingt dann ein „neues C-Dur“ auf, etwa in Beethovens Diabelli-Variationen, in Franz Schuberts Wandererfantasie, gar in Robert Schumanns Toccata und Fantasie? Von 22 ab geht die Geschichte jedenfalls weiter: Und die Dominante von C ist immer noch G! Danach kommt noch was. Wie 1722 und 1822 geschehen, so lässt sich das für unser 2022 vielleicht ja doch auch hoffen. Zweiundzwanzig perfekte Partizipien schlage ich hier vor zur Beschreibung von Entstehung, Umgang und/oder Aneignung musikalischer Werke, ganz unverbindlich:

22G gesetzt – gespielt – gehört – gekonnt – geübt – genossen – gefühlt – gelesen – gemocht – gelobt – geschrieben – gedruckt – gesungen – gelungen – geschaffen – gelernt – geplant – gebaut – geklärt – gelehrt – gerühmt – geschafft plus gerngehabt … 🙂

Biblische Ausmaße – und damit sei geschlossen, wie oben begonnen! – kommen mit Hans von Bülow (1830-1894) ins Spiel: Der Pianist und Dirigent hat Bachs gesamtes Wohltemperiertes Klavier und sämtliche 32 Klaviersonaten Beethovens in diesen erstaunlichen Zusammenhang gebracht: „Das wohltemperirte Clavier ist das alte Testament, die Beethoven’schen Sonaten das neue, an beide müssen wir glauben.“

So ultimativ ausgerüstet wünsche ich allseits ein klangvolles Jahr 2022!

Ob solche Folgen erwünscht sind?

Die Coronapandemie zeitigt Effekte, die bis vor kurzem noch rundweg strafbar waren. Das Vermummungsverbot galt unangefochten. Radikalinskis aus sämtlichen extremen Ecken, lechts wie rinks, wurden entsprechend dingfest gemacht – im Zeichen einer offenen Gesellschaft, die sich dem Grundsatz „Mehr Demokratie wagen“ verpflichtet wusste. „Gesicht zeigen“ war angesagt in allen Variationen. Das offene Visier, der herzhaft entwaffnende Blick, das freundliche Zwinkern aus freiem Antlitz, die Beziehung von Angesicht zu Angesicht, unbedingt persönlich und eben zutiefst menschlich: all das machte das Leben wesenhaft abendländisch aus.

Dann kam bekanntlich die Seuche, und viele Wochen später, nachdem sich das Virus schon längst breitgemacht hatte, auch eine „Maskenpflicht“ in bestimmten Alltagsbereichen. Nur wurde gleich mitgeteilt: Medizinisch wirksame Schutzschürze würde es für den plebs keinesfalls geben; man solle sich notfalls mit normalen Tüchern ausstatten, das genüge schon. Na wunderbar. So dringend konnte es also um die Volksgesundheit nicht bestellt sein. Darum holte ich, in beflissener Umsetzung der dringenden und zugleich irgendwie höchst nachlässigen offiziellen Empfehlung, mir mein olles Palituch (modern in den 1970/80er Jahren) hervor:

https://feoeccard.com/2020/04/16/back-to-the-seventies/

Aber die alljährlich sich als unbesiegbar erweisende Sonne bewirkte weitere Schritte, um hienieden im regierungsamtlichen Klein-Klein die Einzelpersönlichkeit zu entwerten:

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Nicht nur, dass jetzt ein Mundnasenschutz (MNS) in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen getragen werden muss; und besonders ängstliche Mitmenschen ihr angebliches Schutztextil auch darüber hinaus aufsetzen, etwa beim Spaziergang, auf dem Fahrrad oder gar in Gottesdiensten. Als ob frische Luft, freier Fahrtwind oder die mittlerweile sprichwörtlich gewordenen „Aerosole“ nachgerade schädlich seien … Vorauseilender Gehorsam, wohin der erstaunte gesunde Menschenverstand auch blickt. Nun scheint in solch vermaledeiten Zeiten von Frühjahr und Sommer noch öfters mal die Sonne: Da benötigt man unbedingt getönte Augengläser – und zu allem hygienisch-hysterischen Überfluss noch ob des figurativen Figaro-Finales eine so richtig finale Finesse:

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Weil nämlich das Haareschneidenlassen derzeit so unendlich kompliziert gemacht wird, von der ausschließlich telefonischen Anmeldung über den geforderten Nass-Schnitt bis hin zur irgendwie kontaktlos zu geschehenden Gesamtprozedur, gibt es mittlerweile Zeitgenossen, die sich um ihren wirrwildwachsenden Schopf nicht weiter scheren (!) und ihn im Zweifelsfall doch lieber unter einer Kopfbedeckung zu zähmen versuchen.

Also: MNS ist Standard. Sonnenbrille deucht den Coolen unerlässlich. Mütze scheint schicklicher als Barhaupt. So schnell zerrinnt die bürgerliche Hochkultur schöner Seelen. Burkaträgerinnen und Mitläufer im „Schwarzen Block“ erfüllen da doch wunderbar staatstragend die aktuellen Vorgaben zur vollsten Zufriedenheit. Es tut mir leid: Da bleibt einem, ehrlich gesagt, mit dem Titel von Grabbes Komödie aus deutschem Vormärz (1822) gesprochen, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung ziemlich erschreckend vorhersehbar im Halse stecken.