Die Ehre Nietzsches aus der Natur

Jüngst konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (*15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen / + 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute wiederum jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing  des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie „Herrenmoral“ und „Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit („… vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen („Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch jedem politisch selbstverorteten dezidiert Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als – sagen wir: – Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren: – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass hatte ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus all dem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen … Allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (*1813 in Leipzig / +1883 in Venedig), der ihm da auf die Schliche kam.  Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein „Fall Wagner“ ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat der zutiefst gekränkte Nietzsche sich intellektuell nie wieder richtig erholt. – Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Die Ehre Nietzsches aus der Natur

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der Schüler in Schulpforta (Naumburg a.S.) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen. Aber unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. „Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitschuf, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon: Dann war er demnach gar nicht so deutschtümelnd-herrisch, wie man sonst hörte! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik machte wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie war! Besonders begeisterte mich die schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bediente: Das steigerte den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Konnte es nicht sein, dass sich hier ein fröhlich enthemmter Freigeist Bahn brach, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere? „Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch „Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser „Anklage“ ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen „Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche trotz aller Widersprüche dankbar anerkennt.

Die Entdeckung der Heiterkeit als ursprünglich und unmittelbar kulturell notwendig ließ mich in jungen Jahren nicht ruhen. Und so schrieb ich eines Tages folgende Verse, von den weisen Worten Zarathustras inspiriert, aber dann doch wieder verunsichert durch Nietzsches Eigensinn. Hier und heute lege ich offen, was ich seit dem Jahre 1992 der geneigten Öffentlichkeit verschwiegen habe, egal, ob es sie jemals interessiert hat. Die sächsische Bischofskrise verhilft also zu staunenswerten Schritten unfreiwilliger Selbstanzeige. Wie in meinem letzten Beitrag angekündigt, gehe ich dabei indes äußerst scheibchenweise vor. Ich bilde mir ein, dafür Zeit zu haben, zumal ich bisher kein Amt anstrebe, das ein kleinkariertes Durchwühlen meiner gesamten bisherigen Vita zur Voraussetzung von dessen Annahme hätte. Aber man weiß ja nie. Das gegenwärtige Kesseltreiben im aktuellen Dresdner Aufstand gestaltet sich erbärmlich, da ist vielleicht eine Erinnerung an das Bonn-Berlin-Gesetz und überhaupt die Imaginierung der damaligen Situation der Zeit nicht völlig abwegig. In diesem augenzwinkernden Sinne: Viel Spaß!

 

Der Nietzsche saß auf einem Baum,

Derhalben lustig anzuschaun,

Was ihn jedoch nur mehr verdross:

Gar giftig wirkte sein Geschoss:

„Du seist gebannt, gebrannt, gebongt,

Willst tiefe, tiefe Ewigkongt,

Es bongt, es bonnt, berlint sodann:

Dies sei der auferlegte Bann!“

Und Spinnen krochen auch empor,

Verliehn ihm einen Trauerflor,

Ich meinesteils war ganz von Socken,

Wie ich ihn fluchend sah dort hocken,

Gleich einer Eule, die nachts ruft

Aus dunkler tiefer Ewiggruft.

Mein Lieber, sind wir nicht verwandt?

Warum hast du mich so gebannt?

Und noch dazu gebrannt, gelocht,

Zerhackt, wie wenn ich dich nicht mocht’?

Ich hab gelacht, weil du saß’st lustig,

Schon ging das Lachen mir verlustig ….

So schnell kann’s gehn mit Heiterkeit,

Die doch nichts will als – Ewigkeit!

 

Zur Abrundung der Stimmung zeigt das Foto den Friedhof einer nordwestdeutschen Kreisstadt.

Dickichtbeseitigung

Das Rücktrittsangebot des sächsischen Landesbischofs hat mich zum Einlenken gebracht. Also: Sollte ich mich selbst einmal um ein episkopales Amt bewerben, dann rate ich Ihnen zu äußerster Vorsicht. Um von vornherein mit offenen Karten zu spielen: Vor bald dreißig Jahren verbrach ich Verse, für die ich heute nur noch Schreibscham empfinde, ganz ehrlich. Wie konnte ich nur! Zum Glück aber fand ich damals keine Zeitschrift, deren Redaktion an den (von heute aus gesehen) entsetzlichen Zeilen hätte Gefallen gefunden. Oh ja, so politikverdrossen und kritikkritisch war ich mal! Nur meiner eigenen grenzenlos vorsorglichen Offenheit von nachgerade kosmischen (nicht: komischen; das verbitte ich mir ausdrücklich) Ausmaßen verdanken Sie mithin dieses Eingeständnis des Allerschlimmsten, sogar auf die Gefahr hin, ab jetzt als nicht mehr ganz dicht zu gelten.

Doch in Sachen „Transparenz“ lasse ich mich eben von niemandem übertreffen. Gewiss, meine Texte von vor knapp drei Jahrzehnten hatte ich lange Zeit total verdrängt. Aber nun muss ich erkennen: Es gibt keine Änderungen im Laufe eines Lebens. Es darf sie gar nicht geben; denn dann wären Denunzianten aller Couleur arbeitslos und unbedeutend. Will jemand etwa das Selbstwertgefühl solcher Kreaturen zerstören? Was für eine rhetorische Frage! Und wenn jemand nun scharfsinnig den Plural „meine Texte“ moniert: Ja, es gibt noch viele weitere richtig furchtbare Ergüsse aus eigener Produktion. Scheibchenweise streue ich sie in diesem meinem Blog zu jeweils angemessener Zeit ein. Die Erregung soll sich ja noch steigern. Da denke ich mal so egoistisch wie sonst nur noch die ach so böse Journaille. Soll nur niemand sagen können, ich hätte leichtfertig das Heft aus der Hand gegeben.

Damit das klar ist: Es kann und darf überhaupt keine Gnade geben; und in der neuerdings liebend gern auf tagespolitisch schleppende Erfolge erpichten evangelischen Kirche schon gar nicht. Denn die „Vergebung der Sünden“, die gläubige Christenmenschen in jedem anständigen Sonntagsgottesdienst bekennen, ist doch eigentlich, bei Lichte betrachtet, bloß der hinterlistige Versuch, das existenzielle Dickicht mitsamt seinen unauslöschlichen einzelnen Verstrickungen letztlich doch, trotz aller Predigt von Umkehr,  irgendwie auf sich beruhen und also: für immer andauern zu lassen. Für echte Meinungsmacher und Entscheider, auch Meinungsmacherinnen und Entscheiderinnen ist aber jegliches Ansinnen, das den einmal aufgespießten Sünder rechtfertigen könnte, absolut unmöglich und im übrigen höchst verdächtig. Sie wehren somit löblicherweise im völlig seelsorgevergessenen Kirchengeschäft „den Anfängen“. Die Frage, welchen eigentlich, behält man lieber für sich. Ist das große Ganze von Bibel und Bekenntnis, nunmehr verflüssigt-verflüchtigt zum elenden deutsch-weltrettenden Engagement im hehr abgezielten „Kampf“ gegen „Rassismus“, „Nationalismus“, „Faschismus“ und all die anderen Ismen … ist dies alles nicht schon Argument genug?

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Der inkriminierte Bischof, dessen Rufname auf die niederdeutsche Version von „Christian“ lautet, hätte nach gängigem Urteil von lauter lauten Leuten damals, vor vier Jahren, anlässlich der synodalen Wahlhandlung seine gesamte Vita auf dem Tablett aufstapeln und als Opfergabe darbringen müssen. Weil er das nicht getan hat,  und da auch sonst diverse Unzufriedenheiten rumorten, haut man ihm jetzt alte eigene Texte um die Ohren, die ihn vorgeblich nach wie vor als „Rechtskonservativen“ ausweisen. Ja, man nötigt ihn zur Distanzierung von Vertrauten, will ihn gar zum Abbruch von langjährigen Freundschaften zwingen. Super übergriffig, weiter so, Ihr linken Linken! Und weil indes die Begrifflichkeiten in solch grüner Kirche derartig austauschbar geworden sind; im übrigen auch nicht mehr gewusst wird, dass die Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung mit der Durchsetzung der Gedanken unseres Grundgesetzes in der Tradition von Schwarz-Rot-Gold verbunden ist (und entsprechend all dies im Dritten Reich verboten war) … – deswegen finde ich mein schlichtes Gedicht aus dem Anfang der Neunziger erstmals in meinem kleinen Leben durchaus lesenswert. Hier ist es:

Die linke Theologenschar                                                                                                    

Nimmt Stellung, und dies Jahr um Jahr,

Zu allen Götzen, die sich finden:

Vom Wetter bis zum Schuhebinden

Ist ihr der Kosmos hochpolitisch;

Darum ist sie denn auch so kritisch.

Abfassungsort war seinerzeit Berlin. Wie gesagt, vor bald dreißig Jahren. Nur eine einzige Anpassung an die Welt von Heute würde ich nun, nach so langer Zeit, anbringen: Statt „Wetter“ lies „Klima“. Dann kapieren es eventuell auch diejenigen, deren füßliche Treter ansonsten auch ohne Schnürsenkel tragbar sind. Im übrigen gebe ich den Rat eines meiner damaligen Professoren erinnernd weiter: Der pflegte nämlich zu sagen im Blick auf uns junge potentielle hochwissenschaftliche und ja mitnichten altkluge Aufsatzverfasser: „Veröffentlichen Sie früh! Dann haben Sie später was zu lachen.“ Damit erweist sich mein gebundener Text, von verschiedenen Seiten aus betrachtet, als umwerfend zeitgemäß, und ich bin gespannt auf alle freundlichen bis giftigen Zuschriften, die da kommen mögen. Herz und Humor haben ihre Zeit ja gehabt. Die muss niemand fürderhin auf dem Zettel haben. Wir sind nun glücklich in geschichtsvergessenen Zuständen gelandet, gestrandet, versunken, ertrunken.  Je gnadenloser, desto entlarvender. Also nur zu! Oder, wie man von Spandau über Neukölln bis nach Pankow mauerübergreifend so treffend sagt: Immer feste druff!

 

Foto: Dickicht in natura. Schützenswerter Urwald, allerdings wenig transparent. Würde man den Schleier des Geheimnisses lüften, dann fände man sich wieder im Blick auf den Garten eines Hotels inmitten der Hauptstadt des eigentlich waldärmsten Bundeslandes unserer Republik: in Schleswig-Holstein. Aber das nur am Rande.

 

 

Nikolaus

Bevor, so wird kolportiert, Luther den Nikolaus arbeitslos machte, wurden am Gedenktag des kleinasiatischen Bischofs die Kinder reich beschenkt. Nun ja. Richtig ist, dass der Wittenberger Reformator das Augenmerk für den himmlischen Vater und Geber aller guten Gaben zurück auf den kirchenkalendarischen Ursprung, also auf das Christfest gelenkt hat – weil Gott selbst sich im Überschwang liebevoller Menschlichkeit in diese unvollkommene Welt hineinverschenkt. Also wurde dann Weihnachten zum Hauptanlass für Geschenke an die Lieben. Falsch wäre es aber, aus diesem Vorgang wieder mal ein Luther-Bashing konstruieren zu wollen; auch hat der Kirchenmann aus dem vierten Jahrhundert deshalb nichts an Beliebtheit eingebüßt. Vielmehr ist er – die Pflege mannigfaltigen Brauchtums um den 6. Dezember herum zeigt es – ein sympathisches Beispiel für tätiges Christentum geblieben.

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Wer war Nikolaus? Die zahlreichen Legenden, die sich um ihn ranken, sind von den wenigen historisch gesicherten Erkenntnissen kaum zu trennen. Geboren wurde er etwa Anno Domini 280 in Patera im südlichen Kleinasien. Von Kindheit und Jugend auf hielt er sich zum christlichen Glauben, obwohl das damals, zur Zeit der Christenverfolgungen im Römischen Reich, lebensgefährlich war. Kerkerhaft und Misshandlungen hat Nikolaus mehrfach am eigenen Leib erdulden müssen.

Als seine Eltern gestorben waren, fiel ihm ein reiches Erbteil zu. Er behielt es nicht allein für sich, sondern setzte es für in Not geratene Mitmenschen ein. Still und heimlich ging er dabei vor, weil er nicht eigenen Ruhm suchte, sondern Gottes Ehre verbreiten wollte. So half er im Verborgenen einem verzweifelten Vater dreier Töchter, indem er Goldstücke unerkannt in dessen Haus warf: So wurden nach und nach alle drei Mädchen vor offener Unehre bewahrt, weil sie nun genug Mitgift hatten und heiraten konnten. Als deren Vater beim dritten Mal den Spender der Aussteuer dennoch zu Gesicht bekam, verwahrte sich Nikolaus vor dessen kniefälligem Gebaren und gebot außerdem, nichts davon weiterzuerzählen: „Nicht mir sollst du danken, sondern Gott allein lobsingen.“

Durch solche und andere Wohltaten eroberte sich Nikolaus die Herzen vieler Menschen. Sein Name bedeutet, übertragen aus dem Griechischen, denn auch: „Sieg des Volkes“. So wählte man ihn in der Hafenstadt Myra zum Nachfolger des verstorbenen Bischofs. In aller Bescheidenheit und Demut nahm Nikolaus die Wahl an und blieb seine gesamte Lebenszeit ein volksnaher sowie glaubenserfüllter Seelsorger und Oberhirte. Je nachdem, wie es die Situation erforderte, verhielt er sich diplomatisch geschickt – oder ganz handfest und ohne aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen.

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Während einer Hungersnot trafen Schiffe aus dem ägyptischen Alexandria zu einem Zwischenhalt im Hafen ein, beladen mit Getreide für den kaiserlichen Hof. Nikolaus verhandelte so lange mit den Seeleuten, bis die sich bereitfanden, einen Teil der Ladung an die notleidende Bevölkerung abzugeben. Aufs ganze gesehen gab es nur Gewinner: Der Hunger war beseitigt, und als die Schiffe später in Konstantinopel anlandeten, stellte sich heraus, dass von der ursprünglich abgemessenen Getreidemenge wunderbarerweise nichts abhandengekommen war! Wer mit anderen teilt, hat am Schluss – Gott sei Dank – überhaupt keinen Nachteil.

Bischof Nikolaus nahm auch am Ersten Ökumenischen Konzil teil, das Anno Domini 325 in Nizäa tagte. Dort erwies er sich als energischer Vertreter für die Wahrheit des Evangeliums. Einen der Abgesandten, die nicht für die wesenhafte Göttlichkeit Jesu Christi eintraten, soll er in einer stürmisch verlaufenden Sitzung sogar geohrfeigt haben. Wenn es um die Ehre des Gekreuzigten und Auferstandenen ging, dann war Nikolaus bis hin zum vollen Körpereinsatz zuverlässig da. Niemand kann ihm nachsagen, er habe nicht gekämpft.

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Um das Jahr 350 ist der Bischof von Myra dann gestorben, mitten im Gebet des einunddreißigsten Psalms: „In deine Hände befehle ich meinen Geist; / du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott.“ – Das Glaubenszeugnis des Nikolaus in Gedanken, Worten und Werken hat weitergewirkt: Als Beschützer der Kinder, als Nothelfer der Schiffer und Seeleute im ungestümen Meer, auch als Patron der Bäcker, Kaufleute und sogar Bankangestellten ist er bis zum heutigen Tag unvergessen. Der Teller oder Schuh, der sich für die Kinder über Nacht mit freundlichen Gaben füllt; der Schatz an Gütern, Geld und Gold, der beim Teilen nicht abnimmt, sondern auf geheimnisvolle Weise win-win wächst: Solche gnadenreiche Vorgänge verbinden glaubensstarkes menschliches Handeln ganz direkt mit dessen Quellgrund, dem gnädigen Geber aller guten Gaben.

Nikolaus hat nie auf Gegenleistung spekuliert. Darin ist sein Wirken, rein äußerlich gesehen, hoffnungslos weltfremd. Aber es ist eben alles andere als lebensfern! Im Gegenteil – die umsonst verschenkten Goldstücke helfen zu würdigem Leben auf; das klug abgetrotzte Getreide verschafft unmittelbar Abhilfe und verhindert Volksaufstände; nur denjenigen allerdings, der die Kraft dieses sich in solchem Tun meldenden langen Atems nicht erkennen will und ungeduldig bloß oberflächlich allzumenschlich von Jesus daherredet, obwohl er es besser wissen müsste: den ereilt die schallende Ohrfeige.

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Advent bedeutet: Ankunft – in allen drei Zeitstufen. Also auch zukünftig: Der Herr kommt zum Gericht. Nikolaus von Myra hat sich darauf gefreut: geduldig, leidend, standhaft, liebevoll, furchtlos. Darin verbündet sich sein Glaubenszeugnis mit den Kindern, deren leuchtende Augen weltfremd, ja unrealistisch anmuten könnten, doch in Wirklichkeit voll von wahrhaftigem Leben und göttlichem Wissen sind. Jedenfalls musste er nicht erst sein Bischofsamt verlassen, um „dann“ oder „endlich wieder“ als Pastor sozusagen „an der Basis“ Dienst zu tun: Er hatte stets das Ganze im Blick, diakonisch, presbyterisch und episkopal in einem.

Trotz aller Not und Verunsicherung ist Nikolaus immer eine kirchengeschichtlich relevante Gestalt des unverfälschten Evangeliums geblieben, also ein Mann der „Frohen Botschaft“. Wir wollen ihn deshalb nicht gleich zu einem fröhlichen Lutheraner machen; aber noch weniger sollte man ihn als Landsmann der „Türken“ vereinnahmen – die kamen erst einige Jahrhunderte später nach Kleinasien – , ebensowenig wie unser Herr und Heiland ein „Palästinenser“ gewesen ist – also mitnichten ein unjüdischer „Philister“ – … Andersherum kann ein Schuh (!) draus werden: Aus der durch Nikolaus vermittelten Freude an der Botschaft von Jesus dem Christus könnten ja unserer gegenwärtigen Kirche neue Kräfte zuwachsen: Dann bekäme das so übergroß aufgezogene Reformationsjubiläum am Ende doch einen nachhaltig erfahrbaren Sinn. Oder?

Fotos: Details aus der Nikolauskirche in Myra.