Felix Mendelssohn zum Geburtstag

Eine Skizze

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde vor zweihundert und einem Dutzend Jahren am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren und wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Sein Großvater war der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Fanny und weiteren Geschwistern wurde der junge Felix nach der durch die napoleonische Besetzung erzwungenen Übersiedlung zu Verwandten nach Berlin dort ab 1811 sorgfältig erzogen. Die mozarthaften Wunderkinder erregten bald Aufsehen. 1816 ließen die Eltern sie evangelisch taufen. Reformatorisches Bekenntnis hat Mendelssohns tiefe Frömmigkeit zeit seines Lebens geprägt, bis zu seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren in Leipzig am 4. November 1847.

Abraham Mendelssohn hatte das nötige Kleingeld, seinen begabten Kindern viele Bildungs- und Konzertreisen durch halb Europa zu ermöglichen: in die Schweiz, nach Frankreich und Italien sowie nach England und Schottland. Felix Mendelssohn hat auch als Erwachsener auf den britischen Inseln seine größten künstlerischen Triumphe vor einer riesigen dankbaren Zuhörerschaft gefeiert. Die Reiseeindrücke flossen in Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ (darin unter vielen anderen Hits der weltberühmte „Hochzeitsmarsch“), die Hebriden-Ouvertüre oder die Schottische Sinfonie ein.

Die eigene musikaliensammelnde Verwandtschaft und der Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, machten Mendelssohn mit Bachs Matthäuspassion bekannt. Auch sonst ist allenthalben schon beim ganz jungen Komponisten eine intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel zu erkennen. Seine Wiederaufführung der „großen Passion“ des alten Thomaskantors im Jahre 1829 ist ein Meilenstein der musikalischen Wirkungsgeschichte. Mendelssohn hat damit, als gerade Zwanzigjähriger, etwas mehr als hundert Jahre, nachdem dieses Hauptwerk abendländischer Passionsmusik 1727 erstmals erklungen war, die öffentliche umfassende Bach-Renaissance eingeleitet; sie dauert an bis in unsere Tage.

Mendelssohn hat sich zeit seines kurzen glanzvollen Lebens stets für Kollegen seiner Zunft eingesetzt, indem er ihre Werke aufführte, nachempfand oder anderweitig bekanntmachte: Dazu zählten Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und auch Richard Wagner. Vergleichen wir etwa dessen Holländer-Ouvertüre mit der Einleitung zum Oratorium „Elias“, so merken wir, wie nahe sich der Leipziger Gewandhauskonzertdirektor und sein neidischer musikdramatischer Nachbar in Dresden manchmal waren.

Ganz bewusst komponierte Mendelssohn ein ausgesprochen musikhistorisches Moment in seine Werke ein. So klingt im Oratorium „Paulus“ Bachs Johannespassion nach. Der erste Satz seiner „Italienischen“ atmet Mozarts lichten Geist. Im „Lobgesang“, gezählt als zweite Symphonie, treten Chor und Vokalsolisten hinzu, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter.

Eigene unverwechselbare Zeichen hat Mendelssohn in der Klavier- und Orgelmusik gesetzt: Die „Lieder ohne Worte“ sind quasi seine Erfindung. Und die sechs Orgelsonaten markieren den Beginn einer romantischen Tradition, die vor allem im französischen Sprachraum bei César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne zu hoher Blüte gelangte.

Es gibt so gut wie keine musikalische Gattung, die von Mendelssohn unbeachtet blieb. Er ist einer der letzten Komponisten, die ganz universell dachten und schufen, in der Kirchenmusik wie im Opernfach, in Liedern wie in Solokonzerten, in Motetten, Kantaten, Oratorien, Chören (z.B. „O Täler weit, o Höhen“ oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“) Sinfonien, Schauspielmusiken, Streichquartetten und sonstigen kammermusikalischen Werken.

Die Fülle seines Schaffens erwuchs, ähnlich wie bei Mozart, aus einer gediegenen Allgemeinbildung, die vor allem einen entschiedenen Sinn für die jeweilige Form ausbildete. Was Kritiker meinten, als allzu „glatt“ bemängeln zu müssen, war tatsächlich immer neu hart erarbeitet. Mendelssohn strich, verwarf und korrigierte stets bis zur Drucklegung seiner Kompositionen – und oft noch darüber hinaus, sehr zum Leidwesen der Verleger.  Hierin ähnelte er seinem Kollegen Frédéric Chopin: Nie war er zufrieden.

Felix Mendelssohn, glücklich verheiratet mit der Tochter eines Hugenottenpredigers aus Frankfurt am Main und Vater vieler Kinder, galt zu Lebzeiten und noch viele Jahrzehnte danach als ein geniales Glückskind, das den öffentlichen Musikbetrieb im biedermeierlichen Deutschland schöpferisch und organisatorisch ungemein bereichert hatte. Kein Männerchor im wilhelminischen Zeitalter, der nicht seine Lieder sang; kein Bachverein, der nicht seine kirchenmusikalischen Werke aufführen wollte; kein Konzertpublikum, das nicht nach seinen Ouvertüren und Sinfonien verlangte.

Dass er kein Titan wie Beethoven, kein Grübler wie Brahms, kein Neutöner wie Liszt war – geschenkt. Verhängnisvoll sollte sich im Fortgang seiner Rezeptionsgeschichte allein der Umstand erweisen, dass er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Nazis kannten ja selbst dann keine Gnade, wenn die von ihnen Geächteten längst zum Christentum konvertiert waren – weil bei ihnen überhaupt gar kein Glaube zählte, sondern bloß dumpf das Blut. Das Mendelssohn-Fenster in der Leipziger Thomaskirche verarbeitet diese böse Fama sehr eindrücklich.

So wurde das beliebte e-Moll-Violinkonzert aus dem öffentlichen Musikbetrieb verdrängt, indem man Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert zu etablieren suchte: 1937 wurde dieses Stück, das im 19. Jahrhundert niemand aufführen wollte, erstmals dem Publikum dargeboten. Die Perfidie, noch post mortem Keile zu treiben zwischen Kollegen, die sich im wirklichen Leben geschätzt und unterstützt hatten, ist vielleicht nur ein kleiner Aspekt in dem sich damals schon manifestierenden Grauen der 1940er Jahre – aber eben einer unter unzähligen Schritten, die den aufrichtigen Geist einer zwar unpolitisch-vormärzlichen, aber in sich selbst zutiefst humanen Kultur niedergetrampelt und zertreten haben.

Mendelssohn hat es auch im Nachkriegsdeutschland schwer gehabt. Man traute dem stilistischen Alleskönner nicht recht über den Weg. Wer jedoch die feinsinnige Klangwelt mit durchaus aufbegehrenden Momenten etwa in der „Walpurgisnacht“ oder im c-Moll-„Sinfoniesatz“ zusammenhört, wird nicht umhinkönnen, in ihm einen europäischen Weltbürger zu entdecken, der die heutzutage so gern vollmundig betonte „Vielfalt“ nicht als propagandistisch aufgemotztes Neusprech übergriffig missbraucht, sondern leise und unausdrücklich, schlicht und einfach, gebildet und kunstreich: wirklich GELEBT hat.

Foto: Felix Mendelssohn: aus den „Sieben Charakterstücken“ Opus 7 (1827-1829)

Es-Dur con variazioni

Es ist die Tonspur.

Es flötet zauberhaft.

Es tönt freimaurerisch.

Es verbindet sich zäh mit c.

Es klingt heldenhaft.

Es vergoldet Ockerfarben.

Es lässt hoffmannesk zart movieren.

Es weiß sich beethoventlich.

Es lautet lamoleonisch an.

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Es wirkt napoleonisch.

Es verleiht warmen Glanz.

Es mag gern siegreich sein.

Es will hoch hinaus.

Es gründet sich die beste Tonart.

Es bläst dreimal erniedrigt.

Es brahmst endlich mollig.

Es bacht orgelnd trinitarisch.

Es tollt empereurisch großartig.

Es prägt die Eroica.

Es händelt adventlich im Gesangbuch.

Es lassen wir mal so stehen.

Inspirationen: Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte (1791). Paralleltonart c-Moll (gilt jedes Jahr). Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Sinfonie Es-Dur (1803). Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Es-Dur (1788). Ludwig van Beethoven: Prometheus-Variationen (1800) und Dritte Symphonie Es-Dur „Eroica“ (1804). Lambertikirche Oldenburg (1791-1800). Drei b als Vorzeichen. Johannes Brahms: Rhapsodie Es-Dur, endend in es-Moll (1892). Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge Es-Dur aus der Orgelmesse (1739). Ludwig van Beethoven: Fünftes Klavierkonzert Es-Dur „L‘ Empereur“ (1811). Georg Friedrich Händel: Triumphmarsch aus den Oratorien „Josua“ und „Judas Makkabäus“ in der Es-Dur-Fassung des Evangelischen Gesangbuchs (1747/1993).

 

 

Lamoleonische Vestib*letten

Entre nous: Entrez, s‘ il vous plaît! Wenn man nur wüsste, wohinein. Da ergeht freundliche Einladung, und ich nehme sie auch durchaus gerne an. Rankenornamental ist alles super im Vestibul. Oder eingedeutscht mit ü statt u, wie bei der C/Konfi- oder Ouvert*re? Manche Wörter übrigens gibt es in der behelligten Sprache gar nicht. Der Friseur/Frisör heißt im Französischen coiffeur, und wer in anglophonen Gegenden ein Handy so nennt und also neudeutsch „Händie“ ausspricht, sollte sich über unverständiges Kopfschütteln nicht wundern, selbst bei denen nicht, die unablässig mit ihrem mobile beschäftigt sind.

Am geschmiertesten läuft die eigene Sprache, wenn sie sich selber so setzt, als seien ihre Gepflogenheiten die natürlichsten der Welt und schon immer dagewesen, sozusagen seit unvordenklichen Zeiten. Angesichts von Blümchenmustern dürfte das keine allzugroße Anstrengung darstellen. Unüberwindliche Schwierigkeiten ergeben sich auf einer hochstrebend sowie blumig gedachten Treppe der Erkenntnis vielmehr aus dem Mangel an Orientierungsstufen (!):

Lamoleonische Vestibületten

Erstens nämlich hat die Räumlichkeit, in der ich mich nun befinde, nichts mit einer längst wieder abgeschafften Schulform zu tun, die seit den siebziger Jahren alle Fünft- und Sechsklässler zu durchlaufen hatten, um von dort und ab deren (Be-)Schluss dann entweder in die Hauptschule, in die Realschule oder ins Gymnasium weiterverschickt zu werden.

Zweitens versagen bei dem Gebäude, um das es hier geht, sehr viele sonst zuverlässige Regeln. Wer alles über Stile und Bestimmungen von Bauwerken aus alter und neuer Zeit auswendig gelernt haben sollte, wird hier keinen Blumentopf gewinnen. Eifrig eingeheimste Fleißpunkte helfen dem strebsamen Schüler mitnichten weiter, wenn er nicht höchstselbst sich aufmerksam umschaut.

Drittens sind Stufungen immer heikel. Wenn gerade kein Meisterfriseur zugegen ist, steigt die Gefahr des Pottschnitts. Neben Höher- gibt es leider auch Ein- und sogar Herabstufungen, wofür sich mittlerweile das alles umfassende Unwort „Wertschätzung“ etabliert hat: Ich lobe hoch, sortiere ein oder senke den Daumen. Einen Wert abzuschätzen kann eben unter Umständen auch bedeuten, höchst abschätzig zu werten = zu entwerten.

Viertens ist Orientierung oftmals eher Wunsch denn Wirklichkeit. Ex oriente lux – aus dem Osten kommt das Licht. Die Sonne geht im Morgenland auf, und an uns ergeht immer wieder die Frage, wie „geostet“ unsere abendländischen Sinne tatsächlich sind. Die bisher übliche „Westorientierung“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Genauer müsste man dieses Phänomen als „Okzidentierung“ bezeichnen.

Fünftens aber hat Lamoleon sich nie um solche Fragen groß gekümmert. Das Eigenverständnis läuft seltsame Wege, wohl von großen architektonischen Vorbildern und sonstigen Lilienmotiven angeregt, aber dann anschließend von nachkommenden Generationen unverstanden und sogar manchmal ums Spezifische betrogen. Davon wird in einem Folgetext noch ausführlich zu reden sein.

Sechstens geht es im Grunde nur um diese Fragen: Wer oder was mag denn „Lamoleon“ wohl sein? Wie „bio“ ist die blau-weiße Farbgebung? Es folgt vielleicht ein ganzer Fragenkomplex: Kann man das eingedeutschte „Vestibül“ zur Eskalationsstufenerhöhungsvermeidung eigentlich auch mit Ypsilon schreiben? Vestibyl … ? Oder wäre das zu opernhaft? Gibt es aber nicht auch Ufertüren in Wassermusiken? Uh, vertú recte! In virtute veritas! Virtuositas. Es geht also um Virtuosität? Um Händel und sein Handy, das er in Herrenhausen verloren hat?

Stop achtkantig! Die Türen des Hohen Ufers mögen schlundartig sperrangelweit offenstehen und hannöversch locken … Bisher war man in diesen hier vorgestellten und mittels Eckmotiv ins Bild gesetzten heiligen Hallen von solchen Aktionen herzlich unbeeindruckt. Brahms wäre aufblühend da im Hauptraum wirksam gewesen, wenn die Hiesigen die Gelegenheit nicht verschlafen hätten; stattdessen ging der Zuschlag für die Uraufführung seines Deutschen Requiems – nein, nicht an die Leine, sondern – an die Weser nach: Bremen …

Wir ahnen: Es gibt hier viel aufzuklären. Die Menschen haben ein Anrecht darauf. Obwohl ich überhaupt kein investigativer Journalist bin, weiß ich doch: Mit einer bloßen Entrée will heutzutage niemand abgespeist werden, so höflich die Veranstaltung auch vonstatten gehen mag. In Marmeladenbrötchen beißen und gleichzeitig Mobiltelefonempfang haben wollen – dies ist der unsägliche Widerspruch unseres derzeitigen Lebenswandels. Traditionelles Wohlleben und trendiges Whirlpoolhightec: Das wäre zusammengefasst also so etwas wie Frühstücksfernsprech – in Pirouetten und durch die Blume gesagt.

Verplapperte Wahrheiten

„Meine Bank hat Beine“ – schon verloren, diese Runde: gelaufen, alles perdu. So schnell ging dieses Spiel mitunter, und geistreich blieb es dennoch immer. „Mein Teekesselchen gibt Zinsen“, sagte der eine. „Meins dient der zwischenzeitlichen Ruhe“, sekundierte die andere. Und die übrigen mussten erraten, welch ein doppeldeutiger Begriff hier nun gemeint sei. Oberste Regel war also, durch Verschweigen des entscheidenden Wortes den Reiz zu steigern, je länger, desto besser für die sich stetig hochschraubende Dramatik. Vorherige Absprachen im Verborgenen in bezug auf das zu entschlüsselnde Synonym, dann die wohlüberlegte zunächst schön schwergängige, Spannung erzeugende Präsentation in verteilten Rollen – und, wenn es eben gutging, das große erlösende Aha-Erlebnis bei schließlichem zutreffenden Benennen durch ein Gruppenmitglied: Rätselmachen, Versteckspielen, Geheimtun, Entdeckerfreude, Bildungszuwachs: Vielschichtigkeit konnte solcherart heiter belebend sein. Eigener momentaner Ärger im Fall von unbeabsichtigter vorzeitiger, also: ver-sprochener Offenlegung wich einem fröhlichen Lachen ob der eigenen Ungeschicklichkeit. Am Ende waren alle ein Stückchen weiser geworden.

Wer zuerst die richtige Lösung gefunden hatte, durfte sich einen Partner aussuchen und mit ihm die nächste Partie bestreiten, beginnend, wie üblich, tête-à-tête, im Flüsterton hinter einem Baum, dann in front of all, nachdem man den Rückstand zur unterdessen weitergezogenen Ausflugsgesellschaft eiligen Schrittes überwunden hatte. So wurden endlos anmutende Wanderungen in größerer Gemeinschaft zweckfrei und zugleich gewinnbringend selbst dann zu unvergesslichen Erlebnissen, wenn die Landschaft öde war, das Wetter regnerisch und der Weg noch lang. Die spielerisch durch eigenständig gesetzte allseits anerkannte Regeln eingehegte Bildungskraft gesprochener Sprache trug einen unterhaltsam durch den Tag. Allerdings ging das nur, wenn alle sich auf etwa gleichem kulturellem Stand bewegten. Neider hätten einen gewissen elitären Dunst wahrnehmen können, am besten vielleicht einzudämmen, indem man solche Vergnügungen gleich radikal verbieten würde. Gehobene Doppelbödigkeit macht sich seit jeher verdächtig bei denjenigen, die da nicht mithalten, aus welchen Gründen auch immer.

Teekesselchen ziehen also womöglich Diktaturen nach sich – wenn man nicht aufpasst. Aber wo fängt das an, wo hört das auf? Ab welchem Augenblick werden harmlose fröhliche phantasierende Wandervögel zu subversiven Elementen, für die sich Big Brother interessiert? Wo verläuft die sogenannte „rote Linie“, wenn sich völlig offensichtlich jemand heutigem Neusprech entzieht und dem Mainstream eine lange Nase zeigt? Oder liegt die Perfidität unserer Zeit gerade darin, dass die Existenz klarer Grenzen offiziell in Abrede gestellt wird und aller Aufruhr folglich ins Leere laufen muss? Was aber ist überhaupt so revolutionär an kleinen geselligen Rätselfragen? Und wo gibt es denn überhaupt noch nennenswerte Ausflüge in die freie Natur? Sind sie nicht heutzutage eher rosarotgefärbte Fiktion? „Naherholungsgebiete“ und „Freizeitparks“ in unseren Breiten lassen darauf schließen, dass viel Ursprüngliches sich verflüchtigt hat und nurmehr als romantisches Konstrukt irgendwo-nirgendwo herumwabert.

Ein Teekesselchen sui generis, von musikalischer Provenienz, ergibt sich aus einer verblüffenden Erkenntnis, die mir persönlich eines schönen Tages zuteil wurde und mich ausrufen ließ: „Beethovens Zehnte ist gar nicht von Brahms“. Alle meine mich gerade umgebenden Freunde reagierten höchst erstaunt, ja wie vom Blitz getroffen, und manch einem schien eine ganze Welt zusammenzubrechen. Aber in Wirklichkeit bediente ich mich nur eines Tricks – der jedoch in mündlicher Konversation nicht weiter auffiel: Denn wer spricht schon Anführungszeichen mit, wenn es sich eher um eine lockere Plauderrunde und weniger um einen wissenschaftlichen Vortrag handelt? Restlos durchgehaltene Genauigkeit des in Rede stehenden Phänomens hätte nämlich unterschieden in „Beethovens Zehnte“ und Beethovens Zehnte, frei nach dem Motto: Zeigt her eure Gänsefüßchen, zeigt her eure Schuh‘ …

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Mit den Tüttelchen beehrt man seit einem Bonmot des Dirigenten Hans von Bülow die erste Symphonie von Johannes Brahms, unter anderem deshalb, weil in deren letztem Satz das Hauptthema auf irritierende Weise dem entsprechenden – zuletzt mit Chor – aus Beethovens Neunter ähnelt. Die normale Schreibweise indes bezieht sich auf Fragmente zu einem Werk in Es-Dur, im Mittelteil changierend nach c-Moll (der Grundtonart von Brahms‘ Erster), das der Meister aus Bonn und freie Künstler im seinerseits ungeliebten Wien wohl, wäre es fertiggeworden, als die symphonische Nummer Zehn herausgebracht hätte. Im Jahr 1988 hat der englische Musikwissenschaftler Barry Cooper aus den Skizzen einen sinfonischen Satz diviniert und rekonstruiert. Es gibt also ein Leben nach der Neun, und diese Realität, beizeiten erfasst, hätte manch Überhöhung und Mystifizierung im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte unterbunden.

Wer sich die bloße Anzahl sozusagen kanonisierter Sinfonien bei den seit rund zweihundertfünfzig Jahren stilbildenden Komponisten vor Augen führt, zählt folgendes: Joseph Haydn: 104; Wolfgang Amadé Mozart: 51; Franz Schubert: 8 (oder doch 9?); Felix Mendelssohn-Bartholdy: 5 (plus 13 Streichersinfonien); Robert Schumann: 4; Anton Bruckner: 9 (allerdings noch zwei zu Lebzeiten unveröffentlichte Werke, eine „Nullte“ und sogar eine „Nullnullte“); Johannes Brahms: 4; Gustav Mahler: 9 (oder doch 10?); Dimitri Schostakowitsch: 15. Erst bei dem russischen Meister aus dem 20. Jahrhundert ist der von vielen bis dahin selbstauferlegte, völlig unkritisch für sakrosankt gehaltene Beethovensche Bann endgültig eindeutig gebrochen! – Der Mythos von „Beethovens Zehnter“ konnte also nur entstehen, weil irgendwelche Neunmalklugen nicht wussten, dass es tatsächlich eine Zehnte Symphonie von Beethoven zumindest ansatzweise gab! In solch einer Kenntnisfülle wäre ein Brahmswerk nie mit entsprechendem Zusatz geadelt worden. Allerdings: Hätten dem Ahnherrn unserer derzeitigen „Europahymne“ noch weitere irdisch-taube-geistig-hellhörige Jahre zugestanden, um seine Skizzen vollumfänglich auszuarbeiten, so wären wir zwar um ein musikalisches Event reicher, aber auch um ein Teekesselchen ärmer.

Aufmerksamen Zeitgenoss*inn*en (hallo, liebe Genderdiktator*inn*en!) wird nicht entgangen sein, dass ich die Formen „Symphonie“ und „Sinfonie“ nebeneinander gebrauche. Schon die gleichsam hiatische Kluft zwischen m und n macht es unmöglich, hieraus ein unschuldiges Spielchen für heitere Ausflugsgesellschaften, gewissermaßen mit Köpfchen, zu bilden. Griechische Leidenschaft („ümpf“) und italienische Leichtigkeit („inf“) entwachsen jedoch einer gemeinsamen semantischen Wurzel: sym und sin stehen, mit phonia beziehungsweise fonia verbunden, für faktischen „Zusammenklang“. Bei Beethoven gern griechisch-pathetisch, bei anderen lieber latino-leggieramente. Das hängt nicht zuletzt von jeweiligen Moden und verlegerischen Interessen ab. Eine Eroica konnte eher als „Symphonie“ verkauft werden als beispielsweise eine Haydn-„Sinfonie“ mit dem von wes Hand auch immer hinzugesetzten Titel „Das Huhn“. Womit ich beileibe nichts, aber auch wirklich gar nichts gegen den Schöpfer der Melodie unseres heutigen Deutschlandliedes oder seiner so beklemmend prophetischen „Vorstellung des Chaos“ gesagt haben will. Im Gegenteil, ich bin immer noch ungehalten darüber, dass es die Deutsche Post vor sieben Jahren verabsäumt hat, eine Briefmarke zum Gedenken an den zweihundertsten Sterbetag dieses Giganten der abendländischen Musik herauszubringen. Dass ich dennoch weiterhin meinen philatelistischen Liebhabereien nachgehe,so, als sei damals nichts geschehen – obwohl eben etwas hätte geschehen müssen -, ist (finde ich, ganz unbescheiden) ein keinesfalls zu unterschätzendes kleines blaues (Mauritius)-Wunder.

Lassen wir die symph/sinf*onische Dreiheit von Hiat, Haydn und Huhn nun einmal „so stehen“ (im Klartext: Wimmeln wir ein lästiges Problem einfach ab und sagen zwar nicht, denken aber doch: Basta!) und widmen uns wieder der Erniedrigung von h, also: b! Da fehlt bisher noch ein dritter einsilbiger stabreimtauglicher Begriff, nach „Bank“ und „Brahms“ … : „Bonn“ – wobei ich darauf über den B-Namen „Boateng“ gekommen bin. Das ist jetzt allerdings erklärungsbedürftig und nur schwerlich in Verbindung zu bringen mit der heiteren Welt freundlicher Teekesselchen, dafür aber gänsefüßchenbewehrt bis in hermeneutisch dunkelste Abgründe hinein. Es geht ums richtige Zitieren im geschriebenen, gedruckten und gesprochenen Wort. Was jemand gesagt, aber nicht gemeint hat – gesagt und gemeint haben will – nicht gesagt, jedoch gemeint hat – oder gerade durch das Gesagte nicht gemeint haben will / kann / sollte … Kurzum, ich sah mich, als der stellvertetende Vorsitzende einer relativ neuen lauten Partei letztens etwas zu dunkelhäutigen Nachbarn angeblich gesagt hatte, an den Wirbel erinnert, der im November des gleichen Jahres, da Beethovens Zehnte uraufgeführt wurde, also 1988, durch eine Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger entfacht worden war.

Der protokollarisch zweite Mann im Staate musste von seinem Amt zurücktreten, weil ihm vorgeworfen wurde, er habe die Pogrome vom 9. November 1938, „Reichskristallnacht“ genannt, in einer Art und Weise zur Sprache gebracht, dass Verständnis hätte aufkommen können für diejenigen, die wegschauten, als Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte geplündert und deren Fensterfronten zerstört wurden; als überall mitten in Deutschland die offensive Verfolgung und Auslöschung der Juden begann; als sich die Machthaber als unumschränkte willkürliche Herrscher eines fest im Sattel sitzenden régime de la Terreur demaskierten, ohne dass noch etwas dagegen unternommen werden konnte. Wie es dazu gekommen war? Durch die Behebung vieler existenzieller Nöte bei der Mehrheit der Deutschen seit der „Machtergreifung“ Ende Januar 1933. Die furchtbaren Folgen der Weltwirtschaftskrise waren doch bewältigt und überwunden. Den Bürgern ging es besser als noch fünf Jahre zuvor. Die nationalsozialistische Propaganda hatte im doppeldeutigen Sinne des Wortes „blendend“ alles im Griff. Der normale Mann auf der Straße war fasziniert von den atemberaubenden Errungenschaften der neuen gesellschaftlichen Ordnung. Selbstbewusstsein allerorten, da wollte niemand etwas wissen von Konzentrationslagern, in denen die politischen, kulturellen, religiösen und schließlich eben die völkischen Gegner verschwanden …

Solche und ähnliche Gedanken äußerte seinerzeit der Bundestagspräsident. Er setzte seinem Auditorium in beklemmender Weise die potentielle je eigene Verführbarkeit vor Augen und Ohren. Wie nämlich hätte man sich als kleinbürgerlicher Profiteur des Ende der dreißiger Jahre in Deutschland herrschenden Systems denn selber verhalten? Wären nicht so ziemlich alle dem Fascinosum verfallen? Viele Fragezeichen und zitatbedingte Anführungsstriche blieben zwar wegen mancher rhetorischer Ungeschicklichkeiten in actu unbemerkt: Aber war das wirklich gleich ein Grund, den noblen Herrn, der viel für die deutsch-israelische Versöhnung getan hatte, über die Klinge springen zu lassen? Wer Jenningers Rede im Abstand von nunmehr bald 28 Jahren wohlwollend bis neutral durchliest, kann die ganze Aufregung, trotz überbordendem „Historiker-Streit“ seit 1986, kaum nachvollziehen. Sogar Leute aus dem eher linken Spektrum konnte man seinerzeit raunen hören: „Der Mann hat doch recht.“

Im Blick auf Ernst Nolte und seinen Beitrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, der die feuilletonistische Auseinandersetzung der späten bundesdeutschen achtziger Jahre in Gang gesetzt hatte, ist womöglich eine Spur gefunden: Dieser Gelehrte hatte es gewagt, die Einzigartigkeit der Naziverbrechen aus dem Gang der Geschichte heraus zu erklären, gar in eine vage Parallele zu setzen mit den stalinistischen Gewaltexzessen und sowjetrussischen Kriegsambitionen – und so angeblich die Singularität von Auschwitz zu „relativieren“, wie das Verb für das Totschlagargument schon damals hieß (und was der Autor nie intendiert hatte). Unter solchen Vorzeichen etablierte sich eine bloß angemaßte, aber bis heute durchaus erfolgreich verfochtene Meinungsführerschaft über die Deutung von schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Und niemand Berufenes griff ein. Jeder Einwand wäre als nazigedankengutverdächtig gebrandmarkt worden. Genau daran krankt die öffentliche deutsche Debatte bis heute.

In den Achtzigern gab es kein vulgarisierendes „Netz“, und selbst das Privatfernsehen steckte noch in den Kinderschuhen. Wer etwas im öffentlichen Diskurs beitragen wollte, musste sich zusammennehmen und in durchaus grammatikalisch wie orthographisch einwandfreien prägnanten Sätzen seine Sache vortragen. Sprachliche und also gedankliche Disziplin waren da gefragt. Hätte damals jemand gesagt, ein schwarzer Schlagersänger sei überall beliebt, aber eine Negerfamilie in der Nachbarschaft würden viele Leute höchstwahrscheinlich missbilligen, dann wäre solch eine Behauptung als Beschreibung und Impuls fürs eigene Nachdenken ventiliert worden. Ob tatsächlich etwas an diesem Satz dran sein könne? Man hätte vielleicht empirische Studien herangezogen, um die geäußerte These zu verifizieren oder eben zu falsifizieren. Da wären alle an der Diskussion Interessierten in sich gegangen und hätten sich zunächst einmal selbst befragt, ob das womöglich stimmen könne. Jedenfalls hätte niemand dem Urheber solch einer Ausgangsthese „rechte Gesinnung“ oder gar „rassistische Einstellung“ untergeschoben. Und es wäre allerdings auch keine Zeitung auf die abenteuerliche Idee gekommen, etwa den Namen Roberto Blanco zu insinuieren und dann zu titeln, der sei nun diskriminiert worden.

So aber ist es in unseren späten Zehnerjahren mit Alexander Gauland und Jérôme Boateng passiert. Der ältere freundliche Herr weiß nicht, wie ihm geschieht – und der junge Fußballspieler, der bei „Tennis Borussia Berlin“ einst debütierte und derzeit dem Kader der deutschen Nationalmannschaft angehört, nimmt die ganze Sache freundlich gelassen. Der weiße Bildungsbürger hat eine Beobachtung geäußert, der farbige Sportler hat sie verstanden als Versuch einer Zustandsbeschreibung. So what? Skandalisiert hat diesen Vorgang erst die Sonntagszeitung der „Frankfurter Allgemeinen“, indem sie (bewusst intranitiv formuliert:) unterstellte und personalisierte. Hat der alte Bismarck doch – wenn auch sehr nachträglich – recht, so er die für solche Vorgänge verantwortlichen Mitglieder ihrer eigenen Zunft abschätzig „Journaille“ nannte? Die Presse als „vierte Gewalt“?

„Wenn der Teekessel pfeift …“ – aber es ist ungemütlich geworden im Land der Wandervögel, Werkmusiker und Weltverbesserer. Bänke und Banken, Brahms und Beethoven, Bonn und Boateng: Wo sind die übereinstimmenden großen Linien, die, wie in der Musik unseres 100-Jahres-Gedächtnis-Meisters Max Reger, alles mit allem verbinden? Vielleicht so: Sollten Banken keine Kredite mehr vergeben, kann niemand mehr eine Sitzbank stiften. Nur weil Brahms mit seiner „Ersten“ aus Beethovens Schatten heraustrat, ist dieses Werk nicht automatisch dessen „Zehnte“. Weil aber damals im Bonner Bundestag ein Guter – gegen Sitte und Anstand – seinen Abschied nehmen musste, ist das noch längst kein Grund, jetzt neuerlich jemandem, der Wahrheit sagt, übel nachzureden. Das mit den Teekesselchen sollten sich alle Beteiligten zwar noch einmal gründlich überlegen unter der Prämisse, je wissender man fortschreitet, desto weniger werden die Entsprechungen – aber allein damit ist es eben nicht getan: Relationen müssen her. Wer keinen Zusammenhang sehen will zwischen öffentlicher Sitzgelegenheit und Sponsorenfinanzierung oder symphonischen Seltenheiten Beethoven neun und Brahms eins selbander – der/die wird auch keine Beziehungen herstellen von Synagogenbränden damals und Selbstbeweihräucherungen öffentlicher Art jetzt.

Wer sagt denn eigentlich, dass unsere derzeitige Gesellschaft völlig immun sei gegen Verfolgungsgelüste, die, wie einst „die Juden“, jetzt andere Gruppierungen ins Visier nehmen könnten? Heutige Unzufriedenheiten sind vielfältig und jedenfalls groß. Wer jetzt gegen wen auch immer hetzt, muss sich in deutschen Gefilden leider am „Dritten Reich“ und an dessen Vorgeschichte messen lassen. Der sogenannte „Bäder-Antisemitismus“ etwa entstand ja bereits im neunzehnten Jahrhundert; manch ostfriesische Insel vermeldete stolz etliche Zeit vor der „Machtergreifung“, sie sei „judenfrei“. Auch die bekannte Kurzgeschichte von Elisabeth Langgässer über ein Hinweisschild „In diesem Kurort sind Juden unerwünscht“, veröffentlicht 1947, nimmt dieses Thema auf, ein Problem schon lange vor der Shoa. Warum soll dies alles „unvergleichlich“ sein?

Wäre nicht eher ein verbindender Gedanke zu heutigen brutalen Umtrieben nötig, um dem so verallgemeinernden Kesseltreiben gegen „Muslime“, „Terroristen“ oder auf der anderen Seite vermeintlichen „Nazis“ Einhalt zu gebieten? NOCH gibt es hier in Europa, so weit wir wissen, keine Straflager, wohin die genannten Personengruppen eingeliefert würden. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es solche Orte in naher Zukunft geben könnte – weil das gewalttätige Verhalten vieler Menschen gegenüber „Minderheiten“ eben so ist, dass irgendwelche Maßnahmen zwingender Art wieder denkbar geworden sind. Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht wortwörtlich, aber strukturell durchaus. Wir müssen keine Angst vor Gaskammern haben, aber vielleicht eben doch vor Denkmustern, an deren Ende rohe kalte Vernichtung steht. Angesichts dessen soll man nichts vergleichen dürfen? Alle öffentliche Erziehung, die ein bundesdeutsch sozialisierter Mensch wie ich genossen hat, zielte doch gerade darauf ab, dass sich Zustände wie zwischen 1933 und 1945 nie und niemals wieder ereigneten.

Darum lasen wir brav „Andorra“ von Max Frisch und „Sansibar oder der letzte Grund“ von Alfred Andersch. Wir verstanden Schillers „Wilhelm Tell“ aus dem – freilich nachgereichten und also naturgemäß sachfremden – weiteren deutschen Geschichtsverlauf, und Heinrich Manns „Untertan“ sollte natürlich auch auf dessen Folgen für das kommende Führerprinzip hin interpretiert werden. Andererseits: Brechts Zeile „Der Schoß ist fruchtbar noch / aus dem das kroch“, wäre völlig irrelevant, wenn wir Heutigen damit nichts anfangen dürften. Die Naziverbrechen waren einzigartig, weil ihr Nährboden ursprünglich nichts ahnen ließ von deren Folgen! Aber in der dann grausam ausgeführten Weise haben sie im Nachgang all jene Mahnungen nach sich gezogen, mit denen meine Generation aufwuchs. Soll das alles denn nichtig sein? Eine „Einzigartigkeit“ kann doch immer nur festgestellt werden zum Behuf des Vergleichs. Anders gesagt: Wenn ich beim Attribut „unvergleichlich“ einfach stehenbleibe, dann schaffe ich erstens einen Mythos und ebne zweitens nolens-volens jenen Kräften die Bahn, die künftig, mit anderen Mitteln zwar, aber ebenso ausrottungswillig wie ehedem, heutigen als vermeintlich fremdgefährlich ermittelten Menschen an die Gurgel gehen wollen.

Das Ungeheuerliche erwächst langsam, aber entschieden – auch mit Hilfe unzähliger undurchschaubarer neuer Gesetze. Bemerkenswert ist, dass die einzige politische Partei, die sich immer uneingeschränkt für die Bürgerrechte eingesetzt hat, bei den letzten Bundes- und Landtagswahlen schlecht abschnitt. Von wacher Mündigkeit freier Wähler*inn*en kann mitnichten auch nur von ferne die Rede sein – und man sollte, statt vom „Wahlrecht mit sechzehn“ zu schwärmen, besser über eine Heraufsetzung des Wahlalters nachdenken. Niemand kommt da mit, und „plötzlich“ ist es zu spät. Die Diktatur gewinnt, noch ehe man nach Luft schnappen kann. Die Sündenböcke werden dann allerdings schon feststehen, wahlweise als liberal, schwul oder gar religiös beschimpft. Soll wirklich erst zugewartet werden, bis so etwas nicht etwa eintritt, sondern unumkehrbar eingetreten ist? „Wehret den Anfängen“ heißt heutigentags doch wohl, die politische Gegenmeinung des als noch so doof oder einfältig empfundenen Nachbarn zu beherzigen, die muslimische Familie von nebenan in ihrem Begehen des Fastenmonats zu achten oder über den Kirchgang des alleinstehenden Mannes von gegenüber nicht zu spotten. Wer überall nur Trolle, Talibane oder Terroristen am Wirken sieht, wird am Ende selbst zu einer trolligen Figur, einem talibanischen Eiferer und einem terroristischen Unmenschen. Das Gegenteil von Gut ist hier wie da immer wieder : Gutgemeint.

Macht den Banken Beine! Lasst Brahms zum Zehnkampf zu! Hört auf, Bonn entweder einseitig zu beschimpfen oder naiv rückverklärend über den grünen Klee zu loben! Boateng und Beethoven gehören auch nicht einfach auf die Bank oder sonst ein Abstellgleis. Der Saisonbeginn für allgemeinen Sommerurlaub und europäischen Fußball stünde andernfalls womöglich in der Gefahr, dem unverzeihlich tragisch endenden, bekanntlich in einem regelrechten Weltenbrand untergehenden „Saisonbeginn“ beklemmend ähnlich zu werden. Die prügelnden Hooligans in Marseille dürfen daher keine weiteren Vorboten werden für den Ungeist, den die Langgässer in der Rückschau von 1947 so treffend beschrieb.

Kredite in c-Moll am deutschen Rhein hin, Ruhephasen in goldenem Es-Dur für unsere Jungs her – dem christlichen Abendland sollte man nicht noch einmal beikommen im Sinne von Parolen, die in wüster Eindeutigkeit alles Vielschichtige niedertrampeln. Lieber nehme ich da zwischenzeitlich eine verzockte Investition, einen vergeigten Beethoven oder eine verunglückte Rede in Kauf. Denn solche Dinge lassen sich bei nächster Gelegenheit heilen – vorausgesetzt, man hat auch in Zukunft die Chance dazu – in einer freien Welt, die sich von derpolitisch-korrekten“ Gesellschaft mit all deren Verbotsschildern angenehm und nachhaltig unterscheidet.

Einmal straucheln, dann aber aufstehen und mutig weiterkämpfen – das ist als Lebenserfahrung ebenso wertvoll wie eine von den vielen schön verplapperten Wahrheiten, die auch dann nicht falscher werden, wenn tout le monde sie skandalisiert. Weltbürgerlich gestimmte Ausflugsgesellschaften haben immer schon ihre feinen Spiele gepflegt. Mit ihren Teekesselchen vermochten sie aber auch die abgründigen Untiefen zu artikulieren. Doppelbödig auf den Begriff bringen, was ist – ich wüsste nicht, was in rohen Zeiten angemessener sein könnte, um die unantastbar-antastbare Würde des Menschen doch noch so là-là aufrechtzuerhalten.

Foto: Bank mit Beinen, darauf ein im Titel ohne Tüttel auf Beethovens Zehnte weisendes Buch – Harald Asel: Wer schrieb Beethovens Zehnte? Alles, was Sie über Musik nicht wissen. Frankfurt am Main 2008.