August 1806 in memoriam

Am 6. August 1806 endete das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Franz II. legte die römisch-deutsche Kaiserwürde ab und regierte fortan (nur noch) als Kaiser Franz I. von Österreich. Wien blieb also – wenn auch anders als bis dahin – eine Kaiserresidenz, und Haydns „Kaiserhymne“ konnte dort mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“ noch jahrzehntelang gesungen werden. Wir stimmen auf diese Melodie heutzutage „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ an. Was aber bis in unsere Gegenwart musikalisch nachwirkt, kann doch nicht verwischen, dass damals eine regelrechte Zeitenwende besiegelt wurde.

Denn das Duell zweier Kaiser nahm eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. Seitdem ist es aus der Geschichte verschwunden, nach fast achteinhalb Jahrhunderten Bestand.

Am 2. Februar des Jahres 962 war einst der deutsche König Otto, nachmals „der Große“ genannt, in Rom zum römischen Kaiser gekrönt und gesalbt worden. Seitdem gab es in Mitteleuropa wieder ein Imperium Romanum, gar bald mit dem Zusatz sacrum versehen, also ein „Heiliges Römisches Reich“, erstanden aus den idealisierten Resten der fränkisch-karolingischen Welt, diese wiederum fußend auf den verchristlichten Vorstellungen einer Pax Romana, die seit der heidnischen Antike die Geschichte und Kultur rund um das Mittelländische Meer geformt hatte.

Dieses ottonisch, später salisch und staufisch regierte Reich büßte im Laufe der Zeit immer mehr von seinen hehren Idealen und deren Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung ein. Im Investiturstreit zerrieben sich weltliche und kirchliche Herrschaftsträger wechselseitig. Seit dem 13. Jahrhundert wuchs überdies das Selbstbewusstsein unter den Nachfolgern der ursprünglichen Lehnsnehmer. Und nach dem Verlust seiner europäischen Dimension seit dem 15. Jahrhundert galt das Reich nur noch „deutscher Nation“ angehörig. Die Wirren von Reformation, Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg setzten der tatsächlichen imperialen Macht der Kaiser weiter zu. Nun, 1806, hatte sich das Reich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt.

Kaiser Franz sah das Ende kommen und installierte 1804 für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der traditionellen Nachfolge der habsburgischen Erzherzöge.

Das Absterben des Alten Europa, dessen größten Gebietsanteil eben das Heilige Römische Reich deutscher Nation einnahm, begann mit der Französischen Revolution ab dem 14. Juli 1789. Damals, so sagt es ein Merksatz aus meiner Schulzeit, gab es in Deutschland ebensoviele Groß-, Klein- und Kleinststaaten wie man Jahre nach Christi Geburt zählte, also 1789: eintausendsiebenhundertneunundachtzig. Deutschland war groß und der Kaiser in Wien weit weg: so erlebte man diese zerklüftete politische Landschaft gleich einem Flickenteppich.

Jeder Landesfürst war eifersüchtig auf seine hoheitlichen Rechte bedacht. Da gab es größere Herrschaftsgebiete wie etwa Preußen, Württemberg oder Bayern, sodann unzählige Herzogtümer und Grafschaften, dazu etliche Ritterschaften und Freie Reichsstädte. Alle ihre jeweiligen Herrscher oder Senatoren pochten auf ihre Eigenständigkeit. Sie schlossen Bündnisse mit ausländischen Mächten, waren mit ihnen dynastisch verbunden – etwa Hannover mit Großbritannien oder Oldenburg mit Dänemark und Russland – und verbaten sich normalerweise jedes Hineinregieren des Kaisers.

Und es gab die geistlichen Herrschaften, regiert von zumeist römisch-katholischen Fürstbischöfen. Diese Territorien waren es, die am schmerzlichsten die Wucht der politischen Veränderungen durch die Vorgänge in Frankreich zu spüren bekamen. Revolutionstruppen hatten das Rheinland besetzt. So ging seit Ende des 18. Jahrhunderts das ganze linksrheinische Gebiet des Alten Reiches verloren. Um die deutschen Fürsten zu entschädigen, löste man im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 in Regensburg nahezu alle geistlichen Fürstentümer auf und schlug deren Gebiete weltlichen Herren zu.

Mit dieser staatskirchenrechtlich bis heute bedeutsamen Flurbereinigung verschob sich insgesamt das konfessionelle Gefüge des deutschen Ancien régime. Mit einem Male erbten protestantische Herrscher mitunter auch kurfürstliche Funktionen. Es wurde dadurch unwahrscheinlich, dass eine evangelische Mehrheit in diesem erlauchten Kreise der Kurfürsten einen römisch-katholischen habsburgischen Kaiser bestätigen würde. Auch deshalb zog sich Franz II. lieber auf sein Stammland Österreich zurück.

Mit der Gründung des Rheinbundes in der ersten Jahreshälfte 1806, faktisch dem Austritt einer klaren Mehrheit von deutschen Staaten aus dem Reich, wurde ein weiterer Schritt von Napoleons Gnaden unwiderruflich vollzogen. So erlöste der römisch-deutsche Kaiser seinerseits den lebenden Leichnam heilig-römisch-deutscher Herrlichkeit und überließ ihn seinem Schicksal, zumeist in der Faktizität französischer Besatzung.

Das Römertum ging habituell auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun im Jahre 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 und 1806, sozusagen die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach mehr als neunhundert Jahren, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können.

Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging der Kaisertitel an ein kleindeutsches Reich über, absichtlich völlig losgelöst von den Habsburgern in Wien, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss: Die k.u.k. gutkatholische Doppeldonaumonarchie streckte ebenso die Waffen wie die preußisch-protestantische Hohenzollernherrschaft.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815 sah man überall in Europa nur noch auf die jeweils eigene nationale Prägung. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls selbstherrlich, spielte nun keine große Rolle mehr. Jegliches Denken im Sinne von karolingischen und ottonischen Großzügigkeiten wurde durch die maßgeblich Mächtigen des 19. Jahrhunderts eher verdrängt denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

Es musste der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Im Blick auf die ganze Welt geschah dies ab einem weitaus schrecklicheren 6. August: dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit den „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, war folgerichtig und ist nach wie vor begrüßenswert.

Die antike und christliche Grundlage Europas ist heutzutage fast völlig in Vergessenheit geraten, mit ihm zugleich ihre Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre sie neu zu erkennen: Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), blieb im historischen Gedächtnis als zeitweiliger Erzieher von Otto III. gegenwärtig. Freilich war der bei Grundsteinlegung des Gotteshauses schon acht Jahre tot.

Gewiss: Die damaligen Umstände mitsamt der neu-alten „Rom-Idee“ des Enkels von Otto dem Großen sind mit den derzeitigen überhaupt gar nicht vergleichbar. Aber dieses Bauwerk, im schwärmerischen Nachgang christlichrömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums errichtet, hat immerhin alle Höhen und Tiefen der gemeinsamen europäischen Geschichte überstanden, ohne auch nur eine der vielen Zeitenwenden auszulassen.

Hieronymus Wolf

Wenn Martin Luther eine Reise antreten wollte, musste er sich zunächst eines lästigen Brauchtums erwehren: Philipp Melanchthon pflegte seinem Freund nämlich in bester Absicht stets gern ein Horoskop zu erstellen, berechnete sorgsam die Konstellationen der Himmelskörper, um daraus dann einen günstigen Abreisetermin festzusetzen und überhaupt Verlauf wie Ziel der Unternehmung unter einem guten Stern zu wissen. Dem Reformator aber waren solche Künste derart zuwider, dass er sich nicht scheute, des Magisters Bemühungen, bei aller Liebe, heftig zu beschmunzeln.

Humanistische Spökenkiekerei versus biblisches Vertrauen: Für Luther war es vernünftiger, mal im Notfall und ganz spontan mit dem Tintenfass den Widersacher zu beschmeißen, als ausziseliert und methodisch zähflüssig-lebenslänglich sich an eine Wissenschaftlichkeit zu binden, die ja doch nur Stückwerk sein konnte … Wenn Gott will, dann wird es gut. Und wenn nach eigenen Begriffen etwas scheitert, dann mag auch dies für etwas „gut“ sein. Luther verstand seine Humanisten wahrscheinlich besser, als die sich selbst verstanden hatten. Er lebte drauflos, wo ängstliche Gemüter lieber langatmige Sitzungen anberaumten, durchführten und am Ende ebenso nichtsnutzig wie „ergebnisoffen“ auseinanderfließen sahen.

Aber – aufgepasst: Das Luthersche wurde eben längst nicht immer das Lutherische! Die impulsive Persönlichkeit Luthers hat (und in anderen Fällen können wir sagen: glücklicherweise) nicht unmittelbar auf die Kultur der lutherischen Kirche und ihre Traditionsbildung durchgeschlagen. Da war im Zweifel der liebe Magister Philippus vor. Es steht zu hoffen, dass im laufenden 500-Jahres-Jubiläum der Wittenberger Reformation auch einmal diese Dinge zur Sprache kommen … Nicht alles, was unter dem kirchlich „Lutherischen“ firmiert, ist auf Luthersches zurückzuführen, und andersherum gilt: Luther ist der seinen Namen tragenden Kirchenformation immer wieder im Laufe der Geschichte Stein des Anstoßes sowie der anregenden Aufregung geworden. Stromlinienförmig geht – gottlob – anders.

Eine sklavische Gefolgschaft im Sinne eines sozusagen „lutheristischen“ Personenkultes hat es also nie gegeben. Der Begriff „lutherisch“ leitet sich eher von den „Lutheranern“ her und müsste eigentlich „lutheranisch“ heißen, nämlich in Hinsicht auf die theologisch durchgebildeten Anhänger der Wittenberger Kirchenerneuerung. Die vom zwischenzeitlich wartburgerfahrenen Junker Jörg selbst abgelehnte Bezeichnung impliziert gerade nicht individuell Biographisches wie Lutherbier, federkielschwingende Playmobilfigur oder gar Anhängsel vom „Herrn Käthe“ – von Düsseldorfer Luderlümmeltüten ganz zu schweigen. Ob sich und uns die leitenden Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Gefallen getan haben, als sie seinerzeit eine „Lutherdekade“ ausriefen statt ein Jahrzehnt zur Wittenberger Reformation, sei deshalb dahingestellt.

Der Aberglaube eines Melanchthon machte nun aber unabhängig von solchen semantischen Erwägungen buchstäblich Schule oder fiel zumindest bei manchen Studenten auf bereits zuvor familiär verdunkelt bereiteten Boden: Einer der Vorlesungshörer des hochberühmten Gräzisten an der neugegründeten Universität zu Wittenberg war nämlich in den 1530er Jahren ein gewisser Hieronymus Wolf. Wer den Namen hier das erste Mal liest, den sollte kein intellektuelles Mangelempfinden beschleichen: Man muss diesen Herrn nicht kennen; er geht gänzlich in seinem wissenschaftlichen Werk auf. Aber indem er einen kulturgeschichtlichen Begriff erfand, hat er unser speziell abendländisches Bewusstsein vielleicht mehr geprägt, als uns landläufig bewusst ist.

Stubengelehrter entdeckt eine versunkene neue Welt

Vor über fünfhundert Jahren, am 13. August 1516, wurde er in Oettingen am Ries geboren und wuchs in Nürnberg und Nördlingen auf, unter seelisch belastenden Umständen. Seine Mutter verfiel dem Wahnsinn, da war der Sohn noch ein Kleinkind. Der Vater starb infolge eines Unfalls, was den Zwanzigjährigen bewog, pflichtbewusst die Vormundschaft für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Aber immer wieder versuchte er sich auch, schon im Kindesalter auffällig geworden durch außergewöhnliches Interesse an Geschichte, Philologie und Philosophie – dementsprechend gefördert von wohlmeinenden Lehrern – , als Weltbürger: in Paris, Basel und vor allem dann viele Jahre im fuggerischen Augsburg. Im Oktober 1580 ist er in der Reichstagsstadt gestorben, ledig und ohne leibliche Nachkommen.

Keinem der Ausflüge in die große weite Welt war längere Dauer beschieden: Misstrauen und Aberglaube ließen ihn aus allen Orten schnell wieder entweichen; unstet und flüchtig brachte er seine Tage zu, weil er überall Mordanschläge witterte in Form von vergiftetem Essen oder sonstigen tödlichen Verhexungen. Depressionen wechselten ab mit enorm zuversichtlichen Schaffensphasen; dem eben noch niedergeschlagenen Gemüt folgten hochgestimmte Entdeckerfreuden, vor allem in seinem höchstpersönlichen Bereich, dem von ihm überhaupt erst als solchen benannten Kosmos der byzantinischen Geschichte und Kultur.

Wie so viele Experten auf ihrem Gebiet, so hat auch Hieronymus Wolf niemals einen Ort aufsuchen können, der mit seinem Forschungsgegenstand nur annähernd in Verbindung gestanden hätte. Aber das war im humanistischen Selbstverständnis der Zeit auch gar nicht nötig: Von Bildungsreisen wie später im siebzehnten, achtzehnten oder gar neunzehnten Jahrhundert konnte der Normalbürger im Cinquecento nördlich der Alpen nur träumen. Bestenfalls kannte man jemanden, der gereist war und von seinen Erlebnissen erzählte. Vielleicht ließen sich interessierende schriftliche Überlieferungen aufspüren, ausleihen und lesen, gar käuflich erwerben und übersetzen. Wolf war ein ausgesprochener Bücherwurm, und seitdem er beim kunstsinnigen Jakob Fugger als Bibliothekar fungierte, standen ihm entsprechende pekuniäre Mittel zur Verfügung, Literatur anzuschaffen.

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Nun waren Studienreisen gen Anatolien damals sowieso äußerst selten. Noch keine hundert Jahre waren verflossen, dass Konstantinopel am 29. Mai 1453 von den Osmanen erobert worden war. Wahn und Wirklichkeit, Aberglaube und Orthodoxie stritten im Abendland seitdem heftig widereinander, wenn es um die kritische Bewertung und geistesgeschichtliche Einordnung dieses epochalen Ereignisses ging. Hieronymus Wolf hatte indes Bekanntschaft geschlossen mit einem Lebemann, der tatsächlich ins türkische Reich gereist und von dort mit geistlichen Schriften orthodoxer Mönche zurückgekehrt war. Fortan beschäftigte sich Wolf mit deren ihm ungewohnten Kirchen-Küchen-Griechisch, das er als Zeugnis einer eigenständigen „byzantinischen“ Kultur ansah und dementsprechend bezeichnete.

Ein Reich? Zwei Kaiser? Drei Kirchen?

Im Wolfschen Kunstwort „Byzanz“ und seinem Adjektiv steckt für jeden historisch informierten Fürsprecher des christlichen Reiches mit seiner Hauptstadt am Bosporus die befremdliche These, es habe ein „oströmisches“ Reich gegeben im Gegensatz zum im Jahre 476 untergegangenen „weströmischen“. Ein kaisertreuer Bürger hätte stets gesagt, dass seit der Umgestaltung des kleinen Hafenortes Byzantium in die prächtige Stadt Nea Roma (Neu-Rom) durch Kaiser Konstantin (bis zum Jahr 330) ebendort die alleinige Hauptstadt des Orbis Romanus zu suchen und zu finden gewesen sei. Noch nicht einmal kann aus dieser Sicht gesagt werden, dafür sei das bisherige Rom am Tiber durch die sogenannte „Konstantinsche Schenkung“ Besitz des dortigen Bischofs geworden (der sich später als „Papst“ und gar „Stellvertreter Christi auf Erden“ verstand) …; denn ALLES war ja im Neuen Rom beheimatet!

Von der Konstantin-Stadt: Constantinopolis = Konstantinopel: regierte der eine Kaiser weiterhin das eine Römische Imperium, wenngleich die Amtsstubensprache im neunten Jahrhundert vom Lateinischen ins Griechische wechselte und die mentalen Unterschiede zwischen dem lateinischsprachigen Westen und dem griechischsprachigen Osten schon immer groß waren … Doch selbst nach dem Schisma des Jahres 1054, als die kirchlichen Gegner ihre jeweiligen Verfluchungserklärungen auf dem Altar der Hagia Sophia niederlegten, galt doch in weltlicher Hinsicht der Anspruch der einzig verbliebenen Cäsaren auch über die Gebiete im durch die Völkerwanderung verlorenen Westen.

Das Bewusstsein der Reichsbürger war also ein ungebrochen römisches, nicht ein zweit- oder oströmisches. Man hielt sich als echter Römer, gräzisiert zu Rhomäer, zur Metropole und ging „in DIE Stadt“, eis teen polin, aus welcher Redewendung dann später der Name Istanbul wurde. Die griechische Umgangssprache bot die Folie für den heutigen türkischen Namen der neuen urbs, jenes Zentrums, das gleich seinem Vorbild in Latium auf sieben Hügeln und beileibe nicht an einem Tag erbaut wurde. Hony soit, qui mal y pense.

Kompliziert wurde alles erst, als sich am Weihnachtstag des Jahres 800 ein fränkischer König in Rom am Tiber durch den dortigen Bischof zum Imperator krönen ließ. Die seither sogenannte „Zweikaiserproblematik“ ist also aufs engste mit der Person Karls des Großen verbunden. Die Karolingische Renaissance, so segensreich sie für den Aufschwung der Bildung in Westeuropa war, wurde im Osten als Konkurrenzunternehmen angesehen. Erstes Mittel zur Neutralisierung: Konstantinopel schenkte Aachen ein Organum, womit die Orgel als Königin der Instrumente Einzug in die abendländische Kirche hielt.

In der Ottonischen Zeit, also um die erste christliche Jahrtausendwende, suchte man den Unterschied zu überspielen, indem Kaiser Otto II. eine Armenierin heiratete: Mit Kaiserin Theophanu kam das Griechentum nach Germanien, und der gemeinsame Sohn, später Kaiser Otto III., sollte die Verbindung ganz leiblich ins Werk setzen. Mit dessen frühem Tod aber fiel diese Idee der Vergessenheit anheim. Konstantinopel, die größte Stadt der Christenheit, befand sich aus der Sicht der fränkisch-ottonisch geprägten abendländischen und von dort ausgehend mittelalterlichen Gesellschaft am Rande der Zivilisation, während diese selbst sich berechtigterweise am Ort der Kirche zur Heiligen Weisheit durchaus im Zentrum sitzend empfand.

Doppeldeutigkeiten, wohin man blickt: Lange vor der Katastrophe des Jahres 1204, als venezianische Kreuzfahrer Konstantinopel eroberten und ausplünderten, kursierte der Begriff „die Franken“ als Schimpfwort, besonders unter den sich für rechtgläubig – orthodox – haltenden Theologen. Denn bereits im sechsten Jahrhundert hatten spanische Denker das Filioque in die gelehrte kirchliche Debatte geworfen, und die fränkischen Reichssynoden des beginnenden neunten Jahrhunderts machten sich diesen Zusatz im Nicaenoconstantinopolitanum zueigen. Dass der Heilige Geist vom Vater und dem Sohn gleichermaßen ausgehe, wurde im Neuen Rom nicht aus (theo)logischen, sondern aus traditionellen Gründen rundweg bestritten – man wollte sich strikt an den Wortlaut des Zweiten Ökumenischen Konzils aus dem Jahre 381 halten …

In diesem Sinne fanden dann Verzückungen am „Nabel der Welt“ statt: Kaiser Justinian konnte nicht an sich halten, als die von ihm erdachte Sophienkirche, prächtigstes und größtes christliches Gotteshaus für die weiteren über neunhundert Jahre, in seinem Beisein Anno Domini  537 eingeweiht wurde –  aber Kemal Mustafa Pascha konnte es im Jahre 1934 auch nicht lassen, pathetisch zu werden: Hier, wo sich einst zwei Konfessionen trennten, würden nunmehr zwei Religionen zusammengeführt; er meinte zum einen die zerstrittenen Kirchen von 1054 und zum anderen die Christen und Muslime seiner Zeit: Heraus kam bekanntlich ein – Museum: Im gedenkverliebten zwanzigsten Jahrhundert offensichtlich die einzige Option, historische Gegensätze friedlich zu überbrücken.

Innerhalb der Christenheit aber hatte sich mittlerweile eine dritte Kirchenfamilie herausgebildet. Zum 450. Geburtstag Martin Luthers wurden 1933 im gerade nationalsozialistisch machtergriffenen Deutschen Reich etliche diesbezügliche Feiern zelebriert, mehr dem neuen „Führer“ zu Ehren denn dem Jubilar… – während auch das Dritte Rom zur gleichen Zeit sich anschickte, den überlieferten sogenannten Byzantinismus in einen knallharten Personenkult umzufunktionieren. So, wie in San Vitale zu Ravenna das römische Kaiserpaar Justinian und Theodora streng in Form kunstvoller Mosaiken auf die versammelte Gottesdienstgemeinde blickt, ohne dass Charlemagne eine Chance gehabt hätte, auch sich selber musivisch in seiner nach ravennatischen Vorbildern errichteten Öcher Pfalzkapelle zu implementieren, – so falschverstanden und übergriffig wollte der entlaufene georgische Theologiestudent Stalin sich an die Stelle von Christus setzen. Diesen pervertierten Messianismus hat sich Hitler ebenso zueigen gemacht – vollkommen ungermanisch und natürlich auch überhaupt nicht griechisch.

Folgende Stichwörter bleiben hier und heute unbearbeitet, aber anregend weiterwirkend, vielleicht sogar für zukünftig zu Schreibendes: Ikonoklasmus; Nizäa und Bursa; Rom – Konstantinopel – Moskau; Griechen und Türken, Slawen und Araber, Europäer und Asiaten; Hannoversch Münden, Ravenna, Byzanz; Jesus-Moschee, Marien-Kirche, Nikolaus-Basilika; „Lebt im Kemalismus das religiös indifferente Volk der unarabisierten Altai-Türken weiter?“; Islamische Blütezeit – eine Adaption rhomäischer Kultur?

Erhofftes subversives Byzanz

Es gibt ein Dokument, das einen direkten Anbandelungsversuch der lutherischen zur orthodoxen Kirche belegt, und zwar das Augsburger Bekenntnis in griechischer Übersetzung. Kein Geringerer als Philipp Melanchthon hat diese Fassung hergestellt. Die deutsche und lateinische Version, die nebeneinander zum Reichstag 1530 vorlagen, genügten bekanntlich keineswegs, dem deutschen König und römischen Kaiser Karl V. nur irgendein wie auch immer geartetes Verständnis zu entlocken. Papistische Confutatio und wiederum allumfassend-kirchlich („katholisch“) gemeinte evangelische Apologie folgten im nicht endenwollenden Glaubenskonflikt in deutschen Landen.

Da spitzte der Gräzist aus Wittenberg seine feine Feder und schickte eine Confessio Augustana graeca an den Patriarchen von Konstantinopel. Er erhielt niemals eine Antwort. Wahrscheinlich war dem christlichen Bischof in Istanbul der gesamte Streitgegenstand theologisch völlig fremd. Und vor allem wird die Kirchenbehörde in der Hauptstadt des nunmehr muslimischen Kaisers wenig Interesse daran gehabt haben, die ohnehin schwierigen Beziehungen zum Sultan noch mit einem innerkirchlichen und nach außen hin vor Ort völlig unverständlich-unvermittelbaren Streit zu belasten.

Melanchthon mag sich ideelle Unterstützung durch jene Kirche erhofft haben, die den Römerbrief des Apostels Paulus in dessen Originalsprache gottesdienstlich zu verlesen imstande war. Rechtes Schriftverständnis aus biblischem Ursprung heraus hätte dann wundervolle Argumente gegen die Papstkirche liefern können. Und, wer weiß? – Hieronymus Wolf wäre womöglich von seinem bisweilen abergläubischen Professor mental hinübergewechselt zu einem geerdeten lutherischen Mann, ganz ohne Angst vor Spinnen und womöglich auch ohne Respekt vor devotem „Byzantinismus“. Doch DAS ist natürlich reine Spekulation.

Foto: Hagia Sophia in Konstantinopel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Otto und sein ausgefranztes Reich

Das Kirchenjahr, laut Jochen Klepper „das größte Kunstwerk der Menschen“, sah neulich den letzten Tag des Weihnachtsfestkreises. Mit der Darstellung des Herrn im Tempel, vierzig Tage nach seiner Geburt, ist es zunächst einmal gut mit Stern und Engel. Immer wieder erstaunt, wie klug die Altvorderen sich die biblischen Ereignisse einpassten in den Zyklus des Naturjahres. Was mit dem 11. November beendet war, begann mit dem 2. Februar von neuem: das Landwirtschaftsjahr. Knechte und Mägde wurden wiederangestellt. Aussaat im Hinblick auf gute Ernte nahm ihren frischen Lauf, begleitet von Hoffen und Beten. Gottes Menschwerdung, mit den Worten des greisen Simeon bekräftigt, gab allerorten seelische Stärkung und tapferen Mut. „Ich habe genung“ (sic!, also nicht etwa: „genuch“), diese ergreifende Bachkantate, ausgehend von den entsprechenden Worten aus dem Dritten Evangelium, verkündet in melancholisch gesättigter Musik Krippenkind und Kreuzesmann, „denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Sterben und Leben – in dieser Reihenfolge! – prägen dann den darauf folgenden Osterfestkreis. Der Tag von „Lichtmess“ enthält in eigentümlicher Vorausschau beide Dimensionen. Der Himmel ist zur Erde gekommen, taucht durch Mariae Reinigung ganz ins Irdisch-Kultische ein und überwindet dieses schließlich durch eine unerhörte neue frohe Botschaft. Wie sagt es der Fromme in Jerusalem? – „Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und zum Aufstehen für viele in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird“; und zur Mutter gewandt: „auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen – damit vieler Herzen Gedanken offenbar werden.“

Ein ganz besonderer 2. Februar war der des Jahres 962. Lebewohl, Abwesenheit und Wiedersehen gingen an diesem Tag in der Peterskirche zu Rom eine religiös-politische Verbindung ein, die insgesamt fast neun volle Jahrhunderte mehr oder weniger Bestand haben sollte. Der deutsche König Otto, nachmals „der Große“ genannt, wurde durch den Papst zum römischen Kaiser gekrönt und gesalbt. Seitdem gab es in Mitteleuropa wieder ein Imperium Romanum, gar bald mit dem Zusatz sacrum versehen, also ein „Heiliges Römisches Reich“, erstanden aus den idealisierten Resten der fränkisch-karolingischen Welt, diese wiederum fußend auf den verchristlichten Vorstellungen einer Pax Romana, die seit der heidnischen Antike die Geschichte und Kultur rund um das Mittelländische Meer formte. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus wurde als Verfasser seines viele Bücher umfassenden apologetischen Werkes De Civitate Dei zum Ahnherrn einer europäischen Idee, an deren Erfüllung sich ihre rhetorischen wie militärischen Befürworter in der Folge versuchten: allerdings in durchaus eklatantem Missverständnis der eigentlichen Intentionen des Bischofs von Hippo, welcher mitnichten einem – doch tatsächlich in hienieden verwehender Zeit organisierten – „Gottesstaat“ als vielmehr der Vergänglichkeit einer jeglichen irdischen politischen Ordnung das mahnende und schriftweise Wort – Prophet Daniel! – reden wollte.

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Die hochfliegenden Ideale der Karolinger und Ottonen wurden denn auch rasch von den mannigfaltigen Realitäten und Realien eingeholt. Gewiss, die Pfalzkapelle in Aachen oder die Michaeliskirche zu Hildesheim sind steingewordene Träume und zugleich phantasiegezeugte Bauwerke, wiewohl im stile antico und also nach einem streng abgezirkelten, von Vorbildern in Ravenna und Rom abgesicherten Plan erdacht und errichtet. Aber gerade dadurch, dass in beiden Fällen bewährte Traditionen passgenau erneuert wurden, konnten frühere Weisheiten an die Gegenwart weitergereicht werden. Man nahm die Zukunft in den Blick, indem die besten Errungenschaften versunkener Zeiten wiederentdeckt und bejaht wurden. So konnte Neuland bestellt werden. Im römisch-christlichen Anspruch fing man einerseits „leer an“ (Ernst Bloch), andererseits war allen Beteiligten klar, dass keineswegs das Rad neu erfunden werden müsse. Der Geist der Utopie war, mit einem gerade beliebten raunenden Wort gesagt: „geerdet“, das Prinzip Hoffnung verwirklichte sich indes vor Ort im Lehnswesen … Seitdem ging es hausmeierisch beziehungsweise feudal zu, also maiordominant oder foederaliter, auf Treu und Glauben. Schutz wurde vom Lehnsherrn gewährt, Trutz war die Pflicht des Lehnsnehmers. Alles vertraglich geregelt ohne unnötige Umschweife, keine zwanzigtausend Wörter wie in den heutigen „europäischen“ Einfuhrbestimmungen für Caramelbonbons oder so … Kölsche Kamelle kann einem leidtun. Womit wir bei Adenauer wären, wenn nicht gar bei Kardinal Frings und Oberbürgermeisterin Reker, also, groß gesprochen, beim Thema Christentum und Islam.

Bevor ich nun weiterstolpere, eine kurze Erinnerung: Den ersten Bundeskanzler unserer Republik kann man mögen oder nicht; aber sein Einsatz für ein einiges Europa – wenn dieses auch sehr rheinisch-katholisch gedacht war – ist und bleibt prägend. Da hat jemand nach einer „Stunde Null“ leer angefangen und ein karolingisch-ottonisches Ideal für die allzubald wirtschaftswunderlich zufriedene und ruhebedürftige westdeutsche Gesellschaft wiederbelebt. Knapp zwei Jahrzehnte später war es besagter Erzbischof – in der „schlechten Zeit“ Urheber des schönen deutschen Kohlenklaumutmachverbs fringsen -, der türkischen Gastarbeitern im nördlichen Querschiff des Kölner Doms das Gebet gen Mekka ermöglichte. Teile einer christlichen Kathedrale als improvisierte Moschee! Müssen wir, von solch interessantem Datum nun schon durch weitere fünf ins Land gegangene Jahrzehnte und also unüberschaubar viele Armlängen Abstand getrennt, da nicht hellhörig werden? Wäre das nicht ein Argument, mit dem wir die wahhabitischen Salafisten, die ja am liebsten den Dom plattmachen würden und die Domplatte seit der letzten Silvesternacht zu einem geistigen Kampfplatz hochstilisieren wollen, verdutzt machen könnten? Nun, wohl kaum. Muslime, die ihren Glauben kennen und ernstnehmen, haben mit solchen fusselbärtigen Lustmolchen („die Frauen sind selber schuld, wenn sie sich anzüglich kleiden“) ebensowenig zu schaffen wie gläubige Christenmenschen etwa mit dem Ku-Klux-Klan. Müssen wir Leute, die von neureichen Verbrechern in Saudiarabien unterstützt werden, welche wiederum petrodollartechnisch und geomachtpolitisch offiziell unsere Freunde sind – obwohl sie in der Monstergestalt des sogenannten „Islamischen Staates“ gerade für eine humanitäre und kulturgeschichtliche Katastrophe verantwortlich zeichnen –, sollen wir also auf Dauer diese neuen Unmenschen, Ölscheichs und Enthauptungsspezialisten zugleich, in unseren Reihen dulden? Hört da nicht wirklich die Liebe auf, die ein Josef Frings seinerzeit aus freien Stücken voller ehrlicher, hilfsbereiter, lebenskluger und religiös verständiger Barmherzigkeit übte?

Es hat sich leider ausgefringst – unsere heutige bundesdeutsche Gesellschaft ist geistig und vor allem geistlich völlig ausgefranst. Das ist kein Vorwurf im moralischen Sinn, sondern der zaghafte Versuch einer Zustandsbeschreibung. Die Souveränität eines Bischofs bestand ja einmal darin, umfassend in Glaubensdingen derart Bescheid zu wissen, dass staunenerregende Vorkommnisse möglich waren – ganz ohne Bedenkenträgerei und schön pragmatisch. Das machte Eindruck. Noch heute wird davon erzählt: Weil es genau das Richtige war am rechten Ort zur rechten Zeit –  aber eben nicht als der Weisheit allerletzter Schluss Geltung beanspruchen wollte! Genau dies korrespondiert dem augustinischen Gedanken vom Gottesstaat. Die ultimativen Forderungen hingegen nach so an und für sich vielleicht pädagogisch wertvollen Dingen wie Rechtschreibreform und Rauchverbot, Veggieday und Genderism, „Leichter Sprache“ und Sonnenkollektoren, Feinstaubregulierung und Frauenquote, „Frei“handelsabkommen und „systemrelevanten“ Bankenrettungen, Mindestlohn und Bargeldabschaffung … – solche gutmenschlichen Ansinnen verkennen in Hochpotenz, wie kläglich letztlich die auf allgemeine Sauberkeit bedachten gegenwärtigen Mächte zumindest scheindemokratisch noch um Zustimmung betteln, ohne jedoch ein entsprechendes d’accord von den Lebensklugen dieser Welt jemals zu bekommen. Wer also eine klinisch reine Welt will, kann ja in angloamerikanische oder skandinavische oder singapurische Paradiese auswandern, sollte dieselben aber durchaus nicht als Vorbild für Mitteleuropa empfehlen. Denn hierzulande wirken seit karlottonischen Zeiten jene produktiven Antagonismen, die sich in kein noch so politisch korrektes Wohlgefallen auflösen lassen.

Aus dem Gegenüber von Papst und Kaiser wurde im Hochmittelalter ein Kampf um die Investitur der Bischöfe. Dass es überhaupt deswegen zum Streit kam, liegt im System selbst begründet. Anders als in Byzanz gab es im mitteleuropäischen Bereich niemals eine völlige Kongruenz von geistlicher und weltlicher Herrschaft. Dieser Umstand ermöglichte beiden Seiten, die jeweils andere Partei abzulehnen oder gar potentiell zu vernichten. „Gelungen“ ist das nie. So kam es im Laufe der Jahrhunderte zu etlichen Metamorphosen. Das Papsttum richtete sich schließlich im sogenannten Kirchenstaat ein, das Kaisertum, als es sesshaft geworden war, dann habsburgisch in der Wiener Hofburg. Doch die eigentlichen Träger der Macht waren da längst schon die Souveräne der unzähligen Staaten im Reich.

Als ich zur Schule ging, gab man den Merksatz aus, gewissermaßen als bonmot, im Jahre 1789 habe es 1789 Territorien innerhalb seiner Grenzen gegeben, also eintausendsiebenhundertneunundachtzig. Diese deutsche Kleinstaaterei ist viel verspottet worden, und unter ökonomischen Gesichtspunkten war sie schon damals völlig kontraproduktiv. Ökumenisch indes hat sie ihre Spuren bis heute hinterlassen. Denn ohne diese politische Vielfalt, personell vertreten durch Kurfürsten, Bischöfe, Ritter, Grafen, Herzöge oder Bürgermeister, hätte etwa die Reformation kein – norddeutsch gesprochen: – Bein an Deck bekommen. Nur, weil sich einzelne Herrscher oder – in den Freien Reichsstädten – ganze Bürgerschaften für oder gegen sie einsetzten, indem sie nicht obrigkeitshörig oder – im anderen Fall: – ganz gehorsam auf kaiserliche Worte achteten, ging es mit der Kirchenerneuerung insgesamt voran. Alles geistig und kulturell Entscheidende und Wegweisende ist im alten Deutschland, wenn es denn gut lief, im Diskurs vieler verschiedener Stimmen zustandegekommen. Wenn allerdings die Dinge sich ungünstig entwickelten, dann steuerte alles in die schlimmsten Katastrophen hinein. Der Dreißigjährige Krieg ist zum Trauma schlechthin geworden. In dessen Folge führten endgültig nicht mehr abgetakelte Kaiser oder Päpste das zivilisierte Wort, sondern Philosophen und Professoren, Dichter und Musiker, bildende Künstler und – vor Ort – immer wieder nicht wenige vom Geist der Aufklärung erfüllte Pfarrer. Es ist doch wohl dieses geistige Reich, das, von verständigen Fürsten und selbstbewussten Senatoren gefördert, bis heute hin unsere einheimische Kultur prägt: ebenso kleinteilig organisiert wie weltbürgerlich versiert.

Otto eins, zwei und drei lebten einer Idee, die, durch etliche Aggregatzustände gewandert, auch vom ach so „guten Kaiser Franz“ nicht nennenswert getroffen werden konnte. Der letzte Regent des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, bedrängt vom „Ungeheuer“ aus Korsika, wankte und dankte – ab. Doch dieser so völlig unromantische Abgang, datiert auf den 6. August 1806, hat weder die Fabulierlust der Schriftsteller noch die Kompositionsgabe der Musiker noch die Gestaltungsmöglichkeiten der anderen Künstler gehemmt. Im Gegenteil. Das neunzehnte Jahrhundert hat sich in allen Bereichen der Kultur als ungemein schöpferisch erwiesen. Ottos Reich war zwar realiter ausgefranzt, wurde aber doch idealiter zu einem geistigen Fluchtpunkt – mit allen Heilungsoptionen, Risiken und Nebenwirkungen. Aus diesem Erbe leben wir bis heute, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, „zum Fall und zum Aufstehen“. Politisch korrekt ist das alles keineswegs – das „geheime Deutschland“ war es übrigens nie! Doch sollen wir wirklich, nur um des lieben Friedens willen, wie ihn die „Entscheider“ jetzt gerade (miss)verstehen, deswegen all das beschweigen? Es wäre vielmehr höchste Zeit, das eigene Weltbild an einem wenn auch untergegangenen, jedoch nach wie vor historisch-lebensgeschichtlich bedeutsamen Gemeinwesen zu schulen. Wer Klepperlieder singt („Die Nacht ist vorgedrungen“) oder Bachkantaten schätzt, sagt schwerlich à Dieu, indem er etwa alle herzergreifenden Traditionen auf dem Altar der Rentabilität opferte, sondern er wird sich die eigenen christlich-antiken Wurzeln, wie sie sich im guten alten Kirchenjahr sonn- und feiertags sinnlich manifestieren, alles andere als ausreißen lassen.

Foto: Michaeliskirche zu Hildesheim, ottonische Doppelchorbasilika aus dem Anfang des zweiten Jahrtausends.