Nietzsches Geburtstag wurde mal wieder vergessen

Vor zwei Jahren konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (*15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen / + 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Erst recht gilt dies für eine diesjährige Ehrung zum Hundertsiebenundsiebzigsten!

Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute immer noch oftmals jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie „Herrenmoral“ und „Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit („… vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen („Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch jedem politisch selbstverorteten dezidiert Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als – sagen wir: – Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren: – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass habe ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus all dem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen … Allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (*1813 in Leipzig / +1883 in Venedig), der ihm da auf die Schliche kam. Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein „Fall Wagner“ ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat der zutiefst gekränkte Nietzsche sich intellektuell nie wieder richtig erholt.

Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der Schüler in Schulpforta (Naumburg a.S.) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen.

Unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. „Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitschuf, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon und dachte bei mir: Dann kann er ja gar nicht so deutschtümelnd-herrisch sein! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik macht wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie nun einmal ist! Mich begeistert diese schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bedient: Das steigert den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Hier bricht sich ein fröhlich enthemmter Freigeist seine Bahn, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere. „Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch „Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser „Anklage“ ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen „Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche trotz aller Widersprüche dankbar anerkennt.

Wer sich auch heute in tumben Coronazeiten für unkonventionelle Wahrheiten und unzeitgemäße Betrachtungen interessiert, darf seinen Denkstil zuversichtlich durch Friedrich Nietzsche anregen lassen, völlig fern von ideologischer Überfrachtung links wie rechts – dafür unaussprechlich heiter und immer eigenständig!

Gekürzte und leicht aktualisierte Fassung des Beitrags https://feoeccard.com/2019/10/16/die-ehre-nietzsches-aus-der-natur/

Märzgefallen

Gefallen im März 2020. Die Trauerweide in meinem Garten hat mir einmal mehr den Fall höchster Freude beschert. An ihren in die Tiefe fallenden Zweigen sprosst, wie jedes Jahr im Frühling, zartes junges helles Grün. Das ist in diesem Fall die gute Nachricht. Und nun die in Corona-Zeiten keineswegs zufällig schlechte: Da kommen sehr viele Fallzahlen auf uns zu. Nicht, wie es euch – und uns – gefällt, ist der Fall; sondern was uns fällt, wird dieser Welt zum Fall.

Gefallene Helden um die Iden des März: Caesar fiel am Fünfzehnten des Monats, vierundvierzig Jahre vor Christi Geburt und deren Versöhnung des adamitischen Sündenfalls. Beethoven starb am 26. März 1827 im Gefallen an dem schönen Wort Plaudite amici – comoedia finita est – „Freut euch, Freunde – das Lustspiel ist beendet“. Und am 22. März 1832 gefiel sich der liebe Gott auf jeden Fall an der letzten Sentenz des sterbenden Goethe von wegen „mehr Licht“.

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Die Märzgefallenen des Jahres 1848 post Christum natum sind dann namengebend geworden für die massenhaften Vorfälle in Wien am 13. März und in Berlin am 18. März, die längst fälligen Demonstrationen auf den Barrikaden – für die bürgerliche Freiheit. Vor allem waren es Handwerker, aber auch Intellektuelle und Künstler, die für den Fall von Pressezensur und allen sonstigen Eingriffen in die persönliche Freiheit sich stark machten. Österreichs Kanzler Metternich fiel und floh, Preußens Königspaar entfiel beim Trauerzug für die Gefallenen auf fordernden Zuruf des Volkes immerhin die Kopfbedeckung – für einen kleinen Augenblick jedenfalls.

Blutig und finster wurde es am 22. März 1945 (Goethes 113. Todestag), als angloamerikanische Bomben auf die uralte Stadt Hildesheim fielen. Tausendjährige Kirchenbauten und mittelalterliche Fachwerkhäuser wurden in unsinniger Zerstörungswut ein für allemal zu Fall gebracht. Damit fiel dort die kleinteilige kirchlich-adlig-bürgerlich-europäische Lebensleistung von Jahrhunderten gleichnishaft etlichen Fallstricken zum Opfer.

In jüngerer Geschichte fallen drei märzliche Wenden auf geschichtliches Interesse: Zum ersten die „geistig-moralische“ Wende vom 6. März 1983, sehr zum Missfallen meiner Generation. Zum zweiten die deutsch-deutsche Wende, die mit dem 18. März 1990 und somit auf den Jahrestag der Berliner Märzgefallenen fällt, die erste und letzte Wahl zur Volkskammer der DDR – bevor dieser Staat dann zusammenfiel und der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 beitrat. Zum dritten gibt es jetzt eine Corona-Wende, deren Fallzahlen wir abwarten müssen und deren Ende wir mit Beifall bedenken werden.

Die Spaßgesellschaft mit ihren „Gefällt mir“-Klicks hat wenig Substanz, wenn wir die rhetorisch eindrückliche Fallstudie des französischen Staatspräsidenten im Herzen bewegen und mit ihm im Chor einfallen, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Fällig wären dann nämlich die an dem Virus Gestorbenen: für ein Denkmal der Gefallenen. Ein Fall von Helden im Jubiläumsjahr von Hegel, Hölderlin und Beethoven. Für alle drei Genannten fällt der Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Male an.

Mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 (Märzgefallene in Berlin 1848; DDR-Volkskammerwahl 1990) hat unsere Bundeskanzlerin womöglich unauffällig ihren Gefallen bekundet an historisch bedeutsamen Fällen, Einfällen, Ausfällen. Mir fällt dazu jedoch nichts weiter ein. Unsere Wirtschaftsordnung und das Geldsystem werden voraussichtlich ins Bodenlose fallen. Dass die Regierungschefin in ihrer Rede die Relevanz des Ausfalls von Gottesdiensten und generell kirchlichen Lebens so überhaupt nicht erwähnte, sollte übrigens auch einmal auffallen. Noch nicht einmal Gottes Segen (wie sonst in vielen Neujahrsansprachen) fiel ihr ein zu wünschen. Fallweises schreckliches Fazit: Dem christlichen Abendland geht es innerhalb unserer bisher so wenig anfälligen grundgesetzlichen Ordnung an den Kragen. Aber wem fällt das in dieser ungewissen Zeit groß auf?

Im Blick auf die bewährte föderale, republikanische, demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung wird vieles fallen und neu werden: Meine Trauerweide fällt in leuchtendes unparteiisches Grün. In diesen unsicheren Zeiten ist das ein tröstlicher Zufall. Aber Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht. Dem Märzfall des Diktators Caesar sehen wir nach wie vor zwiespältig ins Auge. Die Märzgefallenen von 1848 verdienen unser herzliches Gedenken. Dem Märzgefallen anno 2020 gilt unsere Aufmerksamkeit.

Foto: Meine Trauerweide in fallenden Zweigen und freundlichem Grün.

Yes, we can’t

„Wir schaffen das“ war vor bald vier Jahren das Startsignal für alles, was man seitdem, milde ausgedrückt, „Flüchtlingskrise“ nennt. Dieses Bonmot (oder: Malmot?) aus dem Munde unserer Bundeskanzlerin scheint im Rückblick die deutsche Antwort auf die US-amerikanische Ermunterung des Präsidentschaftskandidaten anno 2008 zu sein. Über zehn Jahre ist es her, dass der Senator aus Chicago, Barack Obama, unter dem orgiastischen Jubel einer unübersehbar großen Menschenmasse auf der Straße des 17. Juni in Berlin wie ein Messias empfangen und für seinen Ausruf „Yes, we can“ besinnungslos beklatscht wurde.

An der Siegessäule meinte damals ein idolbesoffenes selbsternanntes Weltbürgertum, über die künftigen transatlantischen Zeitläufte alternativlos gut entschieden zu haben. Es begann mit einer prophylaktischen Friedensnobelpreisverleihung an den tatsächlich gewählten und 2012 im Amt bestätigten ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika – und endete nach acht Jahren im weltpolitischen Chaos von Drohnenkriegen, in verschärften Fronten im Nahen Osten und mit Misstrauensbekundungen nicht nur aus Russland, sondern auch aus dem Kreis von abgehörten europäischen Verbündeten. Ende 2016/Anfang 2017 war der Mehrheit der amerikanischen Elektoren dann nicht etwa nach der ersten Frau im Präsidentenamt zumute, sondern nach einem alten weißen Cis-Mann, der sich bis jetzt darin treu geblieben ist, nicht als diplomatischer Politiker, sondern als selbständiger Unternehmer und dealmaker zu agieren. Einen neuen Krieg hat er bisher nicht begonnen.

Die dennoch in den bundesdeutschen Medien grassierende Verteufelung des derzeitigen US-Präsidenten hängt natürlich damit zusammen, dass mit ihm gesellschaftspolitisch nach den Begriffen der political correctness kein Staat zu machen ist. Wer legt sich schon ins Zeug für jemanden, der den „menschengemachten Klimawandel leugnet“? So jemand kann nicht als Vorbild dienen, wenn es um kultartige Bedürfnisse geht. Von denen haben wir, die Deutschen, immer sehr viel. Ich erinnere mich an die Begeisterungsstürme, als Papst Woityla in Münster (Westfalen) erschien. Der Besuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs mitsamt seiner attraktiven Ehefrau Raissa in den späten Achtzigern verursachte laut „Spiegel“ damals gar einen kollektiven „Gorbasmus“. Etwas gesitteter mag es gut zwanzig Jahre zuvor beim Volksauflauf am Schiffgraben in Hannover zugegangen sein, als Queen Elizabeth II. ihren ehemaligen Untertanen einen Besuch abstattete. Aber zwei Jahre noch von da zurück, 1963, vor dem Schöneberger Rathaus, war kein Halten mehr, als US-Präsident Kennedy auf deutsch sein Pfannkuchenbekenntnis ablegte und ausrief: „Ich bin ein Berliner“.

Wir Deutschen mögen den Personenkult. Da setzt bei uns der Verstand aus. Dem Führer hat man einst gehuldigt wie sonstwas. Wie gut hatte der abgeguckt im faschistischen Italien und beim Stalinismus; und wie tief zog sich die Blutspur auch anderswo, im Maoismus und Titoismus sowie in den verderbenbringenden Verehrungszwängen von Albanien, Kambodscha, Vietnam, Nordkorea, Kuba, Rumänien oder Venezuela. Eigenartigerweise gibt es nach 1945 keine deutsche Persönlichkeit, die von ihrem Volk verheiligt worden wäre. Ulbricht wurde eher als Posse wahrgenommen, trotz aller Gefahren an Leib und Leben, die solch gesundes kritisches Urteil standhafter DDR-Bürger mit sich brachte. Die diktatorische Böswilligkeit des vorgeblich ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden muss allerdings wohl erst noch aufgearbeitet werden. Dass die sozialistische Staatssicherheit ein noch engmaschigeres Netz gesponnen hatte als die nationalsozialistische Geheime Staatspolizei, sollte nicht in Vergessenheit geraten.

Der gemeine deutsche Personenhype fokussiert sich heutzutage also eher auf ausländische Stars: Das ist insofern günstig, als den so Verehrten keinerlei wirkliche Verantwortung zuerkannt werden muss. Kennedy, Lizzy, Urbi et Orbi, Gorbi, Obi: Sie sorgen oder sorgten für ihre eigenen Länder oder Schützlinge, nicht primär für die Bundesrepublik. Die SPD-Kampagne „Willy wählen“ von 1972 war wahrscheinlich die einzige Ausnahme, welche die nachkriegsgeschichtliche Regel nur bestätigte: Denn nach anderthalb Jahren wars dann endgültig vorbei mit jenem Bundeskanzler, der immer so strahlend und sonnengebräunt und geschichtsweise aufzutreten hatte … Die „Willy!Willy!“-Rufe seiner Anhänger, die sich nicht zu schade waren, auch ihre Kinder mit Fähnchen auszustatten und diese auf Wahlkampfveranstaltungen begeistert schwenken zu lassen, sprechen da eine bezeichnende Sprache …

Aber nun hat die deutsche Jugend ja ein neues ausländisches Vorbild namens Greta. Die sechzehnjährige Schülerin aus Schweden ruft recht regelmäßig und erfolgreich im Sinne ihres Slogans „Fridays For Future“ zu Demonstrationen für die Klimarettung auf. Damit es den Erwachsenen auch richtig wehtut, finden die straßenfüllenden Proteste immer freitagmorgens zur besten Schulzeit statt. Auch die Bundeskanzlerin hat mittlerweile die notorische Schwänzerei gutgeheißen, so dass der Rechtsstaat alleingelassen dasteht auf weiter Flur. Andererseits: Warum soll man denn auch bitteschön sich noch Wissen aneignen unter kundiger Anleitung von Lehrpersonen, wenn doch sowieso morgen die Welt untergeht?

Befeuert werden die Großkinder saturierter Altachtundsechzigerrevolutionäre von den Möchtegerndemagogen der dazwischenliegenden Elterngeneration. Und es stimmt ja auch: Die „89er“ sind so etwas wie betrogene Betrüger; denn als sie im besten Revoluzzeralter wie ihre Vorbilder zwei Jahrzehnte zuvor mit Anfang zwanzig aufbegehren wollten, machte ihnen der Berliner Mauerfall einen Strich durch die Rechnung idealistischer Flausen vom Gleichklang in Marx- und Engelszungen. Flüggegewordener Nachwuchs solch bedauernswerter Sandwichkinder soll ergo jetzt richten, wo der böse alte Cis-Mann in barocker Inkarnation etwa eines patriarchalen Bundeskanzlers Kohl die seinerzeitigen frischen Kräfte an deren guten Werken hinderte.

Deutsche Bischöfe beiderlei Geschlechts und Konfession entblöden sich in diesen unorientierten Zeiten nicht, die Klimaaktivistin aus Stockholm in einen prophetischen, wenn nicht gar gleich jesusmäßigen Rang zu erheben. Predigten auch von normalen Pfarrern vor Ort verklären das so herzzerreißend traurig dreinblickende Mädchen zur göttlichen Botin. „Wie hast du’s mit dem Klimaschutz?“ wird zur unüberbietbaren Gretchenfrage 2.0 hochgejazzt. Dass der Glaube an Gott eigentlich weitaus mehr meint als gesellschaftspolitische Rechthaberei, soll bloß niemand mehr ernsthaft denken müssen. Nein, alles ist klar, entschieden, eindeutig, alternativlos. Wehe dem, der heutzutage mit neuen Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern um die Ecke käme – die könnten ja (und wir bemühen ein weiteres Mal Goethes Faust) „leider auch Theologie“ enthalten …

Zur heutigen Wahrheit würde indes ziemlich sicher gehören, dass wir „das“, was uns einerseits in barrierefreie Toleranz oder andererseits in massenhafte Panik geraten lassen soll, durchaus nicht schaffen. Weder die Einwanderung von Angehörigen zutiefst archaisch geprägter Kulturen noch die Bewältigung der tatsächlich wirkenden, aber eben weniger menschenabhängigen als vielmehr, wie seit Jahrmillionen üblich, solar verursachten weltweiten Klimaveränderung lassen sich mal eben so wuppen. Idole hin oder her. Die wahre Sonne scheint sowieso vor Ort und lässt die Traditionen strahlen:

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Lob einer je eigenen Heimat mitsamt deren auch neugotischen Zeugnissen in eigentlich doch wunderschönen Bauwerken, bereit zur Überwindung von Schleusen – und fest auf dem Boden des bundesdeutschen Grundgesetzes, das nun siebzig Jahre alt wird, in bester schwarz-rot-goldener Verankerung: Was gibt es besseren Schutz vor Personenkult jeglicher Couleur? Wir schaffen nicht alles, aber darüber müssen wir die Freiheit nicht verlieren. Wer so weit denkt wie das Meer unendlich ist, fühlt und weiß sein Herz am richtigen Ort. Und damit zurück nicht in die bloß großdimensionierte, aber in Wirklichkeit inhaltsleere „Vielfalt“ von allem und jedem, sondern ganz sinnlich und genau, durchaus republikanisch-demokratisch-amerikanisch-deutsch-bürgerlich bestimmt zum Beispiel nach –  Bremerhaven.

Foto: Bremerhaven, Schleuse mit Schiff, das ins offene Meer steuert, dahinter Großer Leuchtturm, auch Loschenturm genannt, erbaut 1853 bis 1855 nach Plänen des Bremer Architekten Simon Loschen (1818-1902).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quasi una fantasia tedesca

Wie eine deutsche Phantasie (mit dickem ph) – oder eher als feinsinnige Fantasie (mit schlankem f)? Gravitas oder Grazie? Hirngespinst oder Klangereignis? Schwere oder Schwebe? Irden-himmlischer Elfenbeinturm oder himmlisch-irdene Ausdrucksmacht? Ziellose Schwelgerei oder willensstarke Musik?

Irgendwie sind die Attribute austauschbar: Der griechischen Schreibweise ließen sich ebenso zarte wie ungezügelte Eigenschaften gleichermaßen zuordnen wie der lateinisch-italienischen. Das Reich der Ph/F/antasie ist unerschöpflich, widersprüchlich, reichhaltig – aber bisweilen auch sehr blutleer. Dünnes Denken wechselt mit fiebernder Fülle geistlos/geistreich ab.

Eine berühmt-berüchtigte Druckgrafik aus dem Zyklus „Los Caprichos“ des spanischen Künstlers Francisco de Goya nennt sich im Deutschen meist: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Statt „Schlaf“ lässt sich auch „Traum“ sagen. Ob das Ganze satirisch oder todernst aufgefasst werden soll, ist seit Entstehung dieser Radierung, Ende des achtzehnten Jahrhunderts, häufig und gern diskutiert worden. Kann sich in diesem Bild auch der sprichwörtliche deutsche Michel mit seiner Schlafmütze wiederfinden? Sind Träume bloß Schäume – oder alp-hafte (!) Bewältigungen böser Realität?

Die deutsche Romantik, die zeitgleich mit den gesellschaftskritischen Darstellungen des seit Anfang der 1790er Jahre ertaubten Goya entstand, sah das Reich der Gedanken als einzig verbliebene Sphäre, aus der ein Mensch nicht vertrieben werden kann. Während um anno 1800 alle in deutschen Landen seit rund neun Jahrhunderten vertrauten Verhältnisse sich unter dem Druck der vom revolutionären Frankreich ausgehenden Umwälzungen und handfesten Kriege auflösten, begaben sich die Nachdenklichen ins innere Exil.

Wer in bildender Kunst, Literatur und Musik etwas zu sagen hatte, erschuf allein aus eigener Geisteskraft je neue Welten – ohne nach deren Praktikabilität oder gar Zweckmäßigkeit groß zu fragen. Philipp Otto Runge oder Caspar David Friedrich, Novalis oder Friedrich Hölderlin, Ludwig van Beethoven in seinen Opera ab der Jahrhundertwende oder Franz Schubert – und es ließen sich viele andere nennen – haben gewissermaßen Gegenwelten projektiert, um dem offensichtlichen grausamen Wahnsinn zu begegnen. Wer damals in Farben, Worten oder Tönen schwelgte, war ein kritischer Traumtänzer, aber keineswegs unsystematisch oder gar am wirklichen Leben vorbei.

Dass sich die Romantiker und solche, die es werden wollten, vielfach darauf besannen, „wie uns die Alten sungen“, dürfte eigentlich keine Empörung hervorrufen. Noch zu meiner Schulzeit wurde uns eingeprägt, dass man aus der Geschichte lernen möge. Das war in den Siebzigern und Achtzigern im letzten Jahrhundert des seit nunmehr bald vor dem Zeitraum einer Erwachsenenwerdung verflossenen Jahrtausends. Ist es nicht erschreckend-erstaunlich, wie rasch sich in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten die historisch denkende Alltagsmentalität verflüchtigt hat?

Dass arabische Immigranten nicht wissen, wie sehr es hier in Deutschland vor siebzig Jahren flächendeckend sogar trümmerhafter aussah als heutzutage in Syrien – geschenkt. Aber dass eine angehende Religionslehrerin ganz beglückt aus dem Häuschen gerät, als sie zu hören meint, das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ habe ein amerikanischer Bürgerrechtler gedichtet – und es, auf den feinen Unterschied einer Null hingewiesen, nicht weiter schlimm findet, dass der eine vor 500 und der andere vor 50 Jahren gewirkt hat, ihr quasi die Differenz von Martin Luther und Martin Luther King völlig egal ist … sind ja beide längst tot – also hier müsste vielleicht doch eine Abiturnachprüfung angesetzt werden, oder?

Andererseits hat die junge Dame etwas Richtiges gespürt: In Lutherliedern ist Musik drin! Die sagen einem „auch heute noch“ was. Jedem Lapsus liegt ein Zauber inne. Romantik pur. Eine PH hat doch auch ihr Gutes. In strikter PH-Neutralität von Geschichts- und Geschlechtslosigkeit wandeln also die Lehrpläne von Pädagogischen Hochschulen, heutzutage meist im Range von veritablen Universitäten, auf quasi politisch korrekten Wegen, zwar unhistorisch spintisierend und gendergerecht alles von gutem altem Herkommen terrorisierend: aber eben irgendwie doch die Absolvent*inn*en solcher Anstalten in Betroffenheit berührend. Das sollten wir bei allem zum Sarkasmus reizenden Nonsens denn doch nicht vergessen.

Bundesdeutsche Phantasie – gibt es die eigentlich? Zu mehr als zum „Verfassungspatriotismus“ hat es letztlich nie gereicht. Und unser gutes Grundgesetz hatte nur solange Ausstrahlungskraft, als es den Gegenentwurf zur wie auch immer gearteten Verfasstheit der „Deutschen Demokratischen Republik“ darstellte. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 hat sich vieles leider erledigt. Nicht, dass die neu hinzugekommenen Bürger daran irgendeine Schuld träfe, im Gegenteil! Die friedliche Revolution von 1989/90 hatte ja gerade das Ziel, den Inhalt der die Bonner Republik begründenden Ordnung auch für die eigene Lebenswelt fruchtbar zu machen. Und es war großartig, wie sie sich in diesem Bestreben von nichts und niemandem unterkriegen ließ!

Der Schwere des Abschüttelns von Stasi-Diktatur und fehlgeleitetem Wirtschaftssystem folgte leider jedoch nur eine kurze Phase idealistischer Schwebe – übrigens auf beiden Seiten von Mauer und Stacheldraht! Im strahlend schönen Sommer 1990 saßen wir vor Eckkneipen und in Biergärten unter dem hohen sternbeglänzten Himmel über Berlin, Wessis und Ossis treulich beieinander – was bisher „die Mode streng geteilt“ – , in studentischer Verzückung, hier und jetzt im historischen Bewusstsein, einen Zipfel des Mantels der Geschichte tatsächlich erhascht zu haben. Viel war von „Konföderation“ die Rede, auch davon, dass „alle“ „etwas einzubringen haben“, mit „ihren Biographien“ und Erfahrungen und so weiter und so fort.

Berliner Romantik, nunmehr nicht in den Salons einer Henriette Herz oder Rahel Varnhagen, sondern als Schlabberlook-Neuauflage in verwunschenen Abrisshinterhöfen im Prenzlauer Berg oder in den einschlägigen Lokalen in Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln. Die vornehmere Fortsetzung der Debatten aus milden Sommernächten fand tagsüber auf dem Campus statt: je nachdem, wo man studierte, erörterten junge Leute die neue deutsche Frage in Dahlem, Zehlendorf oder in Mitte. Dass anderswo auch andere – entscheidungsstärkere – Personen über uns sprachen, nahmen wir kaum zur Kenntnis. Dass diese Herrschaften Bush, Gorbatschow, Mitterrand und Frau Thatcher hießen, die sich zu viert mit den zwei Deutschen Kohl und de Maizière trafen, störte niemanden unter uns daran, hochfliegende Gedanken etwa über die Vereinbarkeit von Kapitalismus und Sozialismus begeistert zu ventilieren.

Quasi una fantasia tedesca

Viel Gerede zum Mondscheintarif – am 1. Juli 1990 war das alles schlagartig vorbei: Die Deutsche Mark (West) wurde in der Noch-DDR als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt, und von Stund an lief alles seinen marktwirtschaftlichen Gang. Der fruchtbare wie weltfremde Gegensatz von PhantaSie und FantaDu war überwunden. Insbesondere für die Studenten der evangelischen Theologie, die immer besonders lautstark „sich einbringen“ wollten, war das eine harte Nuss. Der reizvolle weltbürgerlich anmutende Traum: ein Bundeskanzler Lafontaine hüben und vis-à-vis ein Ministerpräsident de Maizière drüben, zwei „Ar“s, nämlich Oskar und Lothar samt französischen Nachnamen: – war da bereits ausgeträumt.

Als „Chabis“ entlarvt, schweizerisch im übertragenen Sinne für „Unfug“, wortwörtlich aber: „Kohl“. Der blieb nach der Bundestagswahl im Dezember 1990 denn auch Kanzler, ganz allein: Die DDR gab es da bereits seit zwei Monaten nicht mehr. Was uns „an der Basis“ seinerzeit noch nicht so klar war: Der Preis für die deutsche Einheit war die D-Mark. Da konnte Franz Beckenbauer im schönen Sommer zuvor noch den Pokal der Fußballweltmeisterschaft so freudig in den sternenklaren römischen Nachthimmel gereckt haben: Das eigentliche Symbol bundesdeutschen Erfolgs der Nachkriegszeit war schon längst dem Neid der kleineren Westalliierten geopfert. Eine Weichwährung namens Ecu/Euro brach sich Bahn und frisst sich ganz praktisch, also völlig theoriefrei, sprich: ungebremst bundesbanklos(!) spätestens seit 2002 unersättlich in unsere Ersparnisse hinein.

Damit sind wir beim schnöden Mammon angelangt. Geld regiert die Welt, je einheitlicher die Währung, desto gefahrvoller für den einzelnen Haushalt, wenn makroökonomisch etwas aus dem Ruder läuft. In der Napoleonischen Ära hatte man damit auch schon seine liebe Not. Deutsche Romantik hat seinerzeit mit ihren ganz eigenen Mitteln und Wegen ihr zugetane Menschen bei der Stange gehalten. Wer hingegen keinerlei Phantasie entwickelte, ging zugrunde. Aus genau dieser Situation heraus entstand in den 1810er Jahren ein frisches deutsches Nationalgefühl. Es war zunächst weder völkisch noch monetaristisch noch reaktionär ausgerichtet, sondern vorrangig auf die eigenen bisher unterdrückten kulturellen Traditionen bedacht. Nach der Abschüttelung französischer Kaiserdiktatur bemächtigten sich insbesondere die Studenten der klassischen freiheitlichen Ideale – bis wiederum die nunmehr einheimische, sprich Metternichsche Reaktion (spätestens 1819) unbarmherzig zuschlug.

So wurde die Vernunft gezwungenermaßen in einen Tiefschlaf versetzt, der so manches Ungeheuer hervortreten ließ. Als Schuldigen aber machte man seitdem gern samt und sonders die Romantik in toto aus, obwohl diese phantasievolle und also auch politisch in ihrem Selbstverständnis völlig ungebundene Geistesströmung alles andere als repressiv war. Eher ist – von heute aus – zu fragen, ob es nicht schließlich kaltherzige „Dialektik der Aufklärung“ war, die im gesamten zwanzigsten Jahrhundert zu den in Nachahmung der französischen „Terreur“ bösartig-raffiniert geplanten Massenmorden geführt hat.

Die innerdeutsche gegenwärtige Diskussion ums Selbstverständnis krankt daran, dass alle gegen alle reden und am Ende nur „Stalinisten“ auf der einen und „Nazis“ auf der anderen Seite übrigbleiben. Wer eigentlich die Mitte ausfüllt, bleibt nebulös. Das war mal anders. Noch bis in die Neunziger hinein repräsentierten schöne Tiefdruckbeilagen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter dem Titel „Bilder und Zeiten“ oder die Feuilletons etlicher anderer überregionaler Blätter ein abwägendes und zugleich meinungsstarkes bürgerliches Kulturbewusstsein. Wenn ein Marcel Reich-Ranicki sich mit jemandem befehdete, dann schlugen die Streithähne wohl sprachlich bisweilen über die Stränge, aber das gehörte zum Spiel hinzu. Auch in anderen medialen Formaten wussten sich die an der Auseinandersetzung Beteiligten mit dem deutschen Bildungskanon grundsätzlich einig. Messer wurden nicht gezückt, man enthielt sich auch der Morde durch solche Bestecke. Gezielte Rotweinverschüttungen auf Lieblingsgegner waren die Ausnahme und fanden nur in ausgewählten Fernsehdiskussionen statt.

Unter solchen Vorzeichen war jahrzehntelang zumindest unterschwellig von der deutschen Wiedervereinigung die Rede. Es gab auch Institutionen, die während der gesamten Nachkriegszeit 1945 bis 1990 ohne jeglichen Verdruss Mauer und Stacheldraht ignorierten und gesamtdeutsch weiterarbeiteten: Es sei hier nur die Neue Bachgesellschaft von 1900 e.V. erwähnt. Musik, aber auch Sport und natürlich die gemeinsame Sprache verband vielfältig, wenn auch oftmals organisatorisch zwangsweise getrennt. Dass die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft sich mit steigendem Wohlstand indes proportional dazu weniger für diese Dinge interessierte, ist allerdings nicht zu verschweigen. Unsere Lokalzeitung brachte nur alle vier Wochen eine Seite mit dem Titel „Blick ins andere Deutschland“. Im übrigen schien die deutsche Teilung fest zementiert. Mein Foto weiter oben von der Berliner Mauer am Brandenburger Tor datiert von 1983 – dass sich dort etwas ändern könnte, hätten wir uns damals in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt.

Phantastische Fantasien müssen nicht zügellos sein. Was romantisch daherkommt, ist oftmals von der Faktur her nichts anderes als die Ausweitung dessen, was an Techniken kleinteilig bereits lange vorhanden war. Die Betitelung Quasi una fantasia bedeutet also keine sanktionierte Regellosigkeit; vielmehr wird ein motivischer Kern zur allgemeinen Maxime erhoben. Goldene Regel und Kategorischer Imperativ werden dem romantischen Impuls einverleibt – und so vor dem Einerlei der Tagesmeinung gerettet. Besonders Beethovens cis-Moll-Klaviersonate, komponiert anno 1800, ist so gar nicht willkürlich, geschweige denn wirr oder nach Laune konzipiert. Im Gegenteil, sehr verlässlich bringen alle drei Sätze dieser seit dem neunzehnten Jahrhundert so genannten „Mondscheinsonate“ Motive und Melodien in schönster Regelmäßigkeit wieder und wieder. Dass dennoch gerade dieses Werk die Geister nicht ruhen, sondern höchst anregen lässt, liegt in der nachgerade genialen Verbindung von Schlichtheit und Aufruhr. Aus einem Lehrbuch oder Modul ließe sich für solch subversive Musik kein einziger Götterfunken herausschlagen. Man gut, dass die Romantik niemals schulbuchmäßig kroch, sondern grenzenlos frei dachte!

Beethoven hat sich als Fünfundzwanzigjähriger anno 1796 während einer von einem adligen Gönner ermöglichten Reise in Leipzig und in Berlin aufgehalten. Musikalische Studien in der Thomasschule der sächsischen Messestadt sowie Empfänge am Hof in der preußischen Hauptstadt ermöglichten ihm gründliche Studien, von Bach ausgehend. Zeit seines weiteren Lebens hat der später ertaubte Meister in seinen Kompositionen diese persönlich angeeigneten Überlieferungen einfließen lassen. Dabei ging er nicht als Kopist vor (wie man es, bei allem Respekt, Mozart in einigen seiner Stücke unterstellen könnte; er hatte 1789 ebenfalls eine Reise zu diesen Stätten mit dem gleichen Gönner unternommen), sondern als phantasievoller Schöpfer von schon beim ersten Hören erkennbaren Stücken des einzigen „Beethoven“.

Das vorhandene Material sich zueigen machen: Eine Frage von individueller Kunstfertigkeit! Das romantische Menschenbild setzt auf die eigene freie zu allem fähige starke Persönlichkeit. Jegliche Propaganda ist ihr fremd. Eine Ich-Welt trotzt jeder Art von Diktatur. Das Individuum ist die Keimzelle jeglicher Gesellschaftsordnung. Der international sich gerierende und im Ernstfall stalinistische Sozialismus hat das ebensowenig begriffen wie der in Deutschland zuvor wütende National-Sozialismus. Sofern sich diese Regime auf die Romantik beriefen, lagen sie schlicht und einfach falsch. Das muss betont werden zur Rehabilitation der zu Unrecht Angeklagten.

Deutsche Einheit – ein weites Feld. Handfeste Phantasien und klingende Fantasien bilden ja vielleicht die Grundlage dafür, dass bei uns das Denken in bildender Kunst, in gesprochenem und geschriebenem Wort, in auskomponiertem Klang nicht ausstirbt. Mit Ph oder nur mit F. Also diesen unbescheidenen Wunsch hätte ich dann doch, auch am achtundzwanzigsten Jahrestag der 1990er Deutschen Einheit.