Unerhörte musikalische Wünsche

Als Bundeskanzler werde ich gewiss nicht in die Annalen eingehen. Doch der Große Zapfenstreich für Frau Dr. Angela Merkel anlässlich ihrer Verabschiedung hat in mir die Frage hervorgerufen: Was wäre wenn? Welche drei Musikwünsche hätte ich gern erfüllt haben wollen?

Der scheidenden Kanzlerin spielte die anlassgeprägte musikalische Formation zunächst ein Lied von Nina Hagen, womit die Herkunft der bisherigen Regierungschefin aus der DDR noch einmal deutlich wurde. Anschließend kamen die roten Rosen der Knef zu Gehör, sicherlich auch als eine Hommage an Berlin gedacht. Und zum Schluss erklang der Choral „Großer Gott, wir loben dich“, ein ökumenischer Gruß der Pfarrerstochter.

Wie müsste es bei mir aussehen? Ich gestehe, dass mir meine musikalischen Vorlieben und dementsprechenden Kenntnisse eher hinderlich denn hilfreich sind. Bearbeitungen für ein Musikkorps wünschte ich daher für Stücke, die ich aus eigener Praxis gerade nicht so gut kenne – sonst würde ich nur auf die Auslassungen, Kürzungen oder Entschlackungen achten, was dem unmittelbaren Hörgenuss nicht unbedingt förderlich wäre. Genuine Musik für Klavier, Orgel oder Vokalchor blieben also in meinem speziellen Fall eher unberücksichtigt.

Was dann lieber? Ich neige zu Eindrücklichem ohne Plattheiten. Und wenn es um deutschsprachige Schlagerstars geht, fiele meine Wahl unter anderem auf: Udo Jürgens. Während seiner Tournee 1987, also in meiner Jugend, hat er das eigens komponierte Lied auf einen Text von Friedhelm Lehmann dargeboten: „Atlantis sind wir“! Das ist in seiner musikalischen Vielschichtigkeit bei modern-romantischer Grundhaltung auf die Länge hin hoffentlich unvergesslich! Ich bekenne mich an dieser Stelle zum Mythos der untergegangenen Insel, wenn er beispielgebend in solch einer klanglichen Verkörperung erscheint.

Als zweiten Titel – und da habe ich Sting, Metallica und Freddie Mercury zwar gern im Sinn gehabt, jedoch in ihrer Komplexität nicht antasten wollen – bin ich dann einem sinfonischen Satz von Johannes Brahms erlegen, dem dritten aus seiner Dritten! Was für eine zu Herzen gehende Melodik, welch schmelzende Harmonik! Mich persönlich an Hamburg und Wien erinnernd, zwei unter meinen gefühlt fünfundzwanzig Lieblingsstädten!

Mein letzter Wunsch wäre das Kirchenlied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Vom Textdichter und Melodienschöpfer Georg Neumark gibt es dazu einen eigenen vierstimmigen Satz. In welchem Arrangement auch immer, der Dreiertakt müsste bitte gewahrt bleiben. Insofern kommen Bach-Versionen ausnahmsweise nicht in Betracht. „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, / verricht das Deine nur getreu“ …

Eine musikalische Abfolge ohne Schütz, Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner, Wagner, Schönberg … Die schwiegen dann eben für einmal: ganz still und dadurch vielleicht umso nachhaltiger geehrt. Ein echter Klassiker erklänge übrigens sowieso: Joseph Haydn mit jener Melodie, die ohne sein Zutun zu unserer Nationalhymne wurde. Ein schönes Lied, zu erleben am besten im Stehen sowie ohne Zittern und Zagen.

Nun denn: Ich habe gut reden – so als Nichtbundeskanzlerin …

Wer früher schläft, kann länger träumen

Aufgeweckte Menschen haben gut geschlafen, lassen den Tag langsam angehen, machen alles schön bedächtig, freuen sich entweder am sonnigen Morgen oder stören sich jedenfalls nicht, wenn es wider Erwarten regnet, stürmt oder schneit. Unter solchen Voraussetzungen lesen sie Losung, Lehrtext sowie mindestens zwei Zeitungen fast im Fluge. Alles geht derartig leicht von der Hand, dass sich sogar manche ihrer dero zweiten entsinnen und ganz frei harmonisierend einen vierstimmigen Choral am Klavier zuwege bringen.

„Wach auf, mein Herz, und singe“, recht passabel intoniert, später mit Schleifchen versehen, einen Moment weiter schon mithilfe von oktavierten Bässen oder gebrochenen Dreiklangsgirlanden romantisierend aufgemotzt, einmündend in ein Fugato, das – selbst wenn es ausdrücklich ja keinen Anspruch erhebt, eine Fuge zu sein, auch so nicht hält, was es verspricht – irgendwann ebenso extemporiert feierlich wie züchtig im Plagalschluss unter vorheriger Aufbietung sämtlicher Finessen des Organistenzwirns schließlich doch keineswegs schnöde endet, sondern vielmehr hochfein „endigt“.

Solche gut ausgeschlafenen geistes- und musikbeflissenen Leute haben ihrem bevorstehenden Tag bereits einen #tag eingeprägt. Historische Vorbilder könnten dafür etwa diese hier sein: Immanuel Kant (1724-1804), der jeden Morgen ein Gesangbuchlied auf seinem Harmonium spielte; Joseph Haydn (1732-1809), der seine eigene Komposition „Gott erhalte Franz den Kaiser“ am Clavichord variierend intonierte; Frédéric Chopin (1810-1849) und Richard Wagner (1813-1883), die beide sich selbst tagtäglich und richtig buchstäblich „beflügelten“ mit Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier.

Bei so reichlich ausströmender Wachheit sei den Normalsterblichen unter uns spätestens um die Mittagszeit ein erquickendes Nickerchen gegönnt. Mittlerweile wird dies sogar von etlichen Chefs den eigenen Mitarbeitern nachhaltig im Format power-napping freundlichst anempfohlen. Nützlichkeitserwägungen mögen da eine nicht unerhebliche Rolle spielen, soll doch der Untergebene möglichst lange funktionieren. Dennoch wäre es falsch, von gewerkschaftlicher Seite aus diese unterstellt paternalistische Geste bekämpfen zu wollen; denn jede Schlafmöglichkeit bringt ja auch Träumereien mit sich. Wer die Augen schließt und subversiv zugedeckt ruht, sieht innerlich eine andere Welt.

museumsschlaf

Da schlummert Potenzial. Es regt sich Utopia. Das Nirgendwo, der Sehnsuchtsort, die ideale Stadt meldet sich bei jenen, die so frei sind. Und was genau sehen diese Menschen?

Wer früher schläft, kann länger träumen

Tief in ihrem Inneren rumort es gehörig. Zwar imaginieren sie augenscheinlich lauter Harmlosigkeiten wie zum Beispiel hochgebaute mittelalterliche Städte mit gotischen Kirchen und buntgeschäftig erfüllten gewölbten Laubengängen unter milder Aufsicht einer im prächtigen Rathaus ebenso selbstbewusst wie verantwortungsvoll regierenden Bürgerschaft. Handel und Wandel sind geprägt durch zünftig produktives Geschick und phantasievoll schöpferisches Künstlertum, einhergehend mit kulturellem Schwung, der seinerseits in frommer Dankbarkeit wurzelt.

Doch ehe unsere gedachten Schöngeister vollends dem Mythos und der Mystik frönen, nur weil sie im Wachzustand allzuviel Musik inhaliert haben, machen sie schon wieder ihre Äuglein auf, erinnern sich allerdings nachhaltig ihrer inneren Bilder und nehmen diese mit in die Fortsetzung ihres real existierenden Alltags. Dort können die sich zu kritischen Begleitern entwickeln. Vielleicht verhindern sie in bester Weise, der bisweilen drängende Versuchung eines vorzeitigen Ausstiegs nachzugeben; denn solche Tagträume rufen freie Assoziationen hervor wie die schenkelklopfend-krachlederne Aufforderung „Freut euch des Lebens!“ – oder die aus Hörspielen und Filmen bekannte perspektivisch-umgekehrte Memento-mori-Mahnung „Wer früher stirbt, ist länger tot.“

Frohsinn und Furchtsamkeit gleichermaßen bewahren vor unnötig panisch inszeniertem Exodus und Exitus. Wer Traumbilder mit sich trägt, lässt sich auch selber tragen, vielleicht gar besser ertragen: von ihnen und den mit selbigen verbundenen Gedanken und Gefühlen. Wenn irgendwann tatsächlich der Tod von sich aus kommt, dann als des Schlafes Bruder. Eigenartigerweise sind in dieser Weisheit altgewordenes Heidentum und junggebliebenes Christentum in- , mit- und untereinander tief verbunden. Hier treffen sich Athen, Rom und Jerusalem. Raffael-Stanzen und Nazarener-Malereien machen sich die Antike beziehungsweise das Mittelalter idealtypisch zueigen und bezeugen in ihren Aktualisierungen wie Historisierungen eine traumwandlerische Wahrhaftigkeit. Renaissance und Romantik müssen, so gesehen, keineswegs nur als Gegensätze aufgefasst werden.

Hier wie dort, bunt aber passgenau wie in einem Saal mit durch Petersburger Hängung präsentierten Gemälden, ist schlicht Geduld innen und außen angesagt. Human und religiös lässt sich womöglich doch das Leben meistern, allen widerstreitenden kurzatmig-tagespolitischen Einreden zum Trotz. Idealbilder auf der Höhe des Tages formen eine innere Kunsthalle, Gesänge der Frühe untermalen die Eindrücke weit und breit bis hinein in die Dimensionen sphärischen Tonhalls. Und was sich schön ausformt und darin kräftig nachhallt, verschafft nicht nur Form und Inhalt (!) neue Bahnen, sondern stärkt hallend-haltgebend auch genau jenes nachdenkliche Publikum, das aus Leuten sich zusammensetzt, denen Kunst und Kultur nicht bloßes und notfalls verzichtbares Beiwerk ist, sondern stets anregendes Lebenselixier.

Des Abends gehen unsere solcherart erweckten Menschen dann auch flugs und fröhlich schlafen. Unverwüstliche Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ und „Guten Abend, gute Nacht“ beschließen ihr Tagewerk, wie auch immer dieses sich im einzelnen gestaltet haben mag. Beim Abschied vom Tag mag als Losung und Lehrtext der Satz gelten: Wer früher schläft, kann länger träumen. Dieses Motto begrenzt unter Umständen einigermaßen vernünftig abrundend die Bettlektüre – zu deren und eigenem Gewinn … Frau Luna glänzt und bereitet zugleich leise sehnend die bald wiederkehrende Zeit der Aurora vor: So hält sie Erinnerung und Erwartung wach, unwiderstehlich bis zum nächsten Morgen, ganz frisch und neu.

Fotos: Schlummerstündchen nach Besichtigung einer Ausstellung in der Kunsthalle zu Emden.