Haare auf den Szenen

Er/sie/es setzt sich in Szene. Eine haarige Angelegenheit. Die eigenhändige Kopfrasur als öffentlicher Akt. Und das Publikum klatscht hemmungslos Beifall. So geschehen im Frankfurter Römer während der Buchmesse in diesem Herbst 2022. Die schriftstellernd sich betätigt habende Nonbinärperson vorn am Redepult sagt Danke für den Erhalt des Deutschen Buchpreises und zieht obenrum blank, um ein Zeichen zu setzen in Solidarität mit Frauen im Iran. Ob denen das was hilft?

Bipolare Störung ganz neuer Art. Die Sprache als kulturelle Errungenschaft wird zur Nebensache, wenn Gendersprech um die Ecke biegt und jeglichen Ausdruck in textueller Form zunächst sexuell auflädt, um ihn anschließend dafür und deswegen anzuklagen, zu kriminalisieren sowie im finalen Verdammungsurteil Genugtuung zu erhoffen, indem man geschlechtliche Indifferenz propagiert.

Wer Juror*inn*en zu solch einer Bepreisung kommen und den Saal darob jubeln lässt, hat eindeutig zu tief in den Taumelbecher geguckt. Dieser Schluck war – mal wieder – einer zuviel. Unsere Kultur ist der spätrömischen Dekadenz ja bereits seit längerem gefährlich nahe, wie in anderem Zusammenhang der allzu früh verstorbene Guido Westerwelle einst bissig feststellte – vor nunmehr gut zwölf Jahren.

Friedrich Nietzsche (1844-1900), dessen Geburtstag am 15. Oktober auch in diesem Jahr wieder vergessen wurde, hat sich bereits zu seiner Zeit mit den Verfallserscheinungen des bürgerlichen Kulturbetriebs geisteswach befasst. Er sah jedoch – freilich von unerreichbar hoher Warte aus – zugleich die Morgenröte einer neuen heiteren Welt. Sein vielgescholtener und grob fahrlässig missverstandener Begriff des „Übermenschen“ meint genau dies.

Wir Heutigen hingegen pflegen keine phantasiebegabten Kräfte, die uns zu rundum geistigen Inszenierungen befähigen könnten. Die dazu nötigen künstlerischen Grundkenntnisse sind ja nicht mehr gefragt. Im Bereich des Sprachlichen wären dies, noch vor aller literarischen Formgebung, etwa der Sinn für Klang und Schrift, die Liebe zu reichem Wortschatz und eigenes Zutrauen in Hinsicht auf Orthographie und Grammatik. Des Büchermachens ist kein Ende, aber das richtige Leben muss davon nicht zwangsläufig belästigt werden. Erst dort, wo „Haltungzeigen“ das gute Buch quasi ersetzt, ist der Wurm drin. Wir folgern einigermaßen frech: Das jüngst preisgekrönte Werk ist keinesfalls das beste auf der diesherbstlichen Frankfurter Bücherschau.

Vor genau fünfhundert Jahren ging es entschieden besser mit der Umwertung aller Werte: Auf der Leipziger Buchmesse im Herbst des Jahres 1522 gab es das erste gedruckte Neue Testament in deutscher Übersetzung von Martin Luther. Wir nennen es nach dem Erscheinungsmonat „Septembertestament“. Im Nu war dieses Buch vergriffen. Die zweite durchgesehene Auflage – „Dezembertestament“ – erschien nur drei Monate später und wurde ebenfalls ein Verkaufsschlager. Die lesende Gesellschaft dürstete nach frischem Wasser aus geistig-geistlich verlässlichem Quellgrund.

Die Umstände, die zur Entstehung dieser bahnbrechenden philologisch-literarisch-musikalisch inspirierten Arbeit führten, waren haarig genug: Luther fand sich nach seiner Rückkehr vom Wormser Reichstag Anfang Mai 1521 als Entführter auf der Wartburg wieder. Die, wie sich rasch herausstellte, gutartigen, von Kurfürst Friedrich dem Weisen beauftragten Häscher befahlen dem verängstigten Mönchsprofessor, seine Tonsur unsichtbar zu machen, sprich: sich Haupthaar und Vollbart wachsen zu lassen, um unerkannt als „Junker Jörg“ zu überleben. Seine Gegner in ganz Deutschland sollten glauben, der geächtete und gebannte Rebell Martin Luther sei tot; sein Fall könne zu den Akten gelegt werden.

Der einsame und von Anfechtungen heimgesuchte Burginsasse stürzte sich in Arbeit: Deren zuverlässige Grundlage bildete die wenige Jahre zuvor gedruckte griechische Urtextausgabe des Humanisten Erasmus von Rotterdam. In wenigen Wochen war die Rohfassung dieser deutschen Übersetzung vollendet. Im März 1522 verließ Luther heimlich sein Verlies und kehrte in die Residenzstadt seines ihn schützenden Landesherrn zurück. Durch die „Invocavit-Predigten“ beendete er den Wittenberger Bildersturm, den fanatisierte Kommilitonen unter Professoren und Studenten entfacht hatten. Dann sprach er mit Philipp Melanchthon und anderen Mitstreitern seine Übersetzung Wort für Wort durch, beförderte das Ergebnis zum Druck und brachte so das erste hochdeutsche Buch der Weltgeschichte unter die Leute.

Haare wachsen, Haare fallen. Herren kommen und gehen. Kulturen gehen unter und entstehen neu. In Szene setzen sich alle: die einen, weil sie sich selber total wichtig finden – die anderen, indem sie einfach ihre eigenen Gaben und Fähigkeiten in den Dienst dessen stellen, was sachlich in dem, was Karl Jaspers die geistige Situation der Zeit genannt hat, gerade dran ist und ohne Ansehen der Person/Allgemeinheit/Mehrheitsmeinung gesagt/gelesen/beherzigt werden muss. Merke: Nicht überall, wo man/frau/divers Rasuren/Verzichte/Zeichenhandlungen inszeniert, werden auch tatsächlich alte Zöpfe abgeschnitten.

Gespenstische Geistkraft

Pünktlich zum Pfingstfest möchte ich ein kleines Gedicht darbieten, das ich bis zur jetzigen Stunde noch nie schriftlich sah, sondern eines besonders wachen Tages in meiner frühesten Kindheit erst ratlos, dann, nachdem ich glücklich selber – also ohne elterliche Hilfe – die Auflösung gefunden hatte, erheitert gehört und seitdem bei jeder mehr oder weniger passenden Gelegenheit amüsiert, in witziger und sich steigernder zungenbrecherischer Rasanz aus dem Gedächtnis nachgesprochen und in dieser Weise vorgetragen habe.

Man nennt so etwas die Treue zur „mündlichen Überlieferung“, und mit diesem terminus technicus ist ja bekanntlich die längste Zeit jeglicher Sprachtradition erschöpfend umrissen. Unsere Vorfahren waren Meister darin, Texte rasch auswendig zu lernen und humorvoll ausgeschmückt in großer geselliger Runde zum Besten zu geben.

im grünen

Hier präsentiere ich meine Transkription jener Versansammlung, die walthervondervogelweideartig beginnt, um in rechtschaffener Requisite sowie moralisch-religiösem Duktus sofort in die Nocturne-Welt des betuchten sechzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts hinüberzuwechseln. Akzente bezeichnen betonte Silben. Doppelpunkte stehen für Dehnungen: Jene „e“-Laute innerhalb von am Anfang großgeschriebenen Wortteilen sind norddeutsch-lang zu nehmen. „St“ respektive „Sp“ im Wort steht immer dort mit Majuskel-S, wo, entgegen den Gepflogenheiten deutscher Bühnensprache, betreffender Diphthong über’n s-pitzen S-tein ges-tolpert ausgesprochen werden soll.

Im übrigen möge sich niemand über das von ausschließlich lautlichen Vorgaben inspirierte und diesbezüglich stimmlich-stimmig nachschaffende Schriftbild mokieren: In einer Zeit der seit den Tagen der Völkerwanderung immer wieder einmal um sich greifenden Motivik von spätrömischer Dekadenz, die sich beispielsweise in den notorisch ideologiehörigen und – darin leider allzu verlässlich! – jeden musikalischen Sprachfluss abwürgenden Unterstrichen und Gendersternchen manifestiert, dürften politisch-korrekt „geschulte“ Mensch*inn*en mit Reimereien wie diesen keine unüberwindlichen noetisch-phonetisch verursachten Probleme bekommen. Auch eventuelle streitlustig evozierte Reibereien wegen eines Versmaßwechsels nach der dritten Zeile sollten klug vermieden werden können.

helles licht

Wie heißt es doch so schön in einem karolingischen Hymnus, den der saft- und kraftvolle Schöpfer unserer d**t****n Hochsprache, dessen Name seit einem Jubiläum vor bald zwei Jahren in der kritischen Öffentlichkeit besser nicht mehr genannt wird, aus dem Lateinischen übertrug? – : „Zünd uns ein Licht an im Verstand“; entsprechend der Zeilenanzahl hoffentlich „mit Gaben siebenfalt“, jedenfalls, in einem durchaus gemütlichen Parlando beginnend, ab der fünften Zeile ins Allegro con spirito umschaltend, insgesamt lebhaft aufzuführen:

Ich saß an meinem SchúbfenSte:rchen,

Da kam ein kleines GéSpenSte:rchen,

Das zupfte mich an meinem PélzärMe:lchen

Und sagte:

ÓSterblicher músst SterBe:n;

DénnSterBe:n ohn ÉglauBe:n

Íst ewiges VérderBe:n.

Nun wünsche ich viel Spaß bei der Entschlüsselung dieser kleinen feinen Weisheit, die umso heller strahlt, je mehr sie vor düsterem Hintergrund gewogen und befunden wird. Die verängstigten Jünger samt dem „Haus, in dem sie saßen“ – vulgo: in das sie sich verkrümelt hatten – werden durch ein „Brausen des Himmels“ in die richtige Spur gelenkt. Manch rhythmische Rückung nebst freier Akzentverschiebung hie und da möge sich ungezwungen verknüpfen mit fröhlich frommer Geistesgegenwart. In diesem Sinne: Pfróhe: Výnxdn.

Der erwähnte karolingische Hymnus, in unsere Sprache übertragen, findet sich im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 126. Zitiert habe ich die erste Zeile von Strophe drei sowie einen Teil aus der ersten Zeile von Strophe vier.
Vom „Brausen“ etc. lesen wir in der Pfingsterzählung, wie sie die Apostelgeschichte des Lukas im zweiten Kapitel überliefert. In der Lutherübersetzung wird sie selbst zu einem akustischen Großereignis.
Die beiden Fotografien zeigen, wie der reine helle Geist auch abgeschieden im Grünen gelegene ältere kleine Häuser, denen man Schiebefenster andichten könnte, stimmungsmäßig – und gänzlich ohne Klimapanikattacken – vollkommen verwandelt: Sogar im kühlen Norddeutschland!