August 1806 in memoriam

Am 6. August 1806 endete das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Franz II. legte die römisch-deutsche Kaiserwürde ab und regierte fortan (nur noch) als Kaiser Franz I. von Österreich. Wien blieb also – wenn auch anders als bis dahin – eine Kaiserresidenz, und Haydns „Kaiserhymne“ konnte dort mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“ noch jahrzehntelang gesungen werden. Wir stimmen auf diese Melodie heutzutage „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ an. Was aber bis in unsere Gegenwart musikalisch nachwirkt, kann doch nicht verwischen, dass damals eine regelrechte Zeitenwende besiegelt wurde.

Denn das Duell zweier Kaiser nahm eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. Seitdem ist es aus der Geschichte verschwunden, nach fast achteinhalb Jahrhunderten Bestand.

Am 2. Februar des Jahres 962 war einst der deutsche König Otto, nachmals „der Große“ genannt, in Rom zum römischen Kaiser gekrönt und gesalbt worden. Seitdem gab es in Mitteleuropa wieder ein Imperium Romanum, gar bald mit dem Zusatz sacrum versehen, also ein „Heiliges Römisches Reich“, erstanden aus den idealisierten Resten der fränkisch-karolingischen Welt, diese wiederum fußend auf den verchristlichten Vorstellungen einer Pax Romana, die seit der heidnischen Antike die Geschichte und Kultur rund um das Mittelländische Meer geformt hatte.

Dieses ottonisch, später salisch und staufisch regierte Reich büßte im Laufe der Zeit immer mehr von seinen hehren Idealen und deren Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung ein. Im Investiturstreit zerrieben sich weltliche und kirchliche Herrschaftsträger wechselseitig. Seit dem 13. Jahrhundert wuchs überdies das Selbstbewusstsein unter den Nachfolgern der ursprünglichen Lehnsnehmer. Und nach dem Verlust seiner europäischen Dimension seit dem 15. Jahrhundert galt das Reich nur noch „deutscher Nation“ angehörig. Die Wirren von Reformation, Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg setzten der tatsächlichen imperialen Macht der Kaiser weiter zu. Nun, 1806, hatte sich das Reich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt.

Kaiser Franz sah das Ende kommen und installierte 1804 für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der traditionellen Nachfolge der habsburgischen Erzherzöge.

Das Absterben des Alten Europa, dessen größten Gebietsanteil eben das Heilige Römische Reich deutscher Nation einnahm, begann mit der Französischen Revolution ab dem 14. Juli 1789. Damals, so sagt es ein Merksatz aus meiner Schulzeit, gab es in Deutschland ebensoviele Groß-, Klein- und Kleinststaaten wie man Jahre nach Christi Geburt zählte, also 1789: eintausendsiebenhundertneunundachtzig. Deutschland war groß und der Kaiser in Wien weit weg: so erlebte man diese zerklüftete politische Landschaft gleich einem Flickenteppich.

Jeder Landesfürst war eifersüchtig auf seine hoheitlichen Rechte bedacht. Da gab es größere Herrschaftsgebiete wie etwa Preußen, Württemberg oder Bayern, sodann unzählige Herzogtümer und Grafschaften, dazu etliche Ritterschaften und Freie Reichsstädte. Alle ihre jeweiligen Herrscher oder Senatoren pochten auf ihre Eigenständigkeit. Sie schlossen Bündnisse mit ausländischen Mächten, waren mit ihnen dynastisch verbunden – etwa Hannover mit Großbritannien oder Oldenburg mit Dänemark und Russland – und verbaten sich normalerweise jedes Hineinregieren des Kaisers.

Und es gab die geistlichen Herrschaften, regiert von zumeist römisch-katholischen Fürstbischöfen. Diese Territorien waren es, die am schmerzlichsten die Wucht der politischen Veränderungen durch die Vorgänge in Frankreich zu spüren bekamen. Revolutionstruppen hatten das Rheinland besetzt. So ging seit Ende des 18. Jahrhunderts das ganze linksrheinische Gebiet des Alten Reiches verloren. Um die deutschen Fürsten zu entschädigen, löste man im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 in Regensburg nahezu alle geistlichen Fürstentümer auf und schlug deren Gebiete weltlichen Herren zu.

Mit dieser staatskirchenrechtlich bis heute bedeutsamen Flurbereinigung verschob sich insgesamt das konfessionelle Gefüge des deutschen Ancien régime. Mit einem Male erbten protestantische Herrscher mitunter auch kurfürstliche Funktionen. Es wurde dadurch unwahrscheinlich, dass eine evangelische Mehrheit in diesem erlauchten Kreise der Kurfürsten einen römisch-katholischen habsburgischen Kaiser bestätigen würde. Auch deshalb zog sich Franz II. lieber auf sein Stammland Österreich zurück.

Mit der Gründung des Rheinbundes in der ersten Jahreshälfte 1806, faktisch dem Austritt einer klaren Mehrheit von deutschen Staaten aus dem Reich, wurde ein weiterer Schritt von Napoleons Gnaden unwiderruflich vollzogen. So erlöste der römisch-deutsche Kaiser seinerseits den lebenden Leichnam heilig-römisch-deutscher Herrlichkeit und überließ ihn seinem Schicksal, zumeist in der Faktizität französischer Besatzung.

Das Römertum ging habituell auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun im Jahre 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 und 1806, sozusagen die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach mehr als neunhundert Jahren, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können.

Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging der Kaisertitel an ein kleindeutsches Reich über, absichtlich völlig losgelöst von den Habsburgern in Wien, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss: Die k.u.k. gutkatholische Doppeldonaumonarchie streckte ebenso die Waffen wie die preußisch-protestantische Hohenzollernherrschaft.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815 sah man überall in Europa nur noch auf die jeweils eigene nationale Prägung. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls selbstherrlich, spielte nun keine große Rolle mehr. Jegliches Denken im Sinne von karolingischen und ottonischen Großzügigkeiten wurde durch die maßgeblich Mächtigen des 19. Jahrhunderts eher verdrängt denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

Es musste der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Im Blick auf die ganze Welt geschah dies ab einem weitaus schrecklicheren 6. August: dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit den „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, war folgerichtig und ist nach wie vor begrüßenswert.

Die antike und christliche Grundlage Europas ist heutzutage fast völlig in Vergessenheit geraten, mit ihm zugleich ihre Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre sie neu zu erkennen: Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), blieb im historischen Gedächtnis als zeitweiliger Erzieher von Otto III. gegenwärtig. Freilich war der bei Grundsteinlegung des Gotteshauses schon acht Jahre tot.

Gewiss: Die damaligen Umstände mitsamt der neu-alten „Rom-Idee“ des Enkels von Otto dem Großen sind mit den derzeitigen überhaupt gar nicht vergleichbar. Aber dieses Bauwerk, im schwärmerischen Nachgang christlichrömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums errichtet, hat immerhin alle Höhen und Tiefen der gemeinsamen europäischen Geschichte überstanden, ohne auch nur eine der vielen Zeitenwenden auszulassen.

Sich regen bringt Regen – oder auch nicht

Damals brachte Regen nicht nur Segen. Man musste mit Reagan rechnen, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Oder mit saurem Regen. Und natürlich mit dem kontaminierten Spinat in der Folge von Tschernobyl. Es waren sozusagen schreckliche Zeiten. Alle hackten auf uns bundesdeutschen Normalbürgern herum. Die Franzosen spotteten über le Waldsterben und Großbritanniens Premierministerin wollte my money back. In solch schweren Zeiten, da mundnaseschützende Maulkörbe noch nicht schicklich waren, griff man in armen studentischen Zirkeln zu schwarzen Regenschirmen.

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Die hatten etliche Vorteile. Man konnte sich verbergen beim kleinsten Anflug von Niesen und Husten, ohne doch völlig zu vereinsamen. Um es ganz lebensnah zu sagen: Wenn jemand in unserem Studentenwohnheim Zeichen solch einer Krankheit zu erkennen gab, schlüpfte er/sie (es gab’s 1986 noch nicht) hinter eines dieser dunklen weitgespannten Utensilien, ließ sich die Haare wachsen und lachte sich eins. Dabei galt grundsätzlich die Verabredung: Am dritten Tage auferstanden von den Toten. Glaubensstark und humorvoll zugleich. Wahres Christentum.

Manchmal mussten überängstlichen Mitbewohner*inne*n zusätzliche Lektionen erteilt werden. Dann konnten Schutzschirme durchaus zu Stichwaffen mutieren. Wer das unangemessen fand, dem/der stand es frei, die Wohneinheit und den dazugehörigen Flur zu verlassen und sich ein schickes Appartement unterwärts des mons sacer mühsam zu suchen. Ja, ein „Heiliger Berg“ mit allen biblischen Zutaten war dieser Ort allemal. Aber immerhin gab es eine grundsätzliche Chance für die Abtrünnigen: Die Stadt Bielefeld existierte noch. Erst seit Mitte der neunziger Jahre ist diese Aussage durch eine Verschwörungstheorie pandemischen Ausmaßes fraglich geworden.

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Mit Schirm, Charme und Zarathustra (zwischen links und rechts balanciert) wurde oben über und hinter der teuteburgerwaldgewirkten Promenade ein Wille zur Macht unverhohlen mannhaft zelebriert. Nietzsche hätte sich gefreut – und wir waren seinerzeit fröhlicher Urständ teilhaftig, ohne unfrohe Ängstlichkeit. Also damals, WIR, Student*inn*en einer neuen Welt: beschirmt, beschützt, begleitet von schlichtem Glauben und immer gern haargenau daneben, angenehm getrennt von Friseurterminen aller Art – in sicherer unangemeldeter Ferne von Sturmhauben oder Einmalplastikumhängen sowieso … Es waren schöne glänzende Zeiten. Und die zählen erinnernswerterweise anregend genau JETZT.

Nachtrag: Regsamen Geistern möge hier noch der photographische Beleg dafür geliefert werden, dass es sich bei dem Taschenbuch zur Rechten wie zur Linken tatsächlich um Nietzsches Zarathustra gehandelt hat:
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Links zeigen, rechts erklären – Fingerfertigkeit in hoc signo, schwarzbeschirmt. In allen haarigen Angelegenheiten immer gut drauf und rege dabei.

Auf den Orgelpunkt

Mit dem Begriff „Orgelpunkt“ bezeichnen wir in der Musik einen durch mehrere Takte gehaltenen Ton, über dem sich ein Thema entfaltet oder ausgesponnen wird. Gern erscheint er am Anfang, in der durchführenden Mitte oder gegen Ende eines Stückes. Oft liegt er in den tiefen Lagen des Pedals, vorzugsweise eingangs auf der Tonika oder im späteren Verlauf auf der Dominante.

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Ein Orgelpunkt wirkt vor allem dann beständig, wenn er etlichen Modulationen zum Trotz sich durchhält. Stark und ruhig zugleich bleibt er einfach liegen, hält vorübergehende Missklänge ebenso aus wie die „Fülle des Wohllauts“, lässt sich von „großer Gereiztheit“ nicht aus dem Konzept bringen und dringt auf ein gutes Ende. Daher sind polyphone Wortgefechte, andere Meinungen, unterschiedliche Ansichten für ihn kein Grund zur Aufregung. Stoische Gleichmut und christliche Hoffnung finden hier zu klarer Einheit und stimmiger Kraft.

Solch latent vielfältig gedachte Eintönigkeit wurde im Laufe der Zeit zu einem kompositorischen Prinzip ausgebaut und hat auch die weitere instrumentale und vokale Musik erfasst, liefert der Orgelpunkt doch zu jedem Motiv oder gar zu jeglicher bestimmten Melodie ganz elementar einerseits das schöpferische Rohmaterial, andererseits die nachschaffende Bestätigung von bewegt-bewegender Klangrede im fortgeschrittenen Stadium. Zu Beginn, im Verlauf und am Ziel erweist er sich als ein Lebenselixier allererster Güte.

Wo liegt derzeit ein tief vertrauenswürdiger Grundton oder ein angenehm ausgelotet dominierender Laut? Das leise Rascheln von Zeitungen mit frakturgesetzen Namen wird seltener; denn die klugen Köpfe wollen auch entsprechende geistreiche Kost. Den Sensationen hinterherzuhecheln gelingt ja selbst dem Fernsehen nicht mehr. So redet man nicht Fraktur. Und was wir in den sogenannten „sozialen Medien“ schrill und verzerrt häppchenweise mitbekommen, füllt nicht annähernd die abgründige Lücke aus, die sich zum unüberbrückbaren Graben verbreitert und einen „Donnerschlag“ hervorrufen könnte. Daher fordere ich: Weniger Zuckerberg! Mehr Zauberberg! Auf den Orgelpunkt!

 

 

 

Mauerdurchbruch

Als vor dreißig Jahren infolge einer Verkettung glücklicher Umstände – ich sage nur: Schabbi „unverzüglich“ – am Grenzübergang Bornholmer Straße die Berliner Mauer unter dem Druck der versammelten Menschen geöffnet wurde, lag Deutschlands Zukunft in unbekannter Form und Ferne ganz weit weg. Glücksmomente sind reine Gegenwart. Von solch einer Beschaffenheit war der Abend des 9. November 1989.

Der sprichwörtliche Himmel über Berlin, cineastisch bereits zwei Jahre zuvor in aller Munde – ich sage nur: „Kind“ Handke – , strahlte tagsüber prächtig, noch viele Wochen in jener Zeit. Er beschien ausgemusterte Elektrowaren, die nun an begeisterte DDR-Bewohner verkauft werden konnten; er blickte freundlich auf das menschliche Gewimmel am Kurfürstendamm; er sah hell in sich umarmende westöstlich vereinte Deutsche unterschiedlicher Staatsangehörigkeit; und er meinte es offensichtlich gut mit allem, was kommen würde.

Günter Schabowski (auf einer Pressekonferenz zum neuen Reisegesetz der DDR) und Peter Handke (diesjähriger Literaturnobelpreisträger, man lese und höre wieder einmal das „Lied vom Kindsein“ in der Rezeption durch den Filmemacher Wim Wenders) haben auf je ihre Art unwissend Mut gemacht: 1987 dachte nur Präsident Reagan bei seinem Berlinbesuch das Undenkbare – ich sage nur: „Tear down this wall“ – , verlacht von allen Westdeutschen, die es sich in der Zweistaatlichkeit bequem gemacht hatten. Und 1989, am frühen Abend des zweiten Donnerstags im elften Monat, wurde aus der trockenen Ankündigung, dass man eine neue Regelung gedenke einzuführen, derzufolge künftig DDR-Bürger ohne besonders begründeten Antrag in den Westen reisen könnten, durch die Nachfrage eines italienischen Reporters – ich sage nur: „Wann“ tritt die in Kraft? – eine unumkehrbare Abstimmung mit Trabbis und Füßen.

Vom damaligen „Ende der Geschichte“ sind wir nunmehr, trotz 2001-Nine-Eleven und nachfolgenden weltweiten Kriegen wie Flüchtlingsströmen, schlafwandlerisch doch irgendwie im „Kampf der Kulturen“ gelandet, auch wenn das derzeit viele nicht hören wollen – ich sage nur: „Wir schaffen das“. Die Deutschen, 1989/90 „das glücklichste Volk der Welt“ – ich sage nur: Mauerfall, Fußballweltmeister, Wiedervereinigung – sind seit einiger Zeit dabei, alles „Nationale“ über Bord zu werfen. Dabei übersehen sie in ihrem Wunsch nach Buntheit und Vielfalt, dass zum Leben und Lebenlassen die jeweils einzelne, also persönlich-individuelle Geburt gehört, welche in ganz handfeste, klar bestimmbare familiäre, sprachliche, religiöse, traditionelle, kulturelle und – nachgelagert – auch staatliche Zusammenhänge hinein sich ereignet. Was der tiefe herzerschütternde und tränentreibende Grund zur Freude 1989 war – ich sage nur: Willy Brandts Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – , soll in der heutigen multikulturell umgeformten Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Wirklich nicht?

Entsprechend wirr ist die Rückseite der Zwei-Euro-Sonderprägung – ich sage nur: Die D-Mark musste in der Verhandlungsfolge „2 plus 4“ dran glauben – zum Mauerfalljubiläum ausgefallen. Die jubelnd hochgereckten Hände vorm Brandenburger Tor mögen den Glücksmoment ansatzweise einfangen; aber eine deutende Grundierung bleibt in dieser künstlerischen Darstellung weitgehend aus.

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Sei’s drum. Wie gut, dass meine Zigarettenbüchse, in welche ich die Tabakwaren stets nach deren Erwerb „sofort“ wegen der mir unerträglichen – ich sage nur: „pädagogisch wertvollen“ – Ekelbilder hineinumsortiere, mit einer unregelmäßig weißgesprenkelten Oberfläche auf blauem Grund eingefärbt ist – ich sage nur „Europa“! Man müsste Latein sprechen können – ich sage nur nati bzw. nasci: geboren werden – , dann wäre gedanklich vieles besser einzuordnen. Denn nicht nur die deutsche Geschichte ist vom 9. November geprägt – ich sage nur: 1848, 1918, 1923, 1938, 1989 – , nein, auch außerhalb unseres Sprachraums ist dieses Datum von Bedeutung.

Am 18. Brumaire VIII, also 9. November 1799 putschten die Gebrüder Buonaparte, Lucien und Napoléon, erfolgreich gegen das Direktorium und erklärten die Französische Revolution offiziell für beendet. Der neue „starke Mann“ – ich sage nur: Konsul, Kaiser, Kriegsherr – hielt das verängstigte restliche Europa noch viele Jahre in blutigem Schach; „das Böseste, was es gibt“ – ich sage nur: Vor dem Sturm (Fontanes erster Roman) – , konnte erst mit dem Wiener Kongress unschädlich gemacht werden. In der politisch bleiernen Restaurationszeit ab 1815 geriet vieles an fraglos positiven, zumindest auf dem Papier existierenden Errungenschaften der Ersten Französischen Republik tragischerweise in Vergessenheit, ja im Lauf des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sogar in Verruf: Die bürgerliche Gleichstellung der Juden gehört dazu …

Der 9. November ist für viele Menschen in aller Welt aber auch ein hoher Festtag, und zwar in der römisch-katholischen Kirche. An jenem Tag im Jahr 324 wurde die Mutter und das Haupt aller Kirchen der Stadt Rom und des Erdkreises feierlich geweiht. Bischof Silvester und Kaiser Konstantin richteten auf dem Baugrundstück der alteingesessenen Familie Laterani ihre Gebete an den Salvator direkt – ich sage nur: Gut evangelisch! – ; die Patrozinien von Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten traten ergänzend hinzu. So kennen wir das Gotteshaus bis heute unter dem Namen San Giovanni in Laterano: Die Lateranbasilika war bis zum Großen Abendländischen Schisma 1309 die Papstkirche. Vom Vatikan war kaum die Rede.

Bau – ich sage nur: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ und Fall – ich sage nur: „O Durchbrecher aller Bande“, unvorstellbar bis zum besagten glorreichen Augenblick – : Beides ist im Blick auf die innerdeutschen tödlichen Grenz- und Sperranlagen gottlob Vergangenheit. Wenn es gegenwärtig so etwas wie zukunftsoffene tatkräftige Ökumene im Sinne einer weltweit und himmelwärts gedachten Ahnung des Unendlichen geben sollte – dann sage ich nur: Seid wachsam und bleibt dankbar.

Foto: Münzfester deutsch-deutscher Freudentaumel. Die Ereignisse am 9. November im deutschsprachigen Raum: 1848 Hinrichtung des Abgeordneten zum Paulskirchenparlament Robert Blum in Wien. 1918 Abdankung des Kaisers Wilhelm II., Ausrufung der Republik in Berlin. 1923: Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München. 1938: Judenpogrome in ganz Deutschland – der Staat als Terror- und Mörderbande. 1989: Fall der innerdeutschen Grenzen – Anfang vom Ende der kommunistischen DDR-Diktatur.

Wer früher schläft, kann länger träumen

Aufgeweckte Menschen haben gut geschlafen, lassen den Tag langsam angehen, machen alles schön bedächtig, freuen sich entweder am sonnigen Morgen oder stören sich jedenfalls nicht, wenn es wider Erwarten regnet, stürmt oder schneit. Unter solchen Voraussetzungen lesen sie Losung, Lehrtext sowie mindestens zwei Zeitungen fast im Fluge. Alles geht derartig leicht von der Hand, dass sich sogar manche ihrer dero zweiten entsinnen und ganz frei harmonisierend einen vierstimmigen Choral am Klavier zuwege bringen.

„Wach auf, mein Herz, und singe“, recht passabel intoniert, später mit Schleifchen versehen, einen Moment weiter schon mithilfe von oktavierten Bässen oder gebrochenen Dreiklangsgirlanden romantisierend aufgemotzt, einmündend in ein Fugato, das – selbst wenn es ausdrücklich ja keinen Anspruch erhebt, eine Fuge zu sein, auch so nicht hält, was es verspricht – irgendwann ebenso extemporiert feierlich wie züchtig im Plagalschluss unter vorheriger Aufbietung sämtlicher Finessen des Organistenzwirns schließlich doch keineswegs schnöde endet, sondern vielmehr hochfein „endigt“.

Solche gut ausgeschlafenen geistes- und musikbeflissenen Leute haben ihrem bevorstehenden Tag bereits einen #tag eingeprägt. Historische Vorbilder könnten dafür etwa diese hier sein: Immanuel Kant (1724-1804), der jeden Morgen ein Gesangbuchlied auf seinem Harmonium spielte; Joseph Haydn (1732-1809), der seine eigene Komposition „Gott erhalte Franz den Kaiser“ am Clavichord variierend intonierte; Frédéric Chopin (1810-1849) und Richard Wagner (1813-1883), die beide sich selbst tagtäglich und richtig buchstäblich „beflügelten“ mit Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier.

Bei so reichlich ausströmender Wachheit sei den Normalsterblichen unter uns spätestens um die Mittagszeit ein erquickendes Nickerchen gegönnt. Mittlerweile wird dies sogar von etlichen Chefs den eigenen Mitarbeitern nachhaltig im Format power-napping freundlichst anempfohlen. Nützlichkeitserwägungen mögen da eine nicht unerhebliche Rolle spielen, soll doch der Untergebene möglichst lange funktionieren. Dennoch wäre es falsch, von gewerkschaftlicher Seite aus diese unterstellt paternalistische Geste bekämpfen zu wollen; denn jede Schlafmöglichkeit bringt ja auch Träumereien mit sich. Wer die Augen schließt und subversiv zugedeckt ruht, sieht innerlich eine andere Welt.

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Da schlummert Potenzial. Es regt sich Utopia. Das Nirgendwo, der Sehnsuchtsort, die ideale Stadt meldet sich bei jenen, die so frei sind. Und was genau sehen diese Menschen?

Wer früher schläft, kann länger träumen

Tief in ihrem Inneren rumort es gehörig. Zwar imaginieren sie augenscheinlich lauter Harmlosigkeiten wie zum Beispiel hochgebaute mittelalterliche Städte mit gotischen Kirchen und buntgeschäftig erfüllten gewölbten Laubengängen unter milder Aufsicht einer im prächtigen Rathaus ebenso selbstbewusst wie verantwortungsvoll regierenden Bürgerschaft. Handel und Wandel sind geprägt durch zünftig produktives Geschick und phantasievoll schöpferisches Künstlertum, einhergehend mit kulturellem Schwung, der seinerseits in frommer Dankbarkeit wurzelt.

Doch ehe unsere gedachten Schöngeister vollends dem Mythos und der Mystik frönen, nur weil sie im Wachzustand allzuviel Musik inhaliert haben, machen sie schon wieder ihre Äuglein auf, erinnern sich allerdings nachhaltig ihrer inneren Bilder und nehmen diese mit in die Fortsetzung ihres real existierenden Alltags. Dort können die sich zu kritischen Begleitern entwickeln. Vielleicht verhindern sie in bester Weise, der bisweilen drängende Versuchung eines vorzeitigen Ausstiegs nachzugeben; denn solche Tagträume rufen freie Assoziationen hervor wie die schenkelklopfend-krachlederne Aufforderung „Freut euch des Lebens!“ – oder die aus Hörspielen und Filmen bekannte perspektivisch-umgekehrte Memento-mori-Mahnung „Wer früher stirbt, ist länger tot.“

Frohsinn und Furchtsamkeit gleichermaßen bewahren vor unnötig panisch inszeniertem Exodus und Exitus. Wer Traumbilder mit sich trägt, lässt sich auch selber tragen, vielleicht gar besser ertragen: von ihnen und den mit selbigen verbundenen Gedanken und Gefühlen. Wenn irgendwann tatsächlich der Tod von sich aus kommt, dann als des Schlafes Bruder. Eigenartigerweise sind in dieser Weisheit altgewordenes Heidentum und junggebliebenes Christentum in- , mit- und untereinander tief verbunden. Hier treffen sich Athen, Rom und Jerusalem. Raffael-Stanzen und Nazarener-Malereien machen sich die Antike beziehungsweise das Mittelalter idealtypisch zueigen und bezeugen in ihren Aktualisierungen wie Historisierungen eine traumwandlerische Wahrhaftigkeit. Renaissance und Romantik müssen, so gesehen, keineswegs nur als Gegensätze aufgefasst werden.

Hier wie dort, bunt aber passgenau wie in einem Saal mit durch Petersburger Hängung präsentierten Gemälden, ist schlicht Geduld innen und außen angesagt. Human und religiös lässt sich womöglich doch das Leben meistern, allen widerstreitenden kurzatmig-tagespolitischen Einreden zum Trotz. Idealbilder auf der Höhe des Tages formen eine innere Kunsthalle, Gesänge der Frühe untermalen die Eindrücke weit und breit bis hinein in die Dimensionen sphärischen Tonhalls. Und was sich schön ausformt und darin kräftig nachhallt, verschafft nicht nur Form und Inhalt (!) neue Bahnen, sondern stärkt hallend-haltgebend auch genau jenes nachdenkliche Publikum, das aus Leuten sich zusammensetzt, denen Kunst und Kultur nicht bloßes und notfalls verzichtbares Beiwerk ist, sondern stets anregendes Lebenselixier.

Des Abends gehen unsere solcherart erweckten Menschen dann auch flugs und fröhlich schlafen. Unverwüstliche Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ und „Guten Abend, gute Nacht“ beschließen ihr Tagewerk, wie auch immer dieses sich im einzelnen gestaltet haben mag. Beim Abschied vom Tag mag als Losung und Lehrtext der Satz gelten: Wer früher schläft, kann länger träumen. Dieses Motto begrenzt unter Umständen einigermaßen vernünftig abrundend die Bettlektüre – zu deren und eigenem Gewinn … Frau Luna glänzt und bereitet zugleich leise sehnend die bald wiederkehrende Zeit der Aurora vor: So hält sie Erinnerung und Erwartung wach, unwiderstehlich bis zum nächsten Morgen, ganz frisch und neu.

Fotos: Schlummerstündchen nach Besichtigung einer Ausstellung in der Kunsthalle zu Emden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Platte(n-)Tektonik

Bevor aus den lärmenden Fankurven von Künstlertochter Greta („schlimmste Krise der Menschheit“) und Pfarrerssohn Rezo („Zerstörung der CDU“) der gemeinsame apokalyptische Abgesang mit Unterstützung von deren höchst eigentümlichen Panikorchestern (ohne sich auf Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ berufen zu können) in unfreiwillig urdeutschester Manier („Waldsterben“, „saurer Regen“, „Ozonloch“) erschallt, möchte ich hier zu guter Letzt („das Ende ist Nahles“) in aller Plattheit ganz andere Zusammenhänge kurz („Sebastian“) noch zum Besten geben.

Man soll ja ruiniert rüberkommen. Die Plaza von Laodizäa mit ihren Säulenstümpfen auf dem Hochplateau der piazza strahlt im morgendlichen Nebel genau jene zielgerichtete Morbidität aus, die Lust auf weitere Katastrophen macht:

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Solch griechische Tragödie setzt sich von Kleinasien und Attika dann durch die Jahrtausende unausgesetzt fort bis ins heutige Zeitalter der Containerterminals an den Piers von Plattdeutschland. Die bös amerikanisierte Waterkant von Bremerhaven ist da eines der abschreckendsten Beispiele. Höchste Zeit also, dass Kreti und Plethi abgelöst werden durch Greti und Rezi. Wirtschaft war gestern; jetzt kommen Gretifikation und Rezolution endlich zu ihrem Kinderrecht. Da muss jeder Kranwahn endgültig, blitzschnell und eiskalt zermalmt werden.

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Antike von rechts, Industriezeitalter von rechts … äh nein, von links – in unterschiedlichen Spurgrößen zwar [ab jetzt: Ironie off], aber perspektivisch durchaus kombinierbar mit den piatti beim Letzten Abendmahl des Leonardo da Vinci. Indem ich hier eine Reproduktion aus einem oldenburgischen Gesangbuch des neunzehnten Jahrhunderts einrücke, bekenne ich mich ausdrücklich zu jenem großartigen, aber in unverschuldet heftigen Misskredit geratenen Kulturprotestantismus, dem kein Zacken aus der Krone brach, wenn er (Achtung, hier werden nun lauter römisch-katholisch sozialisierte Autoren bzw. deren Werke aufgezählt:) Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem oder Beethovens Missa solemnis ebenso zur Aufführung brachte wie die Kuppel der vatikanischen Peterskirche, die Geburt der Venus von Botticelli oder eben besagtes Fresko aus dem Refektorium eines Mailänder Klostergebäudes zu Vorbildern eigenen künstlerischen Schaffens machte.

leonardo abendmahl

Liebe Leserinnen und Leser, die Frage an Sie und Euch lautet nun: Können Verbindungen unter den drei Abbildungen in diesem Text hergestellt werden? Denken wir uns die Welt noch als festgebackene Pizza oder doch schon als bewegliche Kugel? — Da Mitmachaktionen erfahrungsgemäß aber immer noch, trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts, schleppend bis gar nicht anlaufen, teile ich im folgenden schon mal einige Lösungsansätze mit. Wer präferiert was?

Erstens:

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Zweitens:

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Drittens:

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Für weitere Anregungen wäre ich dankbar. Unser 500-Jahres-Gedenkmann war schließlich nicht irgendwer; die Technik hat ihn ebenso begeistert wie die Antike. Beides kulminiert bei ihm in einer kühnen Interpretation christlicher Überlieferung. Etliche Linien führen direkt dorthin und perspektivisch weit darüber hinaus. Der Renaissancemensch lebt im übrigen bei uns weiter (denn die Geschichte schritt ja fort) in seinem optimistischen Humanismus, in den Spuren von Athen, Rom und Jerusalem.

Fazit: Bevor wir in der Mitte Europas uns zopfig gretagrünschnablig und haarig rezoblauäugig von derselben mit furchtbar deutscher Gründlichkeit gewaltsam lossagen wollten, wäre es vielleicht angebracht, doch noch einmal innezuhalten. Das entspräche nicht nur den besten romantischen Gedanken, die unsere Kultur ja auch hervorgebracht hat; es wäre zudem allem Denken, Reden und Tun angemessen, welches ein menschengemachtes Beben in unserer kulturellen Plattentektonik wenn nicht absolut verhindern so doch mit freundlich langem Atem abmildern bis entschärfen könnte.

Wort Gottes und Heilige Schrift

Wer sich von den für „zeitgemäß“ erachteten Forderungen, was „Kirche“ alles „muss“, einwickeln lässt, sollte nicht vergessen, wo eigentlich die Basis ist. Besinnt man sich auf diese Frage, dann landet man unweigerlich beim sogenannten Buch der Bücher, bei der Bibel, der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Um überhaupt auf dieses fürs christliche Selbstverständnis grundlegende Faktum bloß erst einmal hinzuweisen (nicht mehr und nicht weniger), gibt es hier nun Abschnitte zu lesen, die vielleicht am treffendsten als Sprechzettel zu bezeichnen wären.

Notizen haben etwas Apodiktisches. Sie sollen zu rhetorischen Höhenflügen führen. Zugleich dienen sie der eigenen Vergewisserung, was lexikalisch immer und jederzeit und überall abrufbar ist. Das gibt jeder Präsentation auch ohne Powerpoint und trotz allem Informationsgehalt zwar etwas Einseitiges und Beschränktes; zugleich kann solch ein Vortrag jedoch anregend wirken und zum Widerspruch reizen. Also:

Gott ist nur aus seinem Wort zu erkennen. Wir sehen ihn nicht, aber wir können ihn hören. Was die Propheten von ihm vernommen haben, ist aufgeschrieben im Alten Testament. „Höre des HERRN Wort“ ist häufig Einleitungsformel für eine prophetische Weisung. Diese Erkenntnis Gottes im biblischen Kanon ist schon in der Schöpfungsgeschichte vorausgesetzt: Auf das Wort Gottes hin wird alles geschaffen: „Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.“

Die Theologie Israels verstärkt nach Landnahme und Tempelbau diese Anschauung. Gott wird gepriesen in Liedern, die vor allem im Buch der Psalmen auf uns gekommen sind. Der singende Mensch im Gottesdienst antwortet in dieser Weise auf den klingenden Anspruch Gottes.

Wort Gottes und Heilige Schrift

Allmählich werden die prophetischen Aussprüche, die Erzählungen von Schöpfung, Vätergeschichten, Auszug aus Ägypten und Wüstenwanderung, Einzug ins Gelobte Land, Sesshaftwerdung, die Chroniken von Richtern und Königen, dazu Gesetzessammlungen, Weisheitssprüche, Lieder und Gebete zusammengetragen und im Kanon der Hebräischen Bibel geordnet. Die ersten fünf Bücher Mose gelten als „Thora“ („Weisung“); sie sind bis heute im Judentum der wichtigste Teil der Offenbarungen Gottes.

Im späten vorchristlichen Altertum wird der hebräische Text in die damalige Weltsprache Griechisch übersetzt. Dieses griechische Alte Testament wird „Septuaginta“ genannt, weil die Legende von siebzig Übersetzern berichtet, die unabhängig voneinander dem Herrscher in Alexandria wortgleiche griechische Textfassungen abliefern.

Nicht mehr einzelne Zitate gelten als Wort Gottes, sondern die Gesamtheit der schriftlichen Überlieferung vom Glauben an den Gott Israels firmiert als „Wort Gottes“. Damit ist die Heiligkeit des Wortlautes, ja des einzelnen Buchstabens gegeben. Der Gedanke der „Verbalinspiration“, dass also Gottes Geist Wort für Wort den Schreibern diktiert hat, kommt bereits im Judentum vor Christi Geburt auf.

In Ägypten unter den griechischsprechenden Juden sind noch weitere biblische Bücher im Umlauf, die man später „apokryph“ („verborgen“) nennt. Sie werden nicht in den hebräischen Kanon aufgenommen (z. B. Jesus Sirach, Tobias, 1. / 2. Makkabäer, Stücke zu Daniel).

Die ersten Christen leben mit der griechischen „Septuaginta“. Aus dieser Fassung der jüdischen Bibel zitieren die Evangelisten überwiegend. Der Gedanke der Jungfrauengeburt ist zum Beispiel der griechischen Übersetzung entnommen. Aus dem Gottesdienst der Synagoge übernehmen die Christen das Singen und Beten der Psalmen Davids. Im Umgang mit diesen Texten verstehen sie Kreuz und Auferstehung Jesu als „geweissagt durch Mose und die Propheten“.

In Anlehnung an die Messiasverheißungen des Alten Bundes entstehen im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt die Schriften des Neuen Testaments. Die Briefe des Apostels Paulus sind die ältesten erhaltenen schriftlichen Erzeugnisse des Urchristentums, entstanden zwischen 50 und 60 nach Christus. Unter den Evangelisten trägt als erster Markus um 70 n. Chr. Berichte und Worte Jesu im größeren Rahmen zusammen, darauf  bauen Matthäus (um 80) und Lukas (um 90) auf. Unabhängig von diesen schreibt Johannes (um 100) sein Evangelium. Der erste Satz „Im Anfang war das Wort“ erinnert an die Schöpfungsgeschichte: Das Wort Gottes hat Gestalt angenommen, es ist „Fleisch“ geworden, sein Name ist Jesus Christus.

Das Neue Testament ist von vornherein in der Umgangs- und Verkehrssprache des östlichen Teils des Römischen Reiches auf griechisch abgefasst. Schon sehr bald gibt es auch Übersetzungen in die koptische, armenische, georgische und lateinische Sprache. Nicht der einzelne Buchstabe ist „heilig“, sondern der Sinn der Worte: Es geht um die Botschaft von Jesus Christus, die bereits seit dem ersten Pfingstfest (Apostelgeschichte 2) vielsprachig und vielgestaltig ist.

Im Laufe des vierten Jahrhunderts entscheidet man endgültig, welche Schriften zum Kanon gehören und welche nicht. Bis dahin ist vieles im Fluss. Das betrifft vor allem die Offenbarung des Johannes, aber auch den Hebräerbrief und andere kleinere neutestamentliche Schriften. Ein Anstoß, überhaupt diese Frage zu klären, geht seit dem zweiten Jahrhundert von den sogenannten „Gnostikern“ aus, die radikal alles Jüdische aus dem Kanon verbannen wollen. Dagegen verwahrt sich die verfasste Kirche schließlich mit Erfolg.

Die Frage, wie die biblischen Texte unter den sich wandelnden Zeitumständen angemessen zu verstehen sind, führt schon in den ersten christlichen Jahrhunderten zu Auslegungen und Kommentaren durch Prediger, Bischöfe und Gelehrte, die sogenannten Apostolischen Väter und die Kirchenväter. Zunächst sind hier die griechischsprachigen Theologen federführend; ab dem dritten und vierten Jahrhundert verschiebt sich der theologische Schwerpunkt nach Westen in die lateinischsprachige Welt hinein.

Sind die griechischen Kirchenväter eher an philosophischen Fragen in ihrer Bibelauslegung interessiert – etwa in Hinsicht auf die Dreieinigkeit oder das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem in der Person Jesu Christi – , so beschäftigen sich lateinische Kirchenväter wie Ambrosius oder Augustinus mit Fragen der praktischen Lebensführung, der Stellung der Kirche in der Welt oder den Aufgaben von Staat und Gesellschaft.

Als Normalausgabe der Bibel gilt im Westen die lateinische Übersetzung des Hieronymus aus dem vierten Jahrhundert, auch wenn dies kirchenamtlich erst auf dem römisch-katholischen Konzil zu Trient (zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) bestätigt wird. Hieronymus ist für die folgenden tausend Jahre der letzte große Theologe, der das Alte Testament unter Zuhilfenahme des hebräischen Urtextes übersetzt.

Die vorreformatorischen deutschen Übersetzungen von Teilen der Bibel fußen auf dieser lateinischen Fassung des Hieronymus, der sogenannten „Vulgata“. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks werden hebräischer und griechischer Urtext wieder zugänglich. Luther hat seine Bibelübersetzung aus den Ursprachen erstellt.

Gegenüber dem amtskirchlichen Bibelverständnis (Schlüssel- und Lehramt des Apostels Petrus, siehe Matthäus 16 und 18) gibt es andere Zugänge. Besonders das Mönchtum der Wüstenväter (Antonius) und die großen Orden des Mittelalters (Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner) versuchen, ihre – andere – Art zu leben mit den „Evangelischen Räten“ bzw. mit der Bergpredigt zu begründen.

In diese Richtung gehen auch verschiedene vorreformatorische Volksbewegungen innerhalb der mittelalterlichen Kirche (so die Waldenser oder die Böhmische Brüder). Hier findet sich teilweise offener Widerspruch zur großkirchlichen Ordnung, hier werden erstmals Forderungen nach der Bibel in den Volkssprachen, nach jeglicher Absage an Waffengewalt (so das Verständnis von Matthäus 5) oder auch nach dem sogenannten Laienkelch („Trinket alle daraus“) laut.

Im Zeitalter der Reformation rückt die Frage nach dem „Kanon im Kanon“ in den Blickpunkt der Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der Bibel. Für Luther und seine Anhänger ist es die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben (Römer 1, 16f; 3, 21-28), die das spezifisch „Evangelische“, nämlich die Rettung vor dem Tod durch Christus den Gekreuzigten und Auferstandenen. Damit wird die Heilsautorität der Kirche radikal abgelehnt. Kirche wird als „Gemeinschaft der Heiligen“ im urchristlichen Sinne verstanden und mit den entsprechenden Bibelstellen begründet.

Gegen das typisch evangelische „Allein die Schrift“ (lateinisch: sola scriptura) setzt das römisch-katholische Konzil von Trient (Tridentinum) die Parole: „Schrift und Tradition“. Das meint: In den dogmatischen Entscheidungen der Konzilien sowie des Bischofs von Rom, also des Papstes, wird eigentlich nur dasjenige weiter ausgeführt und erläutert, was auf der Grundlage der Heiligen Schrift sowieso „von allen zu allen Zeiten an allen Orten“ (Vinzenz von Lerinum, fünftes Jahrhundert) geglaubt worden ist. Dagegen sagen die Protestanten: Auch Konzilien können irren. Die Auslegung der Bibel erfordert eigenes Nachforschen und Nachdenken. Darum ist den reformatorischen Kirchen seit jeher so viel an Bibelübersetzungen in die jeweilige Volkssprache gelegen.

Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts beginnt die historisch-kritische Erforschung der biblischen Bücher. Von relativ einfachen Feststellungen (etwa: Die fünf Bücher Mose können nicht von Mose selbst geschrieben worden sein, weil an deren Ende von seinem Tod berichtet wird) bis hin zu komplizierten Theorien über unterschiedliche Spruch- und Schriftquellen (vor allem in den Evangelien die Frage: Was an Aussprüchen stammt vom „historischen Jesus“ und was ist spätere Gemeindebildung?) spannt sich bis heute der Bogen biblischer Auslegung.

Gegen die Intellektualisierung des Umgangs mit der Bibel in historischer Forschung und in der Dogmatik auch der altprotestantischen Geisteshaltung entstehen  seit dem siebzehnten Jahrhundert erweckliche Bewegungen. Für sie ist wichtig, dass das Wort Gottes, wie es im biblischen Wortlaut sich darbietet, direkt zum Herzen des einzelnen spricht. Beispiele: Herrnhuter Brüdergemeine; Täufergemeinden (woraus später die Baptisten hervorgehen); pietistische Hauskreise & cetera. Bei den Methodisten wird das persönliche Bekehrungserlebnis wichtig.

In der heutigen Zeit gibt es im deutschsprachigen Raum keine grundlegenden Unterschiede mehr zwischen evangelischer und katholischer Auslegung der Heiligen Schrift. Einerseits sind die Protestanten vorsichtiger geworden, ob die Rechtfertigungslehre tatsächlich das Herzstück biblischer Verkündigung ist; andererseits haben Katholiken längst akzeptiert, dass die biblischen Erzählungen nicht einfach sagen wollen, wie es damals zur Zeit Jesu war, sondern vieles von ihrer eigenen Gemeindesituation in die Geschichten eintragen. Zudem ist allgemein anerkannt, dass die Menschen zur biblischen Zeit ein ganz anderes Weltbild hatten als wir, die wir im Zeichen der Kopernikanischen Wende seit bald fünf Jahrhunderten leben (müssen).

Dieser exegetische Konsens wird jüngst wieder in Frage gestellt. Nicht nur Ratzingers Jesus-Bücher, sondern auch Anregungen gesellschaftspolitischer, religionskundlicher, archäologischer, historischbesserinformierter, jüdischchristlichdialogischer, feministischer, gendergerechter oder umweltbewusster Zeitgenossen lassen die „Klassiker“ der protestantischen Bibelauslegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, namentlich geprägt durch Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack, Karl Barth und Rudolf Bultmann samt ihren Schülerinnen und Schülern, mittlerweile schon wieder alt aussehen.

Die Frage erneuert sich mit den Zeitläuften, inwiefern dogmatisch-erhabene und zugleich exegetisch-detaillierte Beschäftigung mit der Bibel das Wort Gottes stets bezeugt. Solange diese Welt so unvollkommen daherkommt, wie sie nun einmal ist, wird sie deshalb ohne philologisch und hermeneutisch geschulte Theologieversuche schwerlich auskommen.

Abbildung: Beginn von Psalm 1 in der Hebräischen Bibel.

 

 

 

 

 

 

Kapitolinische Kapitulation

„Alle Wege führen nach Rom“ – niemand kommt an der Roma aeterna vorbei, und das gilt bereits seit nunmehr rund drei Jahrtausenden. Mit dem Zweizeiler „Sieben-fünf-drei: / Rom kroch aus dem Ei“ erinnert die deutsche lateinpädagogische Spruchweisheit an die beiden Gründungsbrüder Romulus und Remus, die von einer Wölfin aufgezogen wurden. Die entsprechende Freiluftplastik ist auf dem Kapitolshügel zu sehen. Niedersächsische Wolfsberater mögen dies für ihre Arbeit zu vereinnahmen wissen, sofern sie diese Legende noch kennen. Aber seit dem Jahr 753 vor Christi Geburt ist eben in der „Ewigen Stadt“ allerhand Sonstiges passiert. Zum Beispiel wurden im kapitolinischen Senatspalast Anno Domini 1957 (also nach Christi Geburt!) die „Römischen Verträge“ unterzeichnet. Keine sechzig Jahre ist das jetzt her. Rom ist Europa, und deshalb ist es so bedenklich, was sich jüngst dort zutrug.

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Auch den Präsidenten der Islamischen Republik Iran nämlich führte ein Weg nach Rom. Italien sei für die ölreiche und wieder in die internationale Staatengemeinschaft aufgenommene Regionalmacht am Persischen Golf einer der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner der westlichen Welt, hieß es. So machte also der weltliche Repräsentant eines von einem „geistlichen Oberhaupt“ kontrollierten Landes jener mondänen Kapitale seine Aufwartung, wo ebenfalls ein heutzutage säkular-republikanisches System Tür an Tür mit einem religiös-monarchischen Regiment wohnt. Aber – im Gegensatz zum Mullahregime in Teheran – seit 1929 in zwei völlig voneinander unabhängigen Staaten! Weltweit einmalig. Wie unterschiedlich die Repubblica Italiana und die Città del Vaticano agieren, zeigte sich im Umgang mit dem schiitischen Gast.

In Italien mussten es unbedingt die Kapitolinischen Museen sein, den iranischen hohen Herrn zu empfangen. Welch eine Gelegenheit, die dortigen Götterstandbilder aus der griechisch-römischen Antike, gesammelt seit den Zeiten der Renaissancepäpste, zu präsentieren! Jene weiblichen wie männlichen Idealmenschen, die, in Stein gehauen oder in Gips modelliert, vom abendländischen Humanismus so begeistert wiederentdeckt wurden und seitdem der gesamten zivilisierten Menschheit als Maßstab für Schönheit, edle Einfalt und stille Größe gereichen. Aber nun hatte man im Vorfeld des Besuchs gehört, dass Freizügigkeit überhaupt im Orient tabu sei. Die Regierung von Bella Italia sorgte deshalb dafür, dass die Statuen komplett unsichtbar wurden, eingehegt in hölzerne Schrankwandgevierte, anzusehen gleich aufrecht stehenden Särgen. Bloß dass die iranische Delegation nichts sehen müsse von dem, was in normalen Zeiten den Stolz der Stadt und des Erdkreises ausmacht.

Ganz anders die Visite beim römischen Bischof: Papst Franziskus und Präsident Ruhani posierten aufgeräumt vor einem Gemälde, das die Auferstehung Christi zum Thema hat. Wäre das nicht eigentlich die größere und schwerwiegendere Zumutung für den hochgestellten Muslim gewesen? Zwar wird im Islam Jesus als der bedeutendste Prophet vor Muhammed verehrt, man weiß sogar, dass Isa als Sohn der Maria ein Jungfrauenkind ist – aber bei Karfreitag und Ostern scheiden sich die Geister dann doch in höchstem Maß. Und dennoch begab sich der Repräsentant eines Staates, der einmal angetreten war, für alle Muslime dieser Welt zu sprechen, offensichtlich unaufgeregt unter ein Bild, das eben dieses Urereignis der christlichen Botschaft darstellt. Political correctness hätte doch hier eine vollständige Bedeckung des Motivs mit sichtundurchlässigem Stoff einfordern müssen, oder?

Diese unterschiedlichen Umgänge mit ein und demselben Gast lassen sich womöglich allzu rasch erklären. Italien scheint sich, wie so viele europäische Staaten, nun auch völlig unterworfen zu haben – durchaus im Sinne einer sousmission Houellebecq’scher Dimension, mit einer selbstauferlegten „politisch korrekten“ Zurücknahme und Verleugnung, die sowohl den „neuen Rechten“ als auch den Islamisten in die Hände spielt; und die andererseits alle in der Nachfolge der wirklich idealistischen Europäer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Schlagbäume niederrissen, ratlos und traurig zurücklässt. Der Vatikan hingegen steht felsenfest zur abendländischen Tradition. Dieser gehört eben nicht nur Theologie und kirchengeschichtlich Gewordenes zu, sondern alle Kunst und Kultur, die im Christentum irgendwann Geltung erlangt hat, die vorchristlichen Zeiten unbedingt einbeschlossen. Was wir als „europäische Werte“ mittlerweile allzuoft nur noch als inhaltsleere Monstranz vor uns hertragen, aber bei jeder heiklen Situation dann doch ängstlich verstecken, das wirkt – ich als Lutheraner in heutigen Zeitläuften muss das neidlos anerkennen – im römischen Kirchensystem unerschrocken selbstverständlich und daher beeindruckend standhaft einfach weiter.

Wir stehen an einer Wegscheide. Europa, das wird an diesem römischen Vorfall deutlich, darf niemals identisch werden mit dem, was in Brüssel oder ferngelenkt in Amerika vorentschieden wird. Was uns durch die Römischen Verträge einst zugesichert wurde, war ein Kontinent in Frieden und Wohlstand mit Grundlage der christlichen Kultur, einschließlich ihrer Vorboten und Nachwirkungen. Das heißt aber auch, dass wir mit all dem uns selbst ins Abseits befördern, was wir für Vertreter anderer Kulturen aus eigener Initiative heraus, in vorauseilendem Gehorsam,  als „peinlich“ oder „diskriminierend“ oder „nicht wertschätzend“ bloß vermuten und vermeinen. Als eine Kapitulation entlarvt sich solch ein – von geistreichen Zeitgenossen treffend benannt: – „betreutes Denken“, das zum Lachen wäre, wenn es nicht so böse Folgen nach sich zöge. Denn wer sich verkriecht, aus Furcht, er könne anecken, hat schon verloren.

Kenner der nahöstlichen Welt sagen uns jeden Tag, wie sehr die Menschen aus jenen Gefilden sich über die sogenannten Gutmenschen unter uns lustig machen. Und es bleibt dann nicht beim harmlosen Spott, sondern es entwickelt sich eine Respektlosigkeit, die kein Mensch wollen kann, wohnt in ihm noch ein Funke von geistig-energischem Wahrhaftigkeitsstreben in Hinsicht auf gottesfürchtige Barmherzigkeit und weltbürgerliche Humanität. Nur so lassen sich kleinkarierte Ängstlichkeit und brutaler kultureller Ausverkauf stoppen. Es wäre für unseren guten alten Kontinent jammerschade, wenn alle künftigen Wege ins schöne Rom vor dummen hölzernen Verschlägen endeten. Holzwege kennt die Welt schon mehr als genug.

 

 

 

 

 

Merkel, Malu, Mali

Wir leben in seltsamen Zeiten. Noch nie war in Deutschland das beamtete Christentum so stark in den oberen Rängen vertreten. Unser Bundespräsident war früher einmal Pfarrer, unsere Bundeskanzlerin ist Pfarrerstochter. Und dennoch ist der christliche Glaube in unserem Gemeinwesen auf dem Rückzug. Von einer Theokratie kann also niemand sprechen. Alle Kirchenkritiker sollten wissen, dass eben trotz Herrn Gauck und Frau Dr. Merkel unser demokratischer Staat weiterhin reibungslos funktioniert. Allenfalls irritieren müsste, dass das christliche Bekenntnis denn doch so wenig in den Köpfen und Herzen der bundesdeutschen Bevölkerung präsent ist. Wie anders ist es zu erklären, dass viele Bürger ehrenamtlich in der Flüchtlingskrise helfen, ohne aber kirchlich affin zu sein? Und was ist von Leuten zu halten, die sich über „Religion“ echauffieren und dennoch ihren Beitrag leisten, um den Migranten zu helfen?

Vielleicht wirkt hier eine Form der Aufklärung nach, die sich dem, wagnerisch gesprochen, „Reinmenschlichen“ verschrieben hat. Ja, richtig gelesen, „wagnerisch“. Ich meine tatsächlich Richard Wagner, von dem ja mittlerweile die Saga umgeht, er sei ein Nazi gewesen. Aber wer im Jahre 1883 das Zeitliche segnete, wird kaum für deutsche Untaten des zwanzigsten Jahrhunderts haftbar gemacht werden können. Und wir müssen uns eben den Wagner denken, der 1849, nach dem Aufruhr in Dresden, steckbrieflich gesucht wurde als ein Anhänger der 48er-Revolution. Dass er ein besonders frommer evangelischer Christ gewesen sei, ist eine andere Frage. Aber er entstammte eben diesem geistigen Milieu, als Thomasschüler in Leipzig, als Komponist des für die Dresdner Frauenkirche bestimmten „Liebesmahls der Apostel“, als Schöpfer des nicht vertonten eigenen Versepos „Jesus von Nazareth“, als „Lohengrin“, „Meistersinger“ und „Parsifal“. Sein „Holländer“ ist ohne Mendelssohns „Elias“ nicht zu denken, einmal abgesehen vom lutherischen Impetus im „Rienzi“ und im „Tannhäuser“ –  oder von der Bachschen Polyphonie im Nürnberger Drama, im „Tristan“ und im gesamten „Ring“. Wenn jemand Aufklärung popularisiert hat in Deutschland, dann waren es Wagner und seine Mitstreiter. Das kirchliche Christentum wurde bei ihnen geweitet in eine Weltanschauung, die sowohl dem wissenschaftlich Zweifelnden als auch dem künstlerisch Begeisterten Heimat verschaffte. Manchmal wird das als „Menschheitsreligion“ bezeichnet.

Goethe, Kant und Mozart waren dafür „Urväter“ und Vermittler, Schleiermacher, Hegel und Beethoven folgten ihnen auf je ihre Weise nach. Lessing, Leibniz und Bach gingen ihnen voran, und niemand von diesen Großen hätte sich nur im entferntesten vorstellen können, dass diese Form von Bildung und Anstand in der Katastrophe des sogenannten „Dritten Reichs“ enden würde. Wäre man doch nur beim „Ersten Reich“ geblieben, jenem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das 1806, einfach so mitten in den Sommerferien, aufgelöst wurde … Aber wir wollen ja nicht klagen. Es ging weiter, und nun haben wir es heute mit einer Kanzlerin zu tun, die, gut evangelisch, Gutes mit Gutgemeintem vermengt, vermischt und am Ende verwechselt.

Es ist die „Alternative für Deutschland“, die nun alles durcheinanderbringt. Diese Partei hatte sich zunächst durch ihre Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung bekanntgemacht. Mittlerweile hat sie sich ihrer finanzpolitischen Elite entledigt und zeigt ihre Pegida-Fratze. Aber in diesem abscheulichen Tun legt sie den Finger in die Wunde eines abgehalfterten Europa, das zwar immer von „Werten“ spricht, zugleich jedoch die eigenen christlichen Errungenschaften in Abrede stellt. Die „politische Korrektheit“ greift derart um sich, dass das Reichsmuseum zu Amsterdam nun beispielsweise meint, alle irgendwie als anstößig empfindbaren Titel unter unsterblichen Rembrandtgemälden verändern zu müssen. Wie doof ist das denn?

Hier im föderalen Deutschland  entblödet sich eine Ministerpräsidentin nicht, einer „Elefantenrunde“ einen Korb zu geben, weil eben unliebsame andere Parteien ihre Vertreter in die Sendung des Südwestrundfunks schicken könnten. Liebe Frau Malu Dreyer, Sie sind einfach nur feige. Wenn Sie schon Böses ausgemacht haben wollen, dann stellen Sie sich doch furchtlos und engagiert und argumentativ super bewaffnet diesen Gegnern! Wahlkampf ist etwas anderes als eine jener schrecklich langweiligen neudeutschen Podiumsdiskussionen, auf denen sich am Anfang wie am Ende alle immer nur liebhaben!

Schließlich, nach Merkel und Malu, ist noch eines geschundenen Landes zu gedenken. Aus ihm kommen meines Wissens kaum Flüchtlinge hierher. Aber sie wären unbedingt willkommen, sollten sie sich aus ihrem Land auf den Weg machen. Dort, in den Bibliotheken, lagert literarisches, philosophisches und musikalisches Weltwissen. Es ist die Tragik unserer Zeit, dass wir vor lauter Islamhasserei diesen kulturellen Schätzen keine Aufmerksamkeit, kein Nachdenken, kein Gehör schenken. Dabei wäre es die Mystik, die alle Religionen versöhnen könnte. Da ist die jüdische Kabbala, die christliche innere Versenkung, die islamische Sufi-Bewegung. Seit Jahrhunderten. Von Mali aus wäre ein neuer Aufbruch doch zumindest denkbar. Oder? Weltmusik ist dort entstanden, die sich mit Psalmodien und Choralmelodien verbinden kann und auch international bereits verbunden hat. Wäre nicht die Musik, als echtes einmaliges Zeugnis des Abendlandes, bereit, sich mit ihren Vorfahren aus Jerusalem und Timbuktu zu vereinigen?

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Alles das ist möglich, wenn wir hier in Deutschland uns der eigenen christlichen Wurzeln bewusst bleiben. Denn man ist immer stark, wenn der eigene Glaube gepflegt wird. Eine „Islamisierung des Abendlandes“ muss niemand befürchten, der sich dem erlernten Christentum widmet und treu zu ihm steht. Pegida und die neuen Nazis halten nichts von den Kirchen – so wenig wie weiland die Machthaber des Dritten Reichs und der „DDR“. Und, meine lieben Kirchenleute, leider muss daran erinnert werden: Das Gutgemeinte ist nicht immer automatisch gut. Flausen im Kopf gehen an der Realität vorbei. Im übrigen gilt allen, die Merkel, Malu und Mali uneingeschränkt toll finden oder sie andererseits total ablehnen, das Wort, das einst auf Willy Wolke gemünzt war und uns immer wieder realpolitisch traurig macht, seitdem sein Urheber – wider Erwarten – dann doch mit 96 Jahren verstarb: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Abbildung: Detail aus „Madonna mit Kind und musizierenden Engeln“, Lombardische Schule um 1500, auf dem Schutzumschlag zu: Musica. Geistliche und weltliche Musik des Mittelalters. Herausgegeben von Vera Minazzi unter Mitarbeit von Cesarino Ruini. Aus dem Italienischen, Englischen und Französischen übersetzt von Yvonne El Saman. Freiburg im Breisgau 2011.