Van

Vor 250 Jahren kam er zur Welt – wenn es nach seiner eigenen Ansicht gegangen wäre. Beethoven kannte nämlich sein Geburtsjahr nicht genau. Am wahrscheinlichsten schien ihm und seiner Familie das Jahr 1772 zu sein.

Die Kurfürstensonaten von 1783, Klavierwerke eines Elfjährigen: Diese Altersangabe wäre dann keine Wunderkind-Allüre des vermeintlich notorisch schwindelnden und nur auf eigenen Vorteil bedachten Vaters, sondern unwillkürliche Folge einer falschen Grundannahme, die aber seinerzeit niemandem weiter auffiel. Von einer geschäftstüchtigen Vermarktung des Jungen kann übrigens generell keine Rede sein. Man hieß nicht Mozart.

Der erwachsene Ludwig van Beethoven ist der Frage nach seinem genauen Geburtsdatum tunlichst aus dem Wege gegangen. Heute wird es überwiegend mit dem 16. Dezember 1770 angesetzt, einen Tag vor der durch Kirchenbucheintrag verbürgten Taufe. Deshalb feierten wir vor zwei Jahren ganz groß den Zweihundertfünfzigsten …

Nun, ganz so groß fiel der runde Geburtstag dann doch nicht aus. Pünktlich zum 16. Dezember 2020 musste die Öffentlichkeit einmal mehr „wegen Corona“ zum Erliegen gebracht werden. Wir wissen heute, dass diese Art von Seuchenbekämpfung kaum geholfen hat. Auf der Strecke blieb vieles – unter anderem die Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Konzertlebens.

Mittlerweile interessieren sich ganz andere Kreise für „Ludwig van“: Er soll sehr schwarze Haare und einen dunklen Teint gehabt haben. Überdies sei er von einigen Mitmenschen „Spanier“ genannt worden. Und seine Kreutzer-Sonate habe er schließlich ursprünglich einem afrikanischstämmigen Geiger, Sohn eines „abessinischen Prinzen“, widmen wollen.

Sollte sich diese „woke“ Lesart verbreiten, dann wäre Beethoven wieder einmal aus dem Schneider. Schon vor über hundert Jahren sollte es ja seiner Musik an den Kragen gehen, in Westeuropa nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als man von den Konzertbühnen alles Deutsche entfernen wollte. Dann aber entschied man, Beethoven dürfe weiterhin aufgeführt werden, weil das „van“ im Namen die flämische Herkunft seiner Vorfahren erweise. So blieb der rheinisch-habsburgische katholische Weltbürger mit Wurzeln in den Spanischen Niederlanden also damals verschont: Louis der Belgier.

Hoffen wir, dass heutzutage, in neuen Kriegszeiten, die Kultur nicht wiederum zwischen die Fronten gerät. Abstammungsnachweise jedenfalls können im allgemeinen nicht über die Qualität von Musik urteilen. Beethovens übernationale und übrigens auch überkonfessionelle Kunst lässt dumpfes Raunen in Nur-Gut und Nur-Böse weit hinter sich zurück. Das haben viele durchaus verstanden. Warum sonst wurde ausgerechnet seinem Werk unsere „Europa-Hymne“ entnommen? In der Neunten Symphonie gibt es bekanntlich diesen schillernden „Kuss der ganzen Welt“ …

Übrigens: Wenn nicht neue Mutanten, Kriegstreiber oder andere Störungen der öffentlichen Ordnung auftauchen, dann gibt es in absehbarer Zeit bereits das nächste runde Beethoven-Datum, kein Jubiläum zwar, aber immerhin ein Gedenktag: Am 26. März 2027 jährt sich des gebürtigen Bonners Ableben in Wien zum zweihundertsten Mal. Das muss begangen werden. Wir beginnen gleich mit den Proben.

Verdrängter Kaiser

Auf dem gerade zu Ende gegangenen Katholikentag in Stuttgart wurde das dortige Denkmal für Kaiser Wilhelm I. mit rotem Tuch verhüllt. Damit wollten die Veranstalter auf den bösen „Kolonialismus“ aufmerksam machen, der sich angeblich mit dieser Person verbindet.

Ich bin – wieder einmal – erschüttert über das historische Rumpfwissen heutiger Protagonisten. Der Erwerb von Kolonien war im jungen Deutschen Reich nämlich durchaus umstritten. Im übrigen fungierte als der eigentliche „starke Mann“ im frisch geeinten Deutschland bis zu dessen erzwungenem Rücktritt faktisch eben nicht der Kaiser, sondern Reichskanzler Bismarck – und der hat sich in dieser Hinsicht, bei allen Schwankungen, letztlich dagegen ausgesprochen! Dass dieser Lotse 1890 von Bord gehen musste, ist dann bereits Wilhelms Enkel, dem gleichnamigen „Zwo“, anzukreiden – wenn man denn schon einen „Schuldigen“ sucht und sich nicht die Mühe machen will, auch ihn, den letzten deutschen Kaiser, differenziert zu betrachten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir nehmen die Tat laienhafter Kirchenaktivisten hier und heute daher lieber zum Anlass für eine skizzenhafte Würdigung des von katholischen Gutmenschen in der Schwabenmetropole verhängten und verdrängten evangelischen Blaublütlers, liegt doch der Geburtstag des Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen nun 225 Jahre zurück: Am 22. März 1797 erblickte der Prinz in Berlin dieser Welt Licht, nach dessen „Mehr“ auf den Tag genau 35 Jahre später der sterbende Goethe in Weimar verlangen sollte. Als zweiter Sohn des Kronprinzen und baldigen Königs Friedrich Wilhelm III. und dessen Gemahlin Luise schlug „Wilhelm der Große“ früh die militärische Laufbahn ein. Dass er einmal selber wegen der kinderlosen Ehe seines Bruders, des preußischen „Romantikers auf dem Thron“ Friedrich Wilhelm IV., erst König und dann sogar Deutscher Kaiser werden würde, hätte zunächst niemand gedacht.

Wilhelm I. war übrigens – was nicht hinreichend im geschichtlichen Allgemeingedächtnis gegenwärtig ist – ein Jahrgangsgenosse von so unterschiedlichen „Promis“ wie Annette von Droste-Hülshoff (+1848), Franz Schubert (+1828) und Heinrich Heine (+1856). Im Unterschied zu diesen verhältnismäßig früh Verstorbenen erreichte er das biblische Alter von fast 91 Jahren. Der in den Berliner Revolutionstagen 1848 fälschlicherweise als „Kartätschenprinz“ zu unrühmlichem Namen gelangte präsumptive Thronfolger wurde, nach einer dreijährigen Zeit als Prinzregent an seines erkrankten Bruders Statt, dann 1861 tatsächlich preußischer König. Mit Bismarck als Ministerpräsident begann bereits 1862 heftiger Streit: der Verfassungskonflikt um die Heeresreform.

Die darauf folgenden Waffengänge gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) wurden freilich im Sinne von „Preußens Gloria“ und der Einigung Deutschlands überaus erfolgreich. Kritischen Nachgeborenen erschienen sie allerdings als Erweis von Militarismus und Nationalismus. Wilhelm selbst aber soll geweint haben, als man ihm 1870/71 den Kaisertitel aufnötigte: Er sah in diesem Akt das alte Preußen untergehen, jene europäische Großmacht, die sich nach dem Zusammenbruch 1807 zu einem modernen konservativ-liberalen Staat entwickelt hatte.

Geburtshelferin dafür war niemand anderes als die Mutter des zehnjährigen Wilhelm gewesen, eben jene legendäre Königin Luise, die einzige Person im königlichen Tross, die seinerzeit den Mut aufbrachte, sich mit dem „Ungeheuer“ Napoleon I. im ostpreußischen Tilsit an den Verhandlungstisch zu setzen. Dessen Neffen, Kaiser Napoleon III., hat Luisens nunmehr und wider ursprüngliches Erwarten königlicher Sohn dann 1870 unter umgekehrten Vorzeichen nach der Schlacht bei Sedan als Ergebnis einer Unterredung im Weberhäuschen Donchéry als Kriegsgefangenen „ab nach Kassel“ geschickt …

Ein Jahr zuvor war der König zum Namensgeber einer ganzen Stadt erkoren worden. Der preußische Kriegshafen im Jadegebiet, dessen sumpfigen Grund man 1852/53 dem Großherzogtum Oldenburg abgekauft hatte, hieß entsprechend seit 1869 „Wilhelmshaven“. Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 ging diese Bezeichnung auch auf die benachbarte oldenburgische Stadt Rüstringen über. Wilhelmshavens Einwohner hatten dann sofort mit Kriegsbeginn 1939 unter gegnerischen Fliegerbomben zu leiden.

Wilhelm I. – wir sehen es am Schicksal der nach ihm benannten Stadt – hat eher in seinen Funktionen denn durch seine Persönlichkeit größere Wirkung erzielt. Das unterscheidet ihn von seinem politischen Gegenspieler Bismarck, über den der Monarch bemerkte, es sei nicht leicht, unter solch einem Reichskanzler Kaiser zu sein. Dennoch hat man ihn verehrt. Als er gestorben war und die geneigte deutsche Öffentlichkeit es mit dem lärmigen Enkel Wilhelm II. zu tun bekam, sangen viele Menschen: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!“

Umstritten war Wilhelm I. zu Lebzeiten gleichwohl. Fortschrittlichen galt er als Reaktionär, keinen Deut besser als sein Bruder, der 1849 die ihm vom Frankfurter Paulskirchenparlament angetragene Kaiserkrone „im Namen des Volkes“ abgewiesen hatte. Auch er, Wilhelm, der mehrere Attentate überlebte, wollte partout im Sinne des überkommenen Gottesgnadentums regieren und wusste es nicht anders. Diese äußerst konservative Grundhaltung fand allerdings in den liberalen Gedanken seiner Gattin, einer geborenen Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Königin und Kaiserin Augusta, einen gewissen Ausgleich. Die zwei Kinder des Ehepaares haben jedenfalls dahingehend gewirkt.

Tochter Luise wurde mit dem Großherzog von Baden verheiratet. Dieser brachte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles sein Hoch schlicht auf „Kaiser Wilhelm“ heraus und umschiffte so den bizarren Streit um die Frage, ob der preußische König zusätzlich nun „Deutscher Kaiser“ oder „Kaiser von Deutschland“ sein solle. – Sohn Friedrich heiratete Victoria („Vicky“), eine Tochter der englischen Queen Victoria. Die liberalen Grundsätze der beiden blieben Blütenträume. Als der Sohn Wilhelms I. 1888 die Nachfolge seines Vaters antrat, untersagte ihm Kanzler Bismarck überdies die Kontinuität aus tausend Jahren: Nicht Friedrich IV. durfte er sich nennen, sondern er musste die Numerierung gemäß der preußischen Königsfolge annehmen: So wurde er auch auf der Ebene des Reiches Friedrich III.

Sein früher Tod nach nur 99 Tagen als preußischer König und deutscher Kaiser ließ seine Witwe als „Kaiserin Friedrich“ jenes ideelle Erbe antreten, von dem der Sohn, Wilhelm II., nur wenig wissen wollte. Stattdessen begann nun das sogenannte „Wilhelminische Zeitalter“ mit all den Widersprüchen, die bis heute unsere Gesellschaft prägen. Eigenwilliges Fortschrittsdenken verband sich aber eben erst ab damals tendenziell mit moralischer Großmannssucht und geistiger Selbstzerstörung. Hier hätte die woke Diskussion um deutschen Kolonialismus im gesamteuropäischen Imperialismus einzusetzen, nicht vorher. Denn ab da geriet schließlich ganz Europa ungewollt in den großen Krieg, der als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gleich den Keim zum Zweiten Weltkrieg in sich trug.

Dass der Stuttgarter Katholikentag vergleichsweise schlecht besucht war, hängt sicherlich mit vielen Dingen zusammen. Die eindimensionale Sicht auf einen protestantischen Hohenzollern wird womöglich auch den öffentlichen Eindruck verstärken, dass die deutschen Volkskirchen beiderlei Geschlechts nicht mehr unbedingt Orte und Zeiten für geschichtlich geschulte Weisheit bieten. Wo bleibt verantwortungsvolles historisch-informiertes Nachdenken? Ein rotes Tuch – oder, mit Fontane briestig-preußisch gesagt, ein weites Feld …

War’s das?

Wir Deutschen haben eine Verteidigungsministerin, der alles Militärische erklärtermaßen fremd ist. Aber den Coronakrisenstab im Kanzleramt führt ein General an. Finde den Fehler.

Widersprüche, wohin der mündige Bürger auch blickt. Alarmsirenen funktionieren schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Überflutung des Ahrtals im Juli vergangenen Jahres mit vielen Todesopfern mitten im ach so sicheren Deutschland hat bisher keinen erkennbaren Ruck erzeugt. Dieser Missstand ist weder umgehend geschweige denn republikweit abgestellt worden.

Aber wehe, man vergisst, die Mundnasenbedeckung aufzusetzen, diverse Impfbescheinigungen mit sich zu führen oder gar ein „negatives“ Seuchentestergebnis in zwingender Verbindung mit der Vorlage des Personalausweises beizubringen. Dann kommt man noch nicht einmal in ein Pflegeheim, um nächste Angehörige zu besuchen.

Dass neuerdings in Supermärkten keine Masken mehr getragen werden müssen, wird von zwei Dritteln der Bevölkerung mitnichten als Befreiung empfunden. Da mag die Inflation auch bei den Discountern nun noch so heftig zuschlagen – diese Tatsache ist indes bisher kein großer Aufreger!

Die ältere Generation erinnert sich an durchlittene Aufenthalte in Luftschutzbunkern und Hauskellern, jede Nacht. Heutzutage gibt es gar keine Orte, wo man sich bergen könnte, wenn der Krieg in der Ukraine sich ausdehnen sollte auf andere Regionen in unserem gemeinsamen Haus Europa. Jenes Mantra, mit dem das westliche Nachkriegsdeutschland beschallt wurde: wir müssten aus der Geschichte lernen – man bedachte es, pädagogisch wertvoll, nie in dieser Hinsicht …

Gern hingegen wird Wert auf korrektes Gendern gelegt. Einer vormaligen Landesministerin, die verantwortlich zeichnete für entsprechende Entscheidungen während besagter Flut und nun auf Bundesebene für Familienpolitik zuständig ist, lässt man dafür lieber über hundert ertrunkene Kinder, Frauen und Männer durchgehen.

Während chinesische Politiker nichts dabei finden, mal eben ganze Millionenstädte mit international bedeutsamen Häfen im Namen der irren Zero-Covid-Ideologie unter Quarantäne zu stellen, blockieren in deutschen Metropolen jugendliche Wirrköpfe die sowieso schon weniger gewordenen intakten Lieferketten, indem sie sich auf Autobahnabfahrten festkleben. Natürlich für den Klimaschutz. Egal, ob Ware im LKW verdirbt oder der Krankenwagen nicht rechtzeitig zur Notfallstelle durchkommt. Solchen Straftaten durch eine Weltuntergangssekte begegnet die Bundesumweltministerin gar mit Respekt – wohingegen jegliche religiöse Formel bei der eigenen Vereidigung sorgsam vermieden wurde.

Der Bundeskanzler beordert seine Außenministerin von Beratungen der NATO in Brüssel vorzeitig zurück nach Berlin, um die Abstimmung im Bundestag zur Impfpflicht gegen Corona vielleicht doch noch in seinem Sinne zu drehen. Die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens wäre aber abzusehen gewesen: So bleibt der Eindruck, eine seit „Omikron“ auf das Niveau einer weithin herkömmlichen Erkältung abgesunkene Epidemie sei ungleich wichtiger als die Frage nach Krieg und Frieden.

War’s das? War is – DAS ist die Realität. Ja, liebes infantil gewordene Deutschland, so sieht’s aus!

Vier Frauen

Heute habe ich mir ein Foto angeguckt und ein Video reingezogen. Insgesamt vier prominente Frauen sah ich, eine davon hörte ich auch. Visuelles Fazit: Frau Kommissionspräsidentin (EU) und Frau Bundeskanzlerin (D) wollten wohl die Hosen anhaben, schmierten aber gegen die Queen (GB) klar ab. Warum eigentlich können moderne Damen keine schönen Kleider mehr tragen? Körperbetonte Dünne (EU) oder Dicke (D) machen sich sans culottes einfach nicht gut.

Kleidsam angenehmes Augenmaß (GB) wohnt hingegen auch der grünen Kanzlerkandidatin (D) inne. Sie trägt überzeugend schön betont weibliches Outfit, und vielleicht hört der männliche Teil ihrer Fans deshalb über so manchen sprachlichen Schnitzer großzügig hinweg. Ob „Technogie“ oder „Keifpreis“: Technologie hat ihren Kaufpreis – und ein tech-no-gieriges Geschrei ist sowieso ein Widerspruch in sich.

Die green queen der Herzen jedenfalls wäre mir armem Sünder um ein wallendes Haar fast nachgerade DIE Motivation geworden, ihre Partei am kommenden 26. September tatsächlich auf dem Wahlzettel anzukreuzen. Aber ich muss wohl leider davon Abstand nehmen: Zwar trägt die Spitzenfrau ein wunderbares rotes (!?) Kleid, doch die Stümme einer nicht mehr freien, sondern bloß noch „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ nervt total.

Ich sage das hier ganz frei heraus. Blumen kleiden sich bibelbekanntlich und gesangbuchvertraulich sowieso besser als Salomonis Seide. Ob die nun feminin oder auch vereinzelt sogar maskulin sind, muss nieman(n)/frau/de/n groß kümmern. Aber rhetorisch könnte ein Menschenkind gegenüber selbst üppigster Flora herr/frau/lich punkten: Doch sogar dort, wo der Bär steppt und der Bock sich zum Gärtner umstilisiert, endet der medientaugliche Auftritt im Abtritt deutlich hörbar im nicht ganz so vermittelbaren Ausspruch des unaussprechlichen Sch…-Wortes.

Wir sollten es, vornehm wie wir sind, ein wenig französisieren und also G7-tauglich machen – für unser Kommissionsröschen sowie für unsere Kanzlerprimel; für die Königin indes zum souveränen Überhören im gesamten Commonwealth. Leider nicht ignorierbar – sie hat es tatsächlich gesagt – ist das vermaledeite Wort im Munde einer – nein: – DER Kanzler/in/willigen aus eigenem Völkerrecht vulgo: Merde.

Zwanzig/Einundzwanzig

Es klingt in den Ohren von besonders sensiblen Mitmenschen vielleicht ein wenig nach „Siebzig/Einundsiebzig“, aber das ist durchaus beabsichtigt. Noch war der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 offiziell nicht beendet, Kaiser Napoleon III. jedoch bereits seit Monaten abgesetzt, da begann am Neujahrstag 1871 auf dem Papier die Existenz des Deutschen Reiches. Die Ausrufung des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles erfolgte dann am 18. Januar. Einerlei für Reichskanzler Bismarck: Der nachgereichte und entsprechend hastig improvisierte Pomp bestätigte lediglich nur einmal mehr die schlichte Tatsache, dass es den lange angestrebten deutschen Bundesstaat nun wirklich gab.

Einhundertfünfzig Jahre ist das jetzt her. Der heute regierende französische Staatspräsident sprach im März 2020 von einem „Krieg“, in dem wir uns befänden – gegen das Coronavirus, dem man mit allerlei Maßnahmen denn auch begegnete. In Frankreich, Italien, Spanien und Belgien etwa wurden und werden regelrechte Ausgangssperren verhängt; hier in Deutschland ist es bisher weniger hart, weswegen der Begriff „Lockdown“ (Einschluss, Einsperrung, Polizei und Militär auf den Straßen zur Überwachung) unzutreffend ist: Man sollte besser von „Shutdown“ (Schließung von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen) sprechen. Nun werden viele der verhängten Bestimmungen in unser Neues Jahr 2021 hinein weitergelten. Insofern dauert Macrons rhetorische Positionierung an. Auch „2020/21“ lässt sich demnach in einem Atemzug lesen und sprechen.

Reden wir aber von Dingen abseits jenes mexikanischen Maisbieres, dessen Schöpfer in den 1920er Jahren seine Treue zur spanischen Krone bekräftigen wollte, weswegen er es „Corona“ nannte. Denn das Neue Jahr Anno Domini MMXXI hält viele Jubiläen und Gedenktage bereit. Aus ihnen habe ich pro Monat ein Datum ausgewählt. Es geht im Januar, wie gesagt, los mit der Reichsgründung 1871 (vor 150 Jahren). Sodann: Ab dem 25. Februar 1721 erschien die „Berlinische Priviligierte Zeitung“ (ab 1751 „Vossische Zeitung“) dreimal wöchentlich (vor 300 Jahren). Am 3. März 321 erklärte Kaiser Konstantin den Sonntag zum allgemeinen wöchentlichen Ruhetag im Römischen Reich (vor 1700 Jahren). Am 17. April 1521 sprach Martin Luther in Worms vor Kaiser und Reichsständen (vor 500 Jahren). Am 6. Mai 1871 wurde Christian Morgenstern geboren (vor 150 Jahren). Im Juni 1796 spielte der fünfundzwanzigjährige Ludwig van Beethoven Klavier vor dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. in Berlin (vor 225 Jahren). Am 1. Juli 1696 wurde Gottfried Wilhelm Leibniz fünfzig Jahre alt (vor 325 Jahren, nach dem gregorianischen Kalender; demnach im Juni julianisch/im Juli gregorianisch 1616 geboren, vor 375 Jahren). Am 15. August 1771 kam Sir Walter Scott zur Welt, der „Erfinder“ des historischen Romans (vor 250 Jahren). Am 11. September 2001 war „Nine-Eleven“ (vor 20 Jahren). Am 11. Oktober 1896 starb Anton Bruckner (vor 125 Jahren). Rückwirkend zum 1. November 1946 wurde das Land Niedersachsen gegründet (vor 75 Jahren). Am 10. Dezember 1971 erhielt Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis (vor 50 Jahren).

Wem dies an Fest- und Gedenktagen nicht genügt, dem habe ich noch etwas nachzureichen. Seit drei Jahren ist es in manchen hochgebildeten Kreisen eine Gaudi, besondere Ereignisse durch Schnapszahlen zu ermitteln, vorzugsweise dreistellig. So wurde 2018 der dreihundertdreiunddreißigste Geburtstag von Johann Sebastian Bach feierlich-fröhlich begangen. Dadurch angeregt habe ich mich umgesehen und bin auf überwiegend politische Daten gestoßen: 1910 wurde in Portugal die Erste Republik errichtet (vor 111 Jahren). 1799 erschien anonym das Buch „Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“, rasch identifiziert als ein Werk von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher; außerdem erlebte die Welt den 18. Brumaire des Jahres VIII im französisch-republikanischen Kalender, also den 9. November 1799: Staatsstreich von Napoléon Bonaparte (vor 222 Jahren). Ab Mai 1688 kam es zur „Glorious Revolution“ in England (vor 333 Jahren).


Was Schnapszahlen anbetrifft, so kann ich leider nur zweistellig dienen. Vor 33 Jahren wurde dieser damals 22-Jährige oben im Gebirge gestellt, abgelichtet und also dokumentiert. Die nachgerade zarathustrische Heiterkeit unzeitgemäßer Betrachtungen ist durchaus beachtenswert und kann sich gern überallhin verbreiten. Besser ist immer ein Lachen Nietzsches (vor 150 Jahren, als Professor in Basel, war er noch nicht ganz soweit, das änderte sich in der Folge). Sicher sind wir in jedem Fall bei August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der das „Lied der Deutschen“ 1841 dichtete (vor 180 Jahren; Quersumme 9, also 3×3, insofern auch ein bisschen schnapsig), und der in seinem Spätwerk die Coronaworte fand: „Der größte Lump im ganzen Land, / das ist und bleibt der Denunziant.“ Aber nun hoffen wir mal großzügig, dass solche finsteren Wahrheiten im Jahre 2021 gar niemand aussprechen muss – weil tout le monde freundlich und sachlich bleibt. In diesem Sinne: Frohes Neues Jahr!

Beethoven light

Cosima Wagner geschiedene von Bülow aufgewachsene Liszt geborene d’Agoult war Ende des Jahres 1870 der Meinung, der deutsch-französische Krieg selbst sei die Feier von Beethovens hundertstem Geburtstag. Dies schreibt Martin Gregor-Dellin in seinem roman vrai, der 1980 erschien und auch deswegen so viel Resonanz fand, weil in diesem biographischen Meisterwerk erstmals die wenige Jahre zuvor erschienenen Tagebücher der zweiten Ehefrau des Protagonisten Richard Wagner mitberücksichtigt und verarbeitet wurden, wenn auch oft ironisierend und insofern weniger der historischen Treue denn dem romanhaft Erforderlichen verpflichtet.


Dennoch ist es unzweifelhaft, dass Beethovens Musik im Jubiläumsjahr damals für etliche militärisch bedingte Siegesfeiern herhalten musste. Damit wurde die reichliche deutsche Idee befördert und verwirklicht: Die Reichsgründung zum 1. Januar 1871 war dann nur der längst fällige Verwaltungsakt. Aus Blut und Eisen, aus den Trauermärschen der As-Dur-Sonate Opus 26 sowie der Eroica-Symphonie, aus isolierten martialischen Klängen etlicher anderer Beethovenschen Kompositionen heroischen Inhalts formte der nunmehrige Meister aus Bayreuth seine dann für die Zukunft maßgeblichen Festspielmusiken. Nach seinem Dahinscheiden 1883 gab Cosima gemäß einem selbstauferlegten Gelübde das Tagebuchschreiben auf und war fortan, bis zu ihrem eigenen Tod 1930, als gebürtige Französin und Tochter des hochberühmten Franz Liszt die „Herrin des Hügels“, sehr deutsch und immens geschäftstüchtig. 

Nun, einhundertfünfzig Jahre nach jenem Krieg, dem in Frankreich die Dritte Republik folgte und in Deutschland dank französischer Reparationszahlungen die „Gründerzeit“ des zweiten Kaiserreichs unter dem allgewaltigen Kanzler Otto von Bismarck … – also nun, anno 2020, zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag Beethovens, harren wir einer ganz anderen und nie gekannten geschweige denn erahnten Ehre des musikalischen Genies: Corona lässt den Gedanken zu, bundesweit ab 16. Dezember Schulferien zu erteilen. Das ist unendlich mehr als das kriegerische Brimborium 1870! Nun könnten sogar die Kinder, Halbwüchsigen und Jungerwachsenen sich freizeitmäßig und weihnachtlich zugleich der Musik Beethovens widmen – nicht länger bloß pflichtgemäß im Unterricht, wenn die Fünfte oder die Neunte langweilen, sondern richtig aktiv … aber wie genau? Ach ja, alles Diesbezügliche ist leider untersagt. Konzerthäuser bleiben zu, Ensemblemusik und Orchester-oder Chorproben sind verboten, der Jubilar ist zum Schweigen verdammt. Unsere Kultur wird gerade insgesamt abgewickelt, ohne Rücksicht auf Verluste. Alles, was an Hygienekonzepten kostenintensiv in den letzten Monaten auf die Beine gestellt wurde, wird grausam ignoriert.

16. Dezember 1770 / 2020: Zweihundertfünfzig Jahre nach seiner Geburt ist somit auch Ludwig van Beethoven gesellschaftlich ausgezählt und entsorgt. Was Thomas Mann im Roman „Doktor Faustus“ 1947 mit seinem alter ego Adrian Leverkühn vorausahnte: die Musik humaner Herkunft womöglich zurücknehmen zu müssen – es wird unter völlig anderen Voraussetzungen nun zu bitterer Wirklichkeit. Übrigens ist das Kapitel, in dem Martin Gregor-Dellin in seinem Buch über den selbsternannten Beethovenvollender Richard Wagner das Jahr 1870 beschreibt, nach einem Begriff aus Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) betitelt und lautet: „Machtgeschützte Innerlichkeit“. Freilich wird dies wohl dem Wagner-Clan, mitnichten jedoch dem historischen Beethoven gerecht: Der stand zwar unter der Protektion adliger Gönner – doch innerlich glühte er bis zuletzt gegen alle Machtgeschütze und durchschlug mit seiner Musik jede ständisch-angemaßte Selbstgefälligkeit. Wäre doch schön, wenn der Jubel über vorzeitige Ferien sich mit einer irgendwie artikulierten hommage à Beethoven produktiv verbinden könnte.

Update 26. November 2020:  Der 16. Dezember ist es nun leider nicht geworden. Kein Ferienbeginn an Beethovens Geburtstag. Hier wurde die Chance verpasst, trotz aller derzeitigen musikalischen Aufführungsverbote zumindest pädagogisch wertvoll die unmittelbare Freude wirken zu lassen, die der 250-Jahres-Jubilar ausgeströmt hätte. „Beethoven ist cool – seinetwegen gibt’s mehr Ferien“: solch junges Lob fällt nun aus.

Mauerdurchbruch

Als vor dreißig Jahren infolge einer Verkettung glücklicher Umstände – ich sage nur: Schabbi „unverzüglich“ – am Grenzübergang Bornholmer Straße die Berliner Mauer unter dem Druck der versammelten Menschen geöffnet wurde, lag Deutschlands Zukunft in unbekannter Form und Ferne ganz weit weg. Glücksmomente sind reine Gegenwart. Von solch einer Beschaffenheit war der Abend des 9. November 1989.

Der sprichwörtliche Himmel über Berlin, cineastisch bereits zwei Jahre zuvor in aller Munde – ich sage nur: „Kind“ Handke – , strahlte tagsüber prächtig, noch viele Wochen in jener Zeit. Er beschien ausgemusterte Elektrowaren, die nun an begeisterte DDR-Bewohner verkauft werden konnten; er blickte freundlich auf das menschliche Gewimmel am Kurfürstendamm; er sah hell in sich umarmende westöstlich vereinte Deutsche unterschiedlicher Staatsangehörigkeit; und er meinte es offensichtlich gut mit allem, was kommen würde.

Günter Schabowski (auf einer Pressekonferenz zum neuen Reisegesetz der DDR) und Peter Handke (diesjähriger Literaturnobelpreisträger, man lese und höre wieder einmal das „Lied vom Kindsein“ in der Rezeption durch den Filmemacher Wim Wenders) haben auf je ihre Art unwissend Mut gemacht: 1987 dachte nur Präsident Reagan bei seinem Berlinbesuch das Undenkbare – ich sage nur: „Tear down this wall“ – , verlacht von allen Westdeutschen, die es sich in der Zweistaatlichkeit bequem gemacht hatten. Und 1989, am frühen Abend des zweiten Donnerstags im elften Monat, wurde aus der trockenen Ankündigung, dass man eine neue Regelung gedenke einzuführen, derzufolge künftig DDR-Bürger ohne besonders begründeten Antrag in den Westen reisen könnten, durch die Nachfrage eines italienischen Reporters – ich sage nur: „Wann“ tritt die in Kraft? – eine unumkehrbare Abstimmung mit Trabbis und Füßen.

Vom damaligen „Ende der Geschichte“ sind wir nunmehr, trotz 2001-Nine-Eleven und nachfolgenden weltweiten Kriegen wie Flüchtlingsströmen, schlafwandlerisch doch irgendwie im „Kampf der Kulturen“ gelandet, auch wenn das derzeit viele nicht hören wollen – ich sage nur: „Wir schaffen das“. Die Deutschen, 1989/90 „das glücklichste Volk der Welt“ – ich sage nur: Mauerfall, Fußballweltmeister, Wiedervereinigung – sind seit einiger Zeit dabei, alles „Nationale“ über Bord zu werfen. Dabei übersehen sie in ihrem Wunsch nach Buntheit und Vielfalt, dass zum Leben und Lebenlassen die jeweils einzelne, also persönlich-individuelle Geburt gehört, welche in ganz handfeste, klar bestimmbare familiäre, sprachliche, religiöse, traditionelle, kulturelle und – nachgelagert – auch staatliche Zusammenhänge hinein sich ereignet. Was der tiefe herzerschütternde und tränentreibende Grund zur Freude 1989 war – ich sage nur: Willy Brandts Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – , soll in der heutigen multikulturell umgeformten Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Wirklich nicht?

Entsprechend wirr ist die Rückseite der Zwei-Euro-Sonderprägung – ich sage nur: Die D-Mark musste in der Verhandlungsfolge „2 plus 4“ dran glauben – zum Mauerfalljubiläum ausgefallen. Die jubelnd hochgereckten Hände vorm Brandenburger Tor mögen den Glücksmoment ansatzweise einfangen; aber eine deutende Grundierung bleibt in dieser künstlerischen Darstellung weitgehend aus.

mauerfall

Sei’s drum. Wie gut, dass meine Zigarettenbüchse, in welche ich die Tabakwaren stets nach deren Erwerb „sofort“ wegen der mir unerträglichen – ich sage nur: „pädagogisch wertvollen“ – Ekelbilder hineinumsortiere, mit einer unregelmäßig weißgesprenkelten Oberfläche auf blauem Grund eingefärbt ist – ich sage nur „Europa“! Man müsste Latein sprechen können – ich sage nur nati bzw. nasci: geboren werden – , dann wäre gedanklich vieles besser einzuordnen. Denn nicht nur die deutsche Geschichte ist vom 9. November geprägt – ich sage nur: 1848, 1918, 1923, 1938, 1989 – , nein, auch außerhalb unseres Sprachraums ist dieses Datum von Bedeutung.

Am 18. Brumaire VIII, also 9. November 1799 putschten die Gebrüder Buonaparte, Lucien und Napoléon, erfolgreich gegen das Direktorium und erklärten die Französische Revolution offiziell für beendet. Der neue „starke Mann“ – ich sage nur: Konsul, Kaiser, Kriegsherr – hielt das verängstigte restliche Europa noch viele Jahre in blutigem Schach; „das Böseste, was es gibt“ – ich sage nur: Vor dem Sturm (Fontanes erster Roman) – , konnte erst mit dem Wiener Kongress unschädlich gemacht werden. In der politisch bleiernen Restaurationszeit ab 1815 geriet vieles an fraglos positiven, zumindest auf dem Papier existierenden Errungenschaften der Ersten Französischen Republik tragischerweise in Vergessenheit, ja im Lauf des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sogar in Verruf: Die bürgerliche Gleichstellung der Juden gehört dazu …

Der 9. November ist für viele Menschen in aller Welt aber auch ein hoher Festtag, und zwar in der römisch-katholischen Kirche. An jenem Tag im Jahr 324 wurde die Mutter und das Haupt aller Kirchen der Stadt Rom und des Erdkreises feierlich geweiht. Bischof Silvester und Kaiser Konstantin richteten auf dem Baugrundstück der alteingesessenen Familie Laterani ihre Gebete an den Salvator direkt – ich sage nur: Gut evangelisch! – ; die Patrozinien von Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten traten ergänzend hinzu. So kennen wir das Gotteshaus bis heute unter dem Namen San Giovanni in Laterano: Die Lateranbasilika war bis zum Großen Abendländischen Schisma 1309 die Papstkirche. Vom Vatikan war kaum die Rede.

Bau – ich sage nur: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ und Fall – ich sage nur: „O Durchbrecher aller Bande“, unvorstellbar bis zum besagten glorreichen Augenblick – : Beides ist im Blick auf die innerdeutschen tödlichen Grenz- und Sperranlagen gottlob Vergangenheit. Wenn es gegenwärtig so etwas wie zukunftsoffene tatkräftige Ökumene im Sinne einer weltweit und himmelwärts gedachten Ahnung des Unendlichen geben sollte – dann sage ich nur: Seid wachsam und bleibt dankbar.

Foto: Münzfester deutsch-deutscher Freudentaumel. Die Ereignisse am 9. November im deutschsprachigen Raum: 1848 Hinrichtung des Abgeordneten zum Paulskirchenparlament Robert Blum in Wien. 1918 Abdankung des Kaisers Wilhelm II., Ausrufung der Republik in Berlin. 1923: Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München. 1938: Judenpogrome in ganz Deutschland – der Staat als Terror- und Mörderbande. 1989: Fall der innerdeutschen Grenzen – Anfang vom Ende der kommunistischen DDR-Diktatur.

Suite gothique contre „Gilets jaunes“

Gelbwesten rumoren revolutionär – ohne Worte, dafür autoaggressiv. Frankreich, das Mutterland der Gotik, zerlegt sich selbst. Hier ein langer Text aus dem Sommer 2016, vielleicht nach wie vor lesenswert – wenn denn noch christliche Geduld vorhanden ist …

Manchmal im Leben sind wir stark. Besonders dann, wenn man es uns gar nicht zutraut. In jungen Jahren können Höchstleistungen heranreifen, ohne dass es so richtig bemerkt wird. Vorzug der Jugend ist es ja seit unvordenklichen Zeiten, Dinge auszusprechen, die später lieber ungesagt wären und dann im Nachgang autobiographisch aussortiert werden möchten. Daher wurde immer schon viel eliminiert, durch Verbrennen von Tagebüchern und Briefen, im Abstreiten mündlicher Einlassungen oder gar in autoritär veranstalteten Vernichtungsaktionen umfassender öffentlicher Art und Weise.

Eine darauf indes unvermutet dennoch folgende Trauerphase ob der persönlichen wie gesellschaftlich-historischen Verluste wurde in der guten alten Zeit gern kompensiert in familiär stilisierten Erzählungen nach dem Motto „Weißt du noch?“ – oder in wunderbar fragwürdigen, zeitweilig in Mitteleuropas architektonischem Kunstgeschmack allgemein angenommenen Formen von Neorenaissance oder Neugotik.

Das neunzehnte Jahrhundert lässt sich einfach nicht abschütteln; es ist präsent bis heute hin. Neulich war ich einmal wieder in Goslar, und die weitgehend neuromanische Kaiserpfalz hat es mir erneut ganz heftig angetan. Da störte auch das Standbild von „Wilhelm dem Großen“ in keiner Weise. Man muss das alles nur zu deuten wissen. Einen bösen „Nationalismus“ aus den Statuen und Gemälden von Staufern und Hohenzollern abzuleiten wäre ganz grober Unfug. Dass genau dies aber heutzutage oftmals geschieht, sobald „Deutschland“ ins Spiel kommt, bis in die Jugendorganisationen etablierter Parteien hinein, offenbart eine Geschichtsvergessenheit, bei der zweifelhaft wird, ob man ihr überhaupt noch irgendwie beikommen kann.

Heutige Geschichtsvergessenheit schreit zum Himmel

Da fordert also die „Grüne Jugend“ den Verzicht auf selbstbewusstes Präsentieren der schwarz-rot-goldenen deutschen Farben. Sie weiß ganz augenscheinlich nicht, dass diese Trikolore für Vormärz und 48er-Revolution steht. Ihr ist völlig ungeläufig, dass das zweite Kaiserreich diese Fahne ablehnte und das „dritte“ Reich sie gnadenlos bekämpfte. Stattdessen empfiehlt eine Sprecherin das Schwenken von grünen – ähm: Tüchern, sozusagen. Nun, sie kann ja, wenn sie das präferiert, gern nach Saudiarabien auswandern; keine Staatsflagge der Welt ist grüner als die der neureichen Wüstendiktatur, die zwischen dem Glamour marmorn-morgenländischer Geheimnistuerei und dem blutrünstig-radikal Bösen hinundherpendelt und uns, den ach so aufgeklärten, aber zugleich ölgierigen Westen seit langem schon zum Narren hält.

Um unser einundzwanzigstes Jahrhundert zu verstehen, ist ein Blick ins neunzehnte saeculum nicht unangezeigt. Wir sind ja zu Recht hilflos bestürzt, dass der sogenannte „Islamische Staat“ jahrtausendealte Kulturdenkmäler zerstört hat. Assyrische und babylonische Paläste und Plastiken, griechisch-römische Säulenstraßen, jüdische Synagogen, christliche Klöster und sogar Heiligtümer der eigenen Religion wurden im Namen eines gnadenlos grausamen Wahhabitismus dem Erdboden gleichgemacht – von den Qualen durch diese Ideologie bei den betroffenen einzelnen Menschen gar nicht erst zu reden.

Alles, was wir aus sicherer Entfernung von Kindesbeinen an über Sindbad den Seefahrer, Aladin und die Wunderlampe und Hadschi Halef Omar kennengelernt hatten, dieser ganze Zauber von Tausendundeiner Nacht oder nemsischer Reiselust erweist sich derzeit als fata morgana riesigen Ausmaßes. Der alten arabischen und osmanischen Welt, wie wir sie aus den Büchern vom neunten bis zum neunzehnten Jahrhundert kannten, wird gerade der finale Todesstoß versetzt. Damit verschwindet übrigens auch die gesamte biblische Atmosphäre, wie sie sogar noch Pate stand für ihre eigene Interpretation im kritischen zwanzigsten Jahrhundert.

Die halbe Menschheit, die bisher ihr Leben einigermaßen unbedarft aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments oder aus dem Koran bezog, blickt heutigentags, so sie sich dem Geschehen aussetzt, in einen furchtbaren Abgrund. Sie erkennt: Zu oft wurden heilige Überlieferungen von ihren eigenen glühendsten Verteidigern missbraucht für egoistische Zwecke. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, der Dreißigjährige Krieg oder die jetzige Vernichtung des Nahen Ostens sind ihre traurigen herzzerreißenden Ergebnisse. Zeloten, alte Schweden und neue Islamisten sind anzuklagende Beispiele dafür, wie aus falschem unerbittlichem Schriftverständnis heraus am Ende dann die jeweils benutzte Religion im Ganzen zum Objekt aufklärerischer Verdammnis wurde.

Als ob das Leben wirklich schöner wäre, wenn es so gänzlich keinen Gottesglauben mehr gäbe. Die einfachen und frommen Bewohner der Vendée haben bis heute in den Geschichtsbüchern keine sonderlich vernehmbare Stimme; und die Menschen in den Weiten Russlands erst recht nicht. Wo immer aber die Revolutionsarmeen eindrangen, war das Maß an Verblendung und Mordlust nicht weniger ausgeprägt als bei all den Kreuzrittern oder Dschihadisten alter und neuer Zeit.

Bekanntlich ist die Aufklärung selber spätestens in dem Moment ad absurdum geführt worden, als Robespierre den „Kult des Wesens der höchsten Vernunft“ anordnete und alle anderen Glaubensweisen blutig verfolgte. Der Turmspitze des Straßburger Münsters wurde eine riesige Jakobinermütze übergestülpt – Urbild moderner Propaganda? Jedenfalls werden seitdem immer wieder politische Einrichtungen erhoben und verabsolutiert, etwa nach dem Motto: „Die Partei hat immer recht“ – oder dem massenhaften Schlachtruf: „Vive la République“ (der ja weniger eine demokratische Verfassung lobt denn eher ein System, dessen Träger und Repräsentanten in Eliteschulen herangezogen sind).

Und natürlich haben alle schlauen wie mächtigen Egomanen seit jenen aufbegehrenden Zeiten von den beiden damals frisch erfundenen Errungenschaften Guillotine und Marseillaise in irgendeiner Weise „gelernt“, ob sie sich nun glaubensfeindlich oder superfromm gaben: Napoleon, Hitler, Stalin, Mao, Kim Il Sung (nebst Dynastie), Ceausescu, Khomeini, Gaddhafi … Notabene: Mit des Letztgenannten „Grünem Buch“ könnten die Bewegten aus der Ecke der aktuellen junggrünen Spielverderber ja auch noch wedeln – ein Vorschlag zur Güte und für systemgerechten ideologischen Ausgleich.

Nach allem Furor kam – das neunzehnte Jahrhundert

Nach allem französischen Furor kam aber dann: das neunzehnte Jahrhundert! Mental – nicht kalendarisch – gefasst, begann es mit dem Wiener Kongress 1814/15 und endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Kaum eine Epoche ist bis heute derart verächtlich gemacht worden wie dieses Zeitalter. Für so ziemlich alles, was im zwanzigsten Jahrhundert aus dem Ruder gelaufen ist, hat man dessen Vorgänger die Schuld gegeben. Wie praktisch, weil für die Nachgeborenen der seinerzeit neu entstandenen industrialisierten Welt so entlastend!

Wir lasen Hauptmanns „Weber“, ohne wahrzunehmen, dass das eben kein Heine-gezeugtes klassenkämpferisches Theaterstück sein wollte. Wir mokierten uns über die historistischen übereifrig hingebauten Häuser, ohne darin eine captatio benevolentiae oder gar einen Anflug von sehnsüchtiger Erinnerung an „schöne, glänzende Zeiten“ zu sehen. Wir ignorierten im nachhinein die schöpferische Phantasie und den ungestümen Wagemut der jenes Jahrhundert vorbereitenden Frühromantiker – obwohl wir ähnlich fühlten, ohne dies uns einzugestehen. Wir beriefen uns hierbei skeptisch-altkug auf Goethe, der ja bereits im voraus den Jungs namens Hardenberg oder Tieck oder Wackenroder alle literarische Kompetenz abgesprochen und sogar die Veröffentlichung eines Textes wie „Die Christenheit oder Europa“ von Novalis tatkräftig verhindert hatte.

Woher diese Verachtung? Vielleicht ist unserem deutschen kriegsversehrten Bewusstsein jegliches Denken in großen Linien allzu gründlich abhanden gekommen. Die Nachkriegswelt musste ja mit den nicht wieder zu heilenden Wunden des Dritten Reichs, mit unentschuldbaren Brüchen, die weder äußerlich noch innerlich abzuleugnen waren, doch irgendwie weiterleben. Wie um in der daraus resultierenden bodenlosen Aggression gegen sich selbst die eigene verpfuschte dunkle Geschichte noch zu zementieren, wähnte man, dass sogar Erhaltengebliebenes ein Ende haben müsse, und riss in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehr Häuser ab, als überhaupt durch die schrecklichen Fliegerbomben untergegangen waren. Das betraf vor allem Bauten aus der Gründerzeit und dem Wilhelminischen Zeitalter.

Dem amerikanisierten Ideal von „Fortschritt“ opferte die Wirtschaftswundergesellschaft eine bis dahin gesamteuropäisch konsensfähige urbane Struktur und Kultur – und das Wort der Mitscherlichs von der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ verhallte 1965 zunächst völlig ungehört. Erst zehn Jahre später, im Internationalen Jahr des Denkmalschutzes, nachdem die weltläufige Kleinteiligkeit bürgerlicher Lebensformen einschließlich schmiedeeisernen Jugendstiltoren oder säulengestützten schwarzen Klavieren längst unwiederbringlich in den Orkus der „autogerechten Stadt“ und der „Bildungsreformen“ gejagt worden war, setzte das große Jammern ein.

Im Unterschied etwa zu den anno 1797 anonym erschienenen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ oder zu Goethes Gedanken über das Straßburger Münster (bereits 1772) waren die Konzepte nachdenklich und wehmütig gewordener westdeutscher Bürger indes unfähig, sich positive Leitbilder aus der versunkenen Geschichte heranzubilden. Wie auch, wo gerade das im Krieg unzerstörte Villenviertel einer Stadtautobahn oder der vom Bombenhagel verschonte alte Baumbestand des beliebten Kaffeegartens einer U-Bahn-Baustelle hatte weichen müssen? Die Wunden waren zu frisch geschlagen. Und die verantwortlichen Bauräte befanden sich noch lange in Amt und Würden.

Alt ist per se weder schlecht noch tot

Besser ist die Maxime: Lasst die Lebenden leben, aber die Toten nicht im Tode bleiben. Wer jetzt in der Pflicht steht, soll tun, was er nicht lassen kann und darf. Aber wer gestorben ist, kann sich auf Veränderung seines Zustands freuen. Und das heißt, gewendet auf unser Thema: Eine Gesellschaft mitsamt ihrem baulich-künstlerischen Ausdruck ist nicht einfach deshalb obsolet, weil sie etwa alt und somit vermeintlich bedeutungslos wäre. Nicht alles Soignierte ist sofort senil. Wer schon einmal in Siena war, weiß, wie zukunftsträchtig die Pflege des Alten sein kann. Liebevoll gehegte Tradition besitzt eigenen Wert, und da hätte man bei uns in Deutschland viel mehr von den italienischen Städten lernen und beherzigen können, als man es tat, da noch Zeit zum Bewahren gewesen wäre.

Sehen wir auf die Baugeschichte nördlich der Alpen, dann kommt mir ein Lexikonartikel von vor über hundert Jahren in den Sinn. Unter dem Stichwort „Gotischer Stil“ wird da nicht auf Abbruchkanten genäht, sondern ein heutzutage weithin für unmöglich gehaltener großer Zusammenhang aufgezeigt. Aus dem romanischen Stil wird durch Überspitzung der Bögen, erstmals in Nordfrankreich, die gebaute Sehnsucht nach dem himmlischen Jerusalem manifester denn je.

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Diese Kunst verbreitet sich über Mitteleuropa und auf die britischen Inseln und bleibt über fünfhundert Jahre der vorherrschende Stil, bis in „nachgotische“ Ausläufer des siebzehnten Jahrhunderts hinein. Im achtzehnten Jahrhundert taucht sie wieder auf in englischen Herrenhäusern und wird wenige Jahrzehnte später zum typischen Stil auch auf dem europäischen Festland für Kirchen, Burgen, öffentliche repräsentative Gebäude, Fabriken und Wohnhäuser –

– und sie lebt, so füge ich nun hinzu, zumindest virtuell weiter in den Welten etwa von Gotham City … Die erdachte Heimatstadt von Batman ist trotz aller goddam-Düsternis cineastisch-architektonisch alles andere als reizlos. Im Zusammenwirken mit der Musik zum Film entsteht ein Kosmos jenseits wie diesseits von Gut und Böse, alles umfassend quasi von göttlich-gerechten Gewölbeschlüssen bis hin zu grauenvoll-gemeingefährlichen Gewalttaten. Maurerische Freiheitsrituale, misanthropische Fehlleistungen und mafiöse Fememorde ergeben in solch mittelalterlicher Finsternis einen furchtbaren Mix, ohne jeden Verdacht, menschenfern zu sein.

Die Gotik scheint hier ein in hohem Maße weltlich Ding zu sein, und solange Stockbrot und Schnabelschuhe, Jongleurskunst und Jokerlachen, Ritterrüstung und Ratsherrenpils veranstaltungstauglich und kassefördernd sind ob ihrer Popularität, – wird auch die dahinterstehende spitzbögig-spitzbübische Philosophie in, mit und unter uns leben, weben und sein. Die grellgeschminkten schwarzgewandeten traurigblickenden Gothic-Jünger vermischen unbedarft ihre hochaufragenden kathedralartigen Frisuren mit germanischem Brauchtum, die Errungenschaften von Flowerpower und Punk mit Haarfestiger und Druidenfuß, und sie würden nicht lachen, sondern ernsthaft zustimmen, stellte man an den Grenzen ihres geistigen Biotops das Schild auf: „Man spricht Gotisch“.

Aber wird da auch Fraktur geredet? Oder ist das alles bloß als „klosterbrudisierend“ abzutun, wie Goethe es einst tat mit den Aufsätzen von Wackenroder und Tieck? – Den Frühromantikern ging es um die Kunst an sich in ihrer leibseelischen Ganzheit. Italienbegeisterung und Nürnbergbewunderung gingen bei ihnen Hand in Hand, vorläufig noch ohne Festlegung auf einen bestimmten Stil. Dies änderte sich erst allmählich, und das hat auch ein bisschen mit der Westberliner Kiezkultur zu tun, die ihre Wirkungsstätten auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost aus dem Jahr 1975 wiederentdecken konnte – da waren Kreuzberger Mietskasernen abgebildet zur Feier des Internationalen Denkmalschutzes. Das gusseiserne „Kreuz“ auf dem „Berg“ indes wurde namensgebend vom Berliner Architekten Friedrich Schinkel Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als Memorial in neugotischen Formen errichtet.

Ob Michelangelo und Raffael einerseits und Albrecht Dürer andererseits den Besuchern der Oranienstraße jemals ein Bewusstsein für den Ort, da sie lebten, demonstrierten und zerstörten, vermittelt haben, sei dahingestellt. Schinkel war von beidem inspiriert, der klassischen Italianità und der altfränkischen Zunftkultur. Neue Wache und Friedrichswerdersche Kirche haben das aufstrebende Berlin gleichermaßen vorangebracht.

Den Schub in eine bestimmte Stilrichtung gab sicherlich die Wiederauffindung der originalen Baupläne zum Kölner Dom in den Jahren zwischen 1814 und 1816. Da wurde der von Berlin aus regierte preußische Staat in seiner frisch erworbenen Rheinprovinz historisch aktiv. Als die Kathedrale schließlich im Jahr 1880 fertig war, saß der Bischof in niederländischer Verbannung. Noch herrschte Kulturkampf, ultramontanistisch befeuert und wenig romantisch. „Nationale Größe“ wurde durchaus antiklerikal zelebriert, damals wie heute. Das dürfte extreme „Rechte“ wie „Linke“ gleichermaßen erfreuen.

Robert Schumann hat in der seit dem Reformationszeitalter brachliegenden Bauruine mit dem charakteristischen Kran auf dem Stumpf des Südturms im November 1850 eine Kardinalserhebung miterlebt und seine Eindrücke im als Feierlich bezeichneten vierten Satz seiner Dritten Symphonie verarbeitet: in festlich-düsterem Bläsersatz, in der ebenso satten wie seltenen klingenden Tonart es-moll. Gotische Polyphonie?

Nein. Die Musik lud sich zwar auf mit Vorbildern der Vergangenheit, ohne jedoch ausdrücklich nazarenisch zu werden (wie es teilweise in der Malerei geschah). Wagners bösartiger Spott über „Händelssohn-Bachtoldy“ richtete sich „nur“ gegen eine seiner Meinung nach billige Kopie barocker Formen und Harmonien – ins gotische Mittelalter stieß die musikalische Romantik damals gar nicht vor. Selbst die ein halbes Jahrhundert später (1895) entstandene „Suite gothique“ des Elsässers Léon Boëllmann ist für die zeitgenössische französische Konzertorgel gedacht und hat mit der Gotik genauso viel zu tun wie etwa Bachs „Dorische Toccata“ mit der gleichnamigen Kirchentonart geschweige denn Beschaffenheit antiker Säulenkapitelle.

Mit anderen Worten: Die Künste sollten, bei aller Bewunderung der „Alten“, doch schöpferisch und phantasievoll bleiben. Nicht auf detailversessene sklavische Nachahmung waren die echten Romantiker aus, sondern auf kreative Weiterentwicklung und freien Einsatz der mannigfaltigen Tradition. Allerdings erstarrten die geistreichen feuerflüssigen Lavamassen vom Beginn des Jahrhunderts dann doch weitgehend zu abgekühlten festen Gesteinen. Das „Eisenacher Regulativ“ aus dem Jahr 1861 ist so ein zementierender Ausfluss. Man legte fest, jede neu erbaute evangelische Kirche habe sich an einem historischen Stil zu orientieren, vorzugsweise am gotischen. Bewusst schlossen sich die Verfasser dabei dem altchristlichen Schema der Basilika an – und wollten so den Protestantismus in die große Überlieferungseinheit von Antike, Mittelalter und Neuzeit hineinstellen.

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Einerseits normiert, andererseits weiterentwickelt, in übertrieben zinnenbewehrten Rathausneubauten etwa, die gotischer daherkamen als ihre Vorgänger; oder in überdimensionierten Fabrikhallen, Bahnhöfen und Schulen, die kathedralähnlich anmuteten und dies auch sollten …: Sakrales und Säkulares wurde noch einmal versuchsweise zusammengebracht unter dem Schirm einer einheitlichen europäischen Kunst, deren Idee – man beachte es immer wieder – durch Architektur künstlicher Ruinen, hallender Internatskreuzgänge, großer Parlamentshäuser und industrieller Nutzgebäude aus England (!) zu uns über den Kanal herübergeschwappt war. Kreuzrippengewölbe allerorten, insular, mitteleuropäisch und nordamerikanisch so sehr en vogue, dass dieser Baustil tatsächlich zum Synonym für das neunzehnte Jahrhundert werden konnte.

Die Gotik hört einfach nicht auf …

Das zwanzigste saeculum weiß sich diesem unterschwelligen Traditionsstrom verbundener als es dies selbst in seinen klügsten Stimmen bisher je zugegeben hat. Pars pro toto sei an den aus Bremen stammenden Künstler Heinrich Vogeler (1872-1942) erinnert, dem die Gotik in dem Maße bedeutend wurde, je mehr sie faktisch in ihrer neugotischen und zugegeben allzu fialenverliebter Spielart dem Spott der Gebildeten unter ihren Verächtern ausgesetzt war. Der Kaufmannssohn hatte um die Jahrhundertwende sich ein Paradies auf Erden erschaffen im Worpsweder Barkenhoff – da passte einfach alles zusammen, von der Kommode im umgebauten und repräsentativ erweiterten Bauernhaus über das impressionistische Ölgemälde im Esszimmer bis hin zum Baumbestand und zur Blumenvielfalt umzu … Jugendstil war das Zauberfaktum, ornamental und eben alles andere als gotisch-zackig!

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Diese Traumwelt von Selbstverwirklichung – noch ehe es solchen Begriff gab – befriedigte und befriedete aber nur vorübergehend. Vogeler war so sehr christlich geprägt, dass er nicht nur dem Kaiser ein pazifistisches „Märchen vom lieben Gott“ zueignete, sondern auch ganz praktisch die Folgen des Krieges auf seinem eigenen Gut bearbeiten und lindern wollte. Aus dem Barkenhoff wurde eine kommunistische Lebensgemeinschaft; die bis dahin gehegten und gepflegten bürgerlichen Schätze wurden verhökert oder „sozialisiert“. Den vornehmen Park des Anwesens grub man zu Ackerland um, der vormalige Herrensitz mutierte zu regionaler Kommandozentrale und reformorientiertem Kinderheim … Die zartgetupfte blaugeblümte Aura individualistischer Luftschlösser wich nun einem handfesten und alsbald bedenklich sowjetrussisch-propagandistisch aufgeladenen politischen Aktionismus.

Mit seiner endgültigen Übersiedelung nach Moskau Anfang der dreißiger Jahre stellte Vogeler sich ganz in den Dienst der revolutionären Regierung. Seine sogenannten „Komplexbilder“ sollten dem Wollen und Vollbringen einer neuen Zeit aufhelfen, es waren also bessere Werbeplakate. Etwas Eschatologisches oder auch Hochfahrendes oder eben Himmlischjerusalemgotisches haftet ihnen an: Da türmen sich verschiedenste ländliche wie städtische Volksszenen, Gebäudegruppen und Industrieanlagen übereinander, da gehen Arbeiter und Redner mit ihren Maschinen und Podien ineinander über, motivisch zusammengehalten durch Symbole wie den Roten Stern, den Hammer oder die Sichel.

Das Merkwürdige bei all diesen Häutungen vom reichen Bonvivant der Jahrhundertwende über den Schöpfer eines irdenen Paradiesgartens in Worpswede und Agitator der „Roten Hilfe Deutschland“ bis hin zum ausgebeuteten Erdarbeiter irgendwo in der kasachischen Steppe, wo er völlig verarmt und krank in einem Lazarett umkam: Heinrich Vogeler blieb stets ein kritischer Bewunderer der Gotik!

In seinen autobiographischen Blättern, die man später gesammelt als Buch unter dem von ihm selbst angeregten Titel „Werden“ herausbrachte, notiert Vogeler seine Erinnerung an eine Reise von Bremen nach München, die ihn als Mittzwanziger gemeinsam mit dem angehenden Dichter Rudolf Alexander Schröder (1878-1962) über Köln und Straßburg führte: „Der Kölner Dom machte in seiner geordneten Massigkeit wohl einen starken Eindruck auf mich, aber doch hatte ich mir die Gotik anders, lebendiger vorgestellt, vielleicht volkstümlicher, nicht so kalt, so formal. Jedenfalls wurde der Eindruck ganz verdrängt durch das, was ich in Straßburg sah.“ Denn: „Ich fand viel mehr bestätigt von der Gotik, als ich mir bisher durch mein Studium vorgestellt hatte. Ich war tief erregt, vor allem auch von den Skulpturen am Münster.“

Gut vier Jahrzehnte nach dieser so überaus prägenden spätadoleszenten Erfahrung schreibt der nunmehr 64jährige Künstler für die unter anderem in deutscher Sprache erscheinende Moskauer Zeitschrift „Internationale Literatur“ in seinem Aufsatz „Die Gotik“ folgendes: „Das Klassenbewußtsein der bürgerlichen Handwerker gegenüber dem Rittertum und der hohen Geistlichkeit erwacht. Die Einheit der wirtschaftlichen Verhältnisse, die befestigte Form der Staatsgewalt durch die Zünfte im Rat der Stadt gebar ein Selbstbewußtsein, ruhend auf der kollektiven Verantwortung. Dies neue Verhältnis der Menschen zum Staat, zur Kirche und zur Natur trieb zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck, der seine vollendete Form in der Gotik fand.“

Dieser Baustil verkörpert somit ein neues Menschenbild, eine Idealgesellschaft aus urchristlichen Wurzeln und kommunistischer Sehnsucht. Vogeler bleibt sich bis zu seinem Lebensende darin eigenartig und verstörend treu, dass er von ganzem Herzen überzeugt ist, im sowjetischen Marxismus gelange die christliche Botschaft der Nächstenliebe unmittelbar zur wirklichen geschichtlichen Kraft und Macht. Schon dem jugendstilisierenden Herrn vom Barkenhoff hatte Thomas Mann sinngemäß attestiert, er, Vogeler, verfolge seine romantischen Gedanken mit einer nachgerade religiösen Intensität, so dass man ihm die persönliche Ehrlichkeit abnehmen müsse, auch wenn man selber anderen Glaubens sei. – Dieser einerseits durchgebildete milde, andererseits erschreckend naive Eifer setzt sich nach 1918 in anderen Formen bei ihm fort.

Über den gotischen Dom schreibt nun Vogeler 1936 in Moskau: „Vom Boden aus hatte jeder Stein seine tragende Bedingtheit zum Ganzen, seine Massengebundenheit. Vom Erdboden drängen sich die Steinmassen heran, ordnen und spannen ihre Kräfte, von allen Seiten aufsteigend, der eigenen Bedachung zu, dem Bodengewölbe, wo sie der Schlußstein in der Scheitelhöhe auffängt und einheitlich faßt.“ – Alle bauen am großen Ganzen mit, nichts ist nebensächlich oder gar unbedeutend: Der Dom der Vergangenheit als Anknüpfung zum Menschheitsdom, dessen Kristallisationspunkt das Dritte Rom wird?

Ja und nein. Vogeler, der deutsche Exulant zur Zeit der Stalinschen „Säuberungen“, muss vorsichtig sein. Zumindest doppeldeutig schreibt er weiter: „Auch die Innenarchitektur der Kirche änderte sich; der gehobene Chor mit der unterbauten Krypta verschwand, diese Bauart aus romanischer Zeit. Sie war charakteristisch für die Zeit der Priesterherrschaft, war Ausdruck der autoritären Isolierung der Herrschenden, deren Gebeine in der Krypta ein besonderer Platz der Verehrung eingeräumt war. Die Gotik änderte das. Jetzt sollte der Priester in gleicher Ebene mit der Bevölkerung der Städte stehen.“

Außerdem wurden „die mächtigen Mauern“ „aufgelöst durch die hohe Spitzbogenkonstruktion: farbiges Licht gemalter Glasfenster flutete in den Raum und verdrängte das mystische Dämmerlicht romanischer Weltabgeschiedenheit.“ – Gesteigerte Aktivität zugunsten einer hellen humanistisch gedachten Neuen Welt entgrenzt und verwindet den weltfremden Ästhetizismus der Sommerabende im individualistischen Barkenhoff? Hier arbeitet sich einer, der sich vielfach gescheitert sah, an der eigenen Lebensgeschichte produktiv ab – zumindest im Sinne der neuen Ideologie, die ihn so überströmend und begierig-treuherzig erfüllt.

Ein weiterer Gedanke Vogelers aus seinem Gotikaufsatz von 1936: „Die schweren Pfeiler und Säulen verwandelten sich als Säulenbündel in garbenförmige Kraftleiter. Jede Formgestaltung war der gemeinsam aufsteigenden, tragenden Idee unterstellt, gleichem Sinn dienstbar gemacht, ob es nun Werke der Steinhauerei, der Holzschnitzkunst, der Glasmalerei, der Goldschmiedekunst oder der Teppichwirkerei waren. Figürliche Bildnisse entstanden lediglich im zwingenden Rahmen der Architektur. In der gotischen Stadt war kein Raum für eine sich von gesellschaftlichen Leben und von Arbeitsdienst isolierende Person. Es war auch kein Platz für Personenkult, und deshalb gab es in der gotischen Stadt keine freistehende individuelle Denkmalkunst.“

Gemeinsam nach oben und vorwärts! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Aber es möge sich auch niemand steinern (stählern) hervortun wollen und besondere Verdienste für sich beanspruchen! Es fällt genau jenes Wort vom „Personenkult“, das später zum Leitbegriff für die Beschreibung der Stalinschen Untaten wurde und bei Vogeler bereits 1936 als gewissermaßen „ungotisch“ benannt und beurteilt wird. Dass auch die reine Gotik gefährdet war, zeigt der Autor dann unter anderem am Beispiel jener Kathedrale, die ja schon den jungen Bremer Kaufmannssohn eingeschüchtert hatte: „Der Kölner Dom, dieser Bauriese, ist Ausdruck des intellektuellen Erfassens, ist die Dogmatisierung des gotischen Bauprinzips. Die Papstkirche verstand es auch hier, den Geist der Zeit auszunützen und die schöpferischen Kräfte für ihre Zwecke umzubiegen. Man baute den Dom als ein Monument der Macht der Papstkirche. Von der phantastischen Kraft der sich vom feudalen und kirchlichen Druck befreienden Volkselemente[n] ist hier keine Spur.“

Für unlautere Zwecke umgebogene Spitzbogigkeit – da hat der neue Mensch sich der Gefahr eigener Biegsamkeit intellektuell-spitz und notfalls revolutionär-bockig zu erwehren. Vogelers idealistisches Menschenbild von der in klassenloser Gesellschaft möglichen „gegenseitigen Hilfe“, kristallisch-drusenhaft und christlich-nächstenliebend seit der Barkenhoff-Kommune 1918ff erdacht, gibt sich sogar im Angesicht einer Diktatur genau in solch hehrem Namen nicht geschlagen. Im mitgeführten Koffer fand man nach seinem bitteren Tod etliche Zeichnungen und Schriftstücke, die bezeugen, dass Vogeler von den ererbten und angeeigneten Formen mittelalterlich-frühneuzeitlicher Porträtmalerei und eben den großen Gedanken der europäischen Gotik noch in kasachischer Verlorenheit gezehrt hat.

Heinrich Vogeler lässt an Heinrich den Vogler denken

Den Bogen wollen wir nicht überspannen. Aber die Wiederbelebung des gotischen Mittelalters durch Formen sozialistisch-sowjetrussischen Furors ausgerechnet in Verbindung mit einem Namen, der so sehr an den ersten deutschen König erinnert, gibt doch zu denken. Wenn etwas zu Ende geht, werden die Alten bemüht: Die Männer aus oldenburgischem Fürstengeschlecht heißen heutzutage so wie ihre gräflichen Vorfahren, deren Linie bereits im Jahre 1667 ausstarb: Anton Günther, Christian oder Huno. Der letzte, im Jahre 476 abgesetzte und in Pension geschickte weströmische Kaiser wurde Romulus Augustulus genannt, den mythischen Gründer der Stadt Rom und den Begründer des Imperiums gleichermaßen aufrufend. Und so gemahnt vielleicht der in der Gründerzeit geborene Heinrich Vogeler an jenen ersten Heinrich, der in entschieden vorgotischer Zeit „am Vogelherd“ von einer Delegation wackerer Edelmänner zum Regenten ausersehen wurde. Die bekannte Ballade von Johann Nepomuk Vogl (!!!), durch Carl Loewe vertont, weiß davon ein Lied zu singen.

Mit dem Urenkel des ersten Heinrich beginnt die Glanzzeit der Kaiserpfalz zu Goslar. Heinrich der Zweite, der Dritte und der Vierte haben die „Schatzkammer des Reiches“ oft besucht und durch die Anwesenheit ihres jeweiligen Hofstaates nicht nur die Bergbauindustrie befördert, sondern auch der Stadt und ihren Einwohnern zu starkem Selbstbewusstsein verholfen. Mit dem Kaiserhaus entstand dort der seinerzeit größte Profanbau nördlich der Alpen, und seine romanische Architektur nahm man in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zum Anlass, wenigstens diesen Palast, die Ulrichskapelle und die den Kaiserstuhl beherbergende Vorhalle der vierzig Jahre zuvor wegen hoffnungsloser Baufälligkeit abgerissenen Stiftskirche mehr oder weniger mustergültig zu rekonstruieren und im Inneren zeitgenössisch auszugestalten. Der preußische Staat als Nachfolger des Königreichs Hannover hat hier damals Maßstäbe für die Zukunft gesetzt.

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Es gibt also keinen Grund zum Benörgeln deutscher Tradition. Solange wir romanische Bauten stolz den Touristen herzeigen und die nachfolgenden gotischen Bauwerke ideell verinnerlicht haben; solange wir die Hochsprache der Lutherbibel sprechen und doch noch irgendeinen Schimmer von Weimarer Klassik und phantastischer Romantik uns bewahren; und solange wir uns im klaren darüber sind, dass unsere moderne industrialisierte arbeitsteilige Gesellschaft nur so sich gut weiterentwickeln kann, wenn wir uns von den Kräften der Geschichte leiten lassen – dann müssen wir nicht in Furcht erstarren vor den Abirrungen gestern und heute, sondern können ganz getrost unsere alten Tagebücher und Bilder hervorholen: nicht, um an ihnen herumzukritteln, erst recht nicht, um sie zu verdammen; – sondern: um in ihnen die Grundlage unserer gewiesenen Wege zu erkennen. Dann sind wir im Leben stark. Und nicht nur manchmal.

Fotos: Gewölbe der frühgotischen Annenkapelle im Kreuzgang des Hildesheimer Domes; Seiteneingang der neugotischen Außenhülle von St. Lamberti Oldenburg; Blick in den Garten des Barkenhoffs in Worpswede; Kaiserstuhl in Goslar im Spiegel des Alltags.

Ungesungene Hymnen

Noch über das sehr vorzeitige Aus für „Die Mannschaft“ hinweg sehen wir, die Deutschen, uns in einen angeblich veritablen Sängerkrieg verwickelt, der den schnöden und enttäuschenden Ergebnissen bei der trotzdem ja – nur eben ohne „uns“ – weiterlaufenden Fußballweltmeisterschaft in Russland doch noch einen letzten Sinn abzugewinnen vorgibt.

Gegen die Özil-Feinde brachte man zuletzt das Argument in Stellung, von den deutschen Spielern der WM ’74 habe seinerzeit so gut wie niemand die Nationalhymne mitgesungen – dennoch sei das Team um Bundestrainer Helmut Schön damals Pokalgewinner geworden. Es könne also keinerlei ursächlicher Zusammenhang zwischen vaterländisch motivierter Sangeslust und patriotisch befeuertem Siegeswillen mit entsprechend stolzem Endergebnis bestehen.

Das mag stimmen oder auch nicht. Ich sage hier und heute, vierundvierzig Jahre nach dem großen Finale, das uns an der deutsch-niederländischen Grenze tumultuarische Zustände bescherte, nur dieses: Die beiden unzertrennlichen Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land anno MCMLXXIV hießen Tip und Tap und waren erkennbar den damals gerade aufsteigenden Stars am Himmel des aus Amerika importierten und genial synchronisierten Kinderfernsehens nachempfunden, nämlich Ernie und Bert aus der Sesamstraße.

Ungesungene Hymnen

Neben dem Kichern des breitschädeligen Ernie und dem Brummen des eierköpfigen Bert sind uns aus dieser bewegten Zeit der Nach-68er-Jahre die besten Songs aus der Welt Jim Hensons und seiner Muppets, auch und gerade in der Sesame Street, bis zum heutigen Tag in bester musikalischer Erinnerung: „Quietscheentchen, du bist mein“, „Hätt‘ ich dich heut‘ erwartet, hätt‘ ich Kuchen da“ oder das unverwüstliche „Manamana – didibidibi“ … Da verzichtete man gern und gnädig auf die Sangeskünste von Paul Breitner, Sepp Maier & Co.

Seitdem haben sich die Zeiten mental sehr verändert. Einer wie Mesut Özil gilt nunmehr als bockig, wenn er seinen Mund nicht öffnet. Und niemand ist zur Stelle, der ihm mal so richtig mit Mozart oder Beethoven den türkischen Marsch bläst. Sei’s drum. Die Mitglieder der spanischen Nationalmannschaft wurden gar in toto von uns biodeutschen Fernsehzuschauern beargwöhnt, weil von denen wirklich niemand sang: Dass deren Hymne – bereits seit über 260 Jahren erklingend, also eine der ältesten ihrer Art überhaupt – bis heute keinen allgemein anerkannten Text hat, wäre da, bevor man sich ereifert, vielleicht wissenswert gewesen.

Was uns heutzutage fehlt, ist die Selbstverständlichkeit eigener musikalischer Aktivität. Auch in den Siebzigern sang nicht jeder in einem Chor oder spielte ein Instrument – aber man ging durchaus in oder auf Konzerte, man hörte im Radio die entsprechenden sonntäglichen Sendungen, man kannte und sang und pfiff die gerade beliebten Melodien aus Fernsehserien, Schlagern, Operetten oder gar Opern. Wer dann so ein paar prominente junge Fußballer vor einem Länderspiel während der Hymne stumm sah, konnte als liberal erzogener Bildungsbürger das irgendwie letztlich augenzwinkernd einordnen: Die können oder wollen eben nicht singen. Ach, das sind so Revoluzzer – lass sie zehn Jahre älter werden, dann hat sich das gegeben …

Heutzutage sind wir verunsichert, weil unsere eigene Kultur – und sei es die der seichten Wunschkonzerte – im Abklingen ist. Hier aufgewachsene Muslime, selbst solche türkischer Abstammung, sind keinesfalls mehr automatisch dem „westlichen“ Lebensstil zuzuordnen. Das, was wir über ein halbes Jahrhundert hinweg uns als kemalistisch garantiert einredeten, traf damals und trifft auch heute einfach nicht zu. Da können wir indes itzo auf die Schnelle nichts ausrichten. Besinnen wir uns also notgedrungen erst einmal auf eine längere Zeit eigener kultureller Bestandsaufnahme.

Und: Nehmen wir die aktuell fehlende Gesangskultur bei der seit dem Jahr 2015 nicht mehr deutsch sich nennen dürfenden „Mannschaft“ am besten: sportlich. Auch sie hat ja ihre Tradition, nur eben mit dem kleinen Unterschied, dass sie damals zur Weltmeisterschaft führte – und diesmal zum Versagen. Womöglich liegt die Differenz, wie meistens ja, im Charakter der handelnden Personen: Die 74er haben sich durch nichts und niemanden in ihren jeweiligen Einzelpersönlichkeiten übertreffen lassen. Da waren elf Individualisten auf dem Spielfeld. Das war auch nicht immer nur unproblematisch.

Und die 18er? Wo waren da die eckigen kantigen echten Typen? Die durften erst gar nicht mit nach Russland fahren und waren schon vorher aussortiert. Fazit: Außer medial gehyptem Sängerkrieg fußballdeutsch nichts gewesen. Schade.

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Manchmal im Leben sind wir stark. Besonders dann, wenn man es uns gar nicht zutraut. In jungen Jahren können Höchstleistungen heranreifen, ohne dass es so richtig bemerkt wird. Vorzug der Jugend ist es ja seit unvordenklichen Zeiten, Dinge auszusprechen, die später lieber ungesagt wären und dann im Nachgang autobiographisch aussortiert werden möchten. Daher wurde immer schon viel eliminiert, durch Verbrennen von Tagebüchern und Briefen, im Abstreiten mündlicher Einlassungen oder gar in autoritär veranstalteten Vernichtungsaktionen umfassender öffentlicher Art und Weise.

Eine darauf indes unvermutet dennoch folgende Trauerphase ob der persönlichen wie gesellschaftlich-historischen Verluste wurde in der guten alten Zeit gern kompensiert in familiär stilisierten Erzählungen nach dem Motto „Weißt du noch?“ – oder in wunderbar fragwürdigen, zeitweilig in Mitteleuropas architektonischem Kunstgeschmack allgemein angenommenen Formen von Neorenaissance oder Neugotik.

Das neunzehnte Jahrhundert lässt sich einfach nicht abschütteln; es ist präsent bis heute hin. Neulich war ich einmal wieder in Goslar, und die weitgehend neuromanische Kaiserpfalz hat es mir erneut ganz heftig angetan. Da störte auch das Standbild von „Wilhelm dem Großen“ in keiner Weise. Man muss das alles nur zu deuten wissen. Einen bösen „Nationalismus“ aus den Statuen und Gemälden von Staufern und Hohenzollern abzuleiten wäre ganz grober Unfug. Dass genau dies aber heutzutage oftmals geschieht, sobald „Deutschland“ ins Spiel kommt, bis in die Jugendorganisationen etablierter Parteien hinein, offenbart eine Geschichtsvergessenheit, bei der zweifelhaft wird, ob man ihr überhaupt noch irgendwie beikommen kann.

Heutige Geschichtsvergessenheit schreit zum Himmel

Da fordert also die „Grüne Jugend“ den Verzicht auf selbstbewusstes Präsentieren der schwarz-rot-goldenen deutschen Farben. Sie weiß ganz augenscheinlich nicht, dass diese Trikolore für Vormärz und 48er-Revolution steht. Ihr ist völlig ungeläufig, dass das zweite Kaiserreich diese Fahne ablehnte und das „dritte“ Reich sie gnadenlos bekämpfte. Stattdessen empfiehlt eine Sprecherin das Schwenken von grünen – ähm: Tüchern, sozusagen. Nun, sie kann ja, wenn sie das präferiert, gern nach Saudiarabien auswandern; keine Staatsflagge der Welt ist grüner als die der neureichen Wüstendiktatur, die zwischen dem Glamour marmorn-morgenländischer Geheimnistuerei und dem blutrünstig-radikal Bösen hinundherpendelt und uns, den ach so aufgeklärten, aber zugleich ölgierigen Westen seit langem schon zum Narren hält.

Um unser einundzwanzigstes Jahrhundert zu verstehen, ist ein Blick ins neunzehnte saeculum nicht unangezeigt. Wir sind ja zu Recht hilflos bestürzt, dass der sogenannte „Islamische Staat“ jahrtausendealte Kulturdenkmäler zerstört hat. Assyrische und babylonische Paläste und Plastiken, griechisch-römische Säulenstraßen, jüdische Synagogen, christliche Klöster und sogar Heiligtümer der eigenen Religion wurden im Namen eines gnadenlos grausamen Wahhabitismus dem Erdboden gleichgemacht – von den Qualen durch diese Ideologie bei den betroffenen einzelnen Menschen gar nicht erst zu reden.

Alles, was wir aus sicherer Entfernung von Kindesbeinen an über Sindbad den Seefahrer, Aladin und die Wunderlampe und Hadschi Halef Omar kennengelernt hatten, dieser ganze Zauber von Tausendundeiner Nacht oder nemsischer Reiselust erweist sich derzeit als fata morgana riesigen Ausmaßes. Der alten arabischen und osmanischen Welt, wie wir sie aus den Büchern vom neunten bis zum neunzehnten Jahrhundert kannten, wird gerade der finale Todesstoß versetzt. Damit verschwindet übrigens auch die gesamte biblische Atmosphäre, wie sie sogar noch Pate stand für ihre eigene Interpretation im kritischen zwanzigsten Jahrhundert.

Die halbe Menschheit, die bisher ihr Leben einigermaßen unbedarft aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments oder aus dem Koran bezog, blickt heutigentags, so sie sich dem Geschehen aussetzt, in einen furchtbaren Abgrund. Sie erkennt: Zu oft wurden heilige Überlieferungen von ihren eigenen glühendsten Verteidigern missbraucht für egoistische Zwecke. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, der Dreißigjährige Krieg oder die jetzige Vernichtung des Nahen Ostens sind ihre traurigen herzzerreißenden Ergebnisse. Zeloten, alte Schweden und neue Islamisten sind anzuklagende Beispiele dafür, wie aus falschem unerbittlichem Schriftverständnis heraus am Ende dann die jeweils benutzte Religion im Ganzen zum Objekt aufklärerischer Verdammnis wurde.

Als ob das Leben wirklich schöner wäre, wenn es so gänzlich keinen Gottesglauben mehr gäbe. Die einfachen und frommen Bewohner der Vendée haben bis heute in den Geschichtsbüchern keine sonderlich vernehmbare Stimme; und die Menschen in den Weiten Russlands erst recht nicht. Wo immer aber die Revolutionsarmeen eindrangen, war das Maß an Verblendung und Mordlust nicht weniger ausgeprägt als bei all den Kreuzrittern oder Dschihadisten alter und neuer Zeit.

Bekanntlich ist die Aufklärung selber spätestens in dem Moment ad absurdum geführt worden, als Robespierre den „Kult des Wesens der höchsten Vernunft“ anordnete und alle anderen Glaubensweisen blutig verfolgte. Der Turmspitze des Straßburger Münsters wurde eine riesige Jakobinermütze übergestülpt – Urbild moderner Propaganda? Jedenfalls werden seitdem immer wieder politische Einrichtungen erhoben und verabsolutiert, etwa nach dem Motto: „Die Partei hat immer recht“ – oder dem massenhaften Schlachtruf: „Vive la République“ (der ja weniger eine demokratische Verfassung lobt denn eher ein System, dessen Träger und Repräsentanten in Eliteschulen herangezogen sind).

Und natürlich haben alle schlauen wie mächtigen Egomanen seit jenen aufbegehrenden Zeiten von den beiden damals frisch erfundenen Errungenschaften Guillotine und Marseillaise in irgendeiner Weise „gelernt“, ob sie sich nun glaubensfeindlich oder superfromm gaben: Napoleon, Hitler, Stalin, Mao, Kim Il Sung (nebst Dynastie), Ceausescu, Khomeini, Gaddhafi … Notabene: Mit des Letztgenannten „Grünem Buch“ könnten die Bewegten aus der Ecke der aktuellen junggrünen Spielverderber ja auch noch wedeln – ein Vorschlag zur Güte und für systemgerechten ideologischen Ausgleich.

Nach allem Furor kam – das neunzehnte Jahrhundert

Nach allem französischen Furor kam aber dann: das neunzehnte Jahrhundert! Mental – nicht kalendarisch – gefasst, begann es mit dem Wiener Kongress 1814/15 und endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Kaum eine Epoche ist bis heute derart verächtlich gemacht worden wie dieses Zeitalter. Für so ziemlich alles, was im zwanzigsten Jahrhundert aus dem Ruder gelaufen ist, hat man dessen Vorgänger die Schuld gegeben. Wie praktisch, weil für die Nachgeborenen der seinerzeit neu entstandenen industrialisierten Welt so entlastend!

Wir lasen Hauptmanns „Weber“, ohne wahrzunehmen, dass das eben kein Heine-gezeugtes klassenkämpferisches Theaterstück sein wollte. Wir mokierten uns über die historistischen übereifrig hingebauten Häuser, ohne darin eine captatio benevolentiae oder gar einen Anflug von sehnsüchtiger Erinnerung an „schöne, glänzende Zeiten“ zu sehen. Wir ignorierten im nachhinein die schöpferische Phantasie und den ungestümen Wagemut der jenes Jahrhundert vorbereitenden Frühromantiker – obwohl wir ähnlich fühlten, ohne dies uns einzugestehen. Wir beriefen uns hierbei skeptisch-altkug auf Goethe, der ja bereits im voraus den Jungs namens Hardenberg oder Tieck oder Wackenroder alle literarische Kompetenz abgesprochen und sogar die Veröffentlichung eines Textes wie „Die Christenheit oder Europa“ von Novalis tatkräftig verhindert hatte.

Woher diese Verachtung? Vielleicht ist unserem deutschen kriegsversehrten Bewusstsein jegliches Denken in großen Linien allzu gründlich abhanden gekommen. Die Nachkriegswelt musste ja mit den nicht wieder zu heilenden Wunden des Dritten Reichs, mit unentschuldbaren Brüchen, die weder äußerlich noch innerlich abzuleugnen waren, doch irgendwie weiterleben. Wie um in der daraus resultierenden bodenlosen Aggression gegen sich selbst die eigene verpfuschte dunkle Geschichte noch zu zementieren, wähnte man, dass sogar Erhaltengebliebenes ein Ende haben müsse, und riss in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehr Häuser ab, als überhaupt durch die schrecklichen Fliegerbomben untergegangen waren. Das betraf vor allem Bauten aus der Gründerzeit und dem Wilhelminischen Zeitalter.

Dem amerikanisierten Ideal von „Fortschritt“ opferte die Wirtschaftswundergesellschaft eine bis dahin gesamteuropäisch konsensfähige urbane Struktur und Kultur – und das Wort der Mitscherlichs von der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ verhallte 1965 zunächst völlig ungehört. Erst zehn Jahre später, im Internationalen Jahr des Denkmalschutzes, nachdem die weltläufige Kleinteiligkeit bürgerlicher Lebensformen einschließlich schmiedeeisernen Jugendstiltoren oder säulengestützten schwarzen Klavieren längst unwiederbringlich in den Orkus der „autogerechten Stadt“ und der „Bildungsreformen“ gejagt worden war, setzte das große Jammern ein.

Im Unterschied etwa zu den anno 1797 anonym erschienenen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ oder zu Goethes Gedanken über das Straßburger Münster (bereits 1772) waren die Konzepte nachdenklich und wehmütig gewordener westdeutscher Bürger indes unfähig, sich positive Leitbilder aus der versunkenen Geschichte heranzubilden. Wie auch, wo gerade das im Krieg unzerstörte Villenviertel einer Stadtautobahn oder der vom Bombenhagel verschonte alte Baumbestand des beliebten Kaffeegartens einer U-Bahn-Baustelle hatte weichen müssen? Die Wunden waren zu frisch geschlagen. Und die verantwortlichen Bauräte befanden sich noch lange in Amt und Würden.

Alt ist per se weder schlecht noch tot

Besser ist die Maxime: Lasst die Lebenden leben, aber die Toten nicht im Tode bleiben. Wer jetzt in der Pflicht steht, soll tun, was er nicht lassen kann und darf. Aber wer gestorben ist, kann sich auf Veränderung seines Zustands freuen. Und das heißt, gewendet auf unser Thema: Eine Gesellschaft mitsamt ihrem baulich-künstlerischen Ausdruck ist nicht einfach deshalb obsolet, weil sie etwa alt und somit vermeintlich bedeutungslos wäre. Nicht alles Soignierte ist sofort senil. Wer schon einmal in Siena war, weiß, wie zukunftsträchtig die Pflege des Alten sein kann. Liebevoll gehegte Tradition besitzt eigenen Wert, und da hätte man bei uns in Deutschland viel mehr von den italienischen Städten lernen und beherzigen können, als man es tat, da noch Zeit zum Bewahren gewesen wäre.

Sehen wir auf die Baugeschichte nördlich der Alpen, dann kommt mir ein Lexikonartikel von vor über hundert Jahren in den Sinn. Unter dem Stichwort „Gotischer Stil“ wird da nicht auf Abbruchkanten genäht, sondern ein heutzutage weithin für unmöglich gehaltener großer Zusammenhang aufgezeigt. Aus dem romanischen Stil wird durch Überspitzung der Bögen, erstmals in Nordfrankreich, die gebaute Sehnsucht nach dem himmlischen Jerusalem manifester denn je.

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Diese Kunst verbreitet sich über Mitteleuropa und auf die britischen Inseln und bleibt über fünfhundert Jahre der vorherrschende Stil, bis in „nachgotische“ Ausläufer des siebzehnten Jahrhunderts hinein. Im achtzehnten Jahrhundert taucht sie wieder auf in englischen Herrenhäusern und wird wenige Jahrzehnte später zum typischen Stil auch auf dem europäischen Festland für Kirchen, Burgen, öffentliche repräsentative Gebäude, Fabriken und Wohnhäuser –

– und sie lebt, so füge ich nun hinzu, zumindest virtuell weiter in den Welten etwa von Gotham City … Die erdachte Heimatstadt von Batman ist trotz aller goddam-Düsternis cineastisch-architektonisch alles andere als reizlos. Im Zusammenwirken mit der Musik zum Film entsteht ein Kosmos jenseits wie diesseits von Gut und Böse, alles umfassend quasi von göttlich-gerechten Gewölbeschlüssen bis hin zu grauenvoll-gemeingefährlichen Gewalttaten. Maurerische Freiheitsrituale, misanthropische Fehlleistungen und mafiöse Fememorde ergeben in solch mittelalterlicher Finsternis einen furchtbaren Mix, ohne jeden Verdacht, menschenfern zu sein.

Die Gotik scheint hier ein in hohem Maße weltlich Ding zu sein, und solange Stockbrot und Schnabelschuhe, Jongleurskunst und Jokerlachen, Ritterrüstung und Ratsherrenpils veranstaltungstauglich und kassefördernd sind ob ihrer Popularität, – wird auch die dahinterstehende spitzbögig-spitzbübische Philosophie in, mit und unter uns leben, weben und sein. Die grellgeschminkten schwarzgewandeten traurigblickenden Gothic-Jünger vermischen unbedarft ihre hochaufragenden kathedralartigen Frisuren mit germanischem Brauchtum, die Errungenschaften von Flowerpower und Punk mit Haarfestiger und Druidenfuß, und sie würden nicht lachen, sondern ernsthaft zustimmen, stellte man an den Grenzen ihres geistigen Biotops das Schild auf: „Man spricht Gotisch“.

Aber wird da auch Fraktur geredet? Oder ist das alles bloß als „klosterbrudisierend“ abzutun, wie Goethe es einst tat mit den Aufsätzen von Wackenroder und Tieck? – Den Frühromantikern ging es um die Kunst an sich in ihrer leibseelischen Ganzheit. Italienbegeisterung und Nürnbergbewunderung gingen bei ihnen Hand in Hand, vorläufig noch ohne Festlegung auf einen bestimmten Stil. Dies änderte sich erst allmählich, und das hat auch ein bisschen mit der Westberliner Kiezkultur zu tun, die ihre Wirkungsstätten auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost aus dem Jahr 1975 wiederentdecken konnte – da waren Kreuzberger Mietskasernen abgebildet zur Feier des Internationalen Denkmalschutzes. Das gusseiserne „Kreuz“ auf dem „Berg“ indes wurde namensgebend vom Berliner Architekten Friedrich Schinkel Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als Memorial in neugotischen Formen errichtet.

Ob Michelangelo und Raffael einerseits und Albrecht Dürer andererseits den Besuchern der Oranienstraße jemals ein Bewusstsein für den Ort, da sie lebten, demonstrierten und zerstörten, vermittelt haben, sei dahingestellt. Schinkel war von beidem inspiriert, der klassischen Italianità und der altfränkischen Zunftkultur. Neue Wache und Friedrichswerdersche Kirche haben das aufstrebende Berlin gleichermaßen vorangebracht.

Den Schub in eine bestimmte Stilrichtung gab sicherlich die Wiederauffindung der originalen Baupläne zum Kölner Dom in den Jahren zwischen 1814 und 1816. Da wurde der von Berlin aus regierte preußische Staat in seiner frisch erworbenen Rheinprovinz historisch aktiv. Als die Kathedrale schließlich im Jahr 1880 fertig war, saß der Bischof in niederländischer Verbannung. Noch herrschte Kulturkampf, ultramontanistisch befeuert und wenig romantisch. „Nationale Größe“ wurde durchaus antiklerikal zelebriert, damals wie heute. Das dürfte extreme „Rechte“ wie „Linke“ gleichermaßen erfreuen.

Robert Schumann hat in der seit dem Reformationszeitalter brachliegenden Bauruine mit dem charakteristischen Kran auf dem Stumpf des Südturms im November 1850 eine Kardinalserhebung miterlebt und seine Eindrücke im als Feierlich bezeichneten vierten Satz seiner Dritten Symphonie verarbeitet: in festlich-düsterem Bläsersatz, in der ebenso satten wie seltenen klingenden Tonart es-Moll. Gotische Polyphonie?

Nein. Die Musik lud sich zwar auf mit Vorbildern der Vergangenheit, ohne jedoch ausdrücklich nazarenisch zu werden (wie es teilweise in der Malerei geschah). Wagners bösartiger Spott über „Händelssohn-Bachtoldy“ richtete sich „nur“ gegen eine seiner Meinung nach billige Kopie barocker Formen und Harmonien – ins gotische Mittelalter stieß die musikalische Romantik damals gar nicht vor. Selbst die ein halbes Jahrhundert später (1895) entstandene „Suite gothique“ des Elsässers Léon Boëllmann ist für die zeitgenössische französische Konzertorgel gedacht und hat mit der Gotik genauso viel zu tun wie etwa Bachs „Dorische Toccata“ mit der gleichnamigen Kirchentonart geschweige denn Beschaffenheit antiker Säulenkapitelle.

Mit anderen Worten: Die Künste sollten, bei aller Bewunderung der „Alten“, doch schöpferisch und phantasievoll bleiben. Nicht auf detailversessene sklavische Nachahmung waren die echten Romantiker aus, sondern auf kreative Weiterentwicklung und freien Einsatz der mannigfaltigen Tradition. Allerdings erstarrten die geistreichen feuerflüssigen Lavamassen vom Beginn des Jahrhunderts dann doch weitgehend zu abgekühlten festen Gesteinen. Das „Eisenacher Regulativ“ aus dem Jahr 1861 ist so ein zementierender Ausfluss. Man legte fest, jede neu erbaute evangelische Kirche habe sich an einem historischen Stil zu orientieren, vorzugsweise am gotischen. Bewusst schlossen sich die Verfasser dabei dem altchristlichen Schema der Basilika an – und wollten so den Protestantismus in die große Überlieferungseinheit von Antike, Mittelalter und Neuzeit hineinstellen.

Einerseits normiert, andererseits weiterentwickelt, in übertrieben zinnenbewehrten Rathausneubauten etwa, die gotischer daherkamen als ihre Vorgänger; oder in überdimensionierten Fabrikhallen, Bahnhöfen und Schulen, die kathedralähnlich anmuteten und dies auch sollten …: Sakrales und Säkulares wurde noch einmal versuchsweise zusammengebracht unter dem Schirm einer einheitlichen europäischen Kunst, deren Idee – man beachte es immer wieder – durch Architektur künstlicher Ruinen, hallender Internatskreuzgänge, großer Parlamentshäuser und industrieller Nutzgebäude aus England (!) zu uns über den Kanal herübergeschwappt war. Kreuzrippengewölbe allerorten, insular, mitteleuropäisch und nordamerikanisch so sehr en vogue, dass dieser Baustil tatsächlich zum Synonym für das neunzehnte Jahrhundert werden konnte.

Die Gotik hört einfach nicht auf …

Das zwanzigste saeculum weiß sich diesem unterschwelligen Traditionsstrom verbundener als es dies selbst in seinen klügsten Stimmen bisher je zugegeben hat. Pars pro toto sei an den aus Bremen stammenden Künstler Heinrich Vogeler (1872-1942) erinnert, dem die Gotik in dem Maße bedeutend wurde, je mehr sie faktisch in ihrer neugotischen und zugegeben allzu fialenverliebter Spielart dem Spott der Gebildeten unter ihren Verächtern ausgesetzt war. Der Kaufmannssohn hatte um die Jahrhundertwende sich ein Paradies auf Erden erschaffen im Worpsweder Barkenhoff – da passte einfach alles zusammen, von der Kommode im umgebauten und repräsentativ erweiterten Bauernhaus über das impressionistische Ölgemälde im Esszimmer bis hin zum Baumbestand und zur Blumenvielfalt umzu … Jugendstil war das Zauberfaktum, ornamental und eben alles andere als gotisch-zackig!

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Diese Traumwelt von Selbstverwirklichung – noch ehe es solchen Begriff gab – befriedigte und befriedete aber nur vorübergehend. Vogeler war so sehr christlich geprägt, dass er nicht nur dem Kaiser ein pazifistisches „Märchen vom lieben Gott“ zueignete, sondern auch ganz praktisch die Folgen des Krieges auf seinem eigenen Gut bearbeiten und lindern wollte. Aus dem Barkenhoff wurde eine kommunistische Lebensgemeinschaft; die bis dahin gehegten und gepflegten bürgerlichen Schätze wurden verhökert oder „sozialisiert“. Den vornehmen Park des Anwesens grub man zu Ackerland um, der vormalige Herrensitz mutierte zu regionaler Kommandozentrale und reformorientiertem Kinderheim … Die zartgetupfte blaugeblümte Aura individualistischer Luftschlösser wich nun einem handfesten und alsbald bedenklich sowjetrussisch-propagandistisch aufgeladenen politischen Aktionismus.

Mit seiner endgültigen Übersiedelung nach Moskau Anfang der dreißiger Jahre stellte Vogeler sich ganz in den Dienst der revolutionären Regierung. Seine sogenannten „Komplexbilder“ sollten dem Wollen und Vollbringen einer neuen Zeit aufhelfen, es waren also bessere Werbeplakate. Etwas Eschatologisches oder auch Hochfahrendes oder eben Himmlischjerusalemgotisches haftet ihnen an: Da türmen sich verschiedenste ländliche wie städtische Volksszenen, Gebäudegruppen und Industrieanlagen übereinander, da gehen Arbeiter und Redner mit ihren Maschinen und Podien ineinander über, motivisch zusammengehalten durch Symbole wie den Roten Stern, den Hammer oder die Sichel.

Das Merkwürdige bei all diesen Häutungen vom reichen Bonvivant der Jahrhundertwende über den Schöpfer eines irdenen Paradiesgartens in Worpswede und Agitator der „Roten Hilfe Deutschland“ bis hin zum ausgebeuteten Erdarbeiter irgendwo in der kasachischen Steppe, wo er völlig verarmt und krank in einem Lazarett umkam: Heinrich Vogeler blieb stets ein kritischer Bewunderer der Gotik!

In seinen autobiographischen Blättern, die man später gesammelt als Buch unter dem von ihm selbst angeregten Titel „Werden“ herausbrachte, notiert Vogeler seine Erinnerung an eine Reise von Bremen nach München, die ihn als Mittzwanziger gemeinsam mit dem angehenden Dichter Rudolf Alexander Schröder (1878-1962) über Köln und Straßburg führte: „Der Kölner Dom machte in seiner geordneten Massigkeit wohl einen starken Eindruck auf mich, aber doch hatte ich mir die Gotik anders, lebendiger vorgestellt, vielleicht volkstümlicher, nicht so kalt, so formal. Jedenfalls wurde der Eindruck ganz verdrängt durch das, was ich in Straßburg sah.“ Denn: „Ich fand viel mehr bestätigt von der Gotik, als ich mir bisher durch mein Studium vorgestellt hatte. Ich war tief erregt, vor allem auch von den Skulpturen am Münster.“

Gut vier Jahrzehnte nach dieser so überaus prägenden spätadoleszenten Erfahrung schreibt der nunmehr 64jährige Künstler für die unter anderem in deutscher Sprache erscheinende Moskauer Zeitschrift „Internationale Literatur“ in seinem Aufsatz „Die Gotik“ folgendes: „Das Klassenbewußtsein der bürgerlichen Handwerker gegenüber dem Rittertum und der hohen Geistlichkeit erwacht. Die Einheit der wirtschaftlichen Verhältnisse, die befestigte Form der Staatsgewalt durch die Zünfte im Rat der Stadt gebar ein Selbstbewußtsein, ruhend auf der kollektiven Verantwortung. Dies neue Verhältnis der Menschen zum Staat, zur Kirche und zur Natur trieb zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck, der seine vollendete Form in der Gotik fand.“

Dieser Baustil verkörpert somit ein neues Menschenbild, eine Idealgesellschaft aus urchristlichen Wurzeln und kommunistischer Sehnsucht. Vogeler bleibt sich bis zu seinem Lebensende darin eigenartig und verstörend treu, dass er von ganzem Herzen überzeugt ist, im sowjetischen Marxismus gelange die christliche Botschaft der Nächstenliebe unmittelbar zur wirklichen geschichtlichen Kraft und Macht. Schon dem jugendstilisierenden Herrn vom Barkenhoff hatte Thomas Mann sinngemäß attestiert, er, Vogeler, verfolge seine romantischen Gedanken mit einer nachgerade religiösen Intensität, so dass man ihm die persönliche Ehrlichkeit abnehmen müsse, auch wenn man selber anderen Glaubens sei. – Dieser einerseits durchgebildete milde, andererseits erschreckend naive Eifer setzt sich nach 1918 in anderen Formen bei ihm fort.

Über den gotischen Dom schreibt nun Vogeler 1936 in Moskau: „Vom Boden aus hatte jeder Stein seine tragende Bedingtheit zum Ganzen, seine Massengebundenheit. Vom Erdboden drängen sich die Steinmassen heran, ordnen und spannen ihre Kräfte, von allen Seiten aufsteigend, der eigenen Bedachung zu, dem Bodengewölbe, wo sie der Schlußstein in der Scheitelhöhe auffängt und einheitlich faßt.“ – Alle bauen am großen Ganzen mit, nichts ist nebensächlich oder gar unbedeutend: Der Dom der Vergangenheit als Anknüpfung zum Menschheitsdom, dessen Kristallisationspunkt das Dritte Rom wird?

Ja und nein. Vogeler, der deutsche Exulant zur Zeit der Stalinschen „Säuberungen“, muss vorsichtig sein. Zumindest doppeldeutig schreibt er weiter: „Auch die Innenarchitektur der Kirche änderte sich; der gehobene Chor mit der unterbauten Krypta verschwand, diese Bauart aus romanischer Zeit. Sie war charakteristisch für die Zeit der Priesterherrschaft, war Ausdruck der autoritären Isolierung der Herrschenden, deren Gebeine in der Krypta ein besonderer Platz der Verehrung eingeräumt war. Die Gotik änderte das. Jetzt sollte der Priester in gleicher Ebene mit der Bevölkerung der Städte stehen.“

Außerdem wurden „die mächtigen Mauern“ „aufgelöst durch die hohe Spitzbogenkonstruktion: farbiges Licht gemalter Glasfenster flutete in den Raum und verdrängte das mystische Dämmerlicht romanischer Weltabgeschiedenheit.“ – Gesteigerte Aktivität zugunsten einer hellen humanistisch gedachten Neuen Welt entgrenzt und verwindet den weltfremden Ästhetizismus der Sommerabende im individualistischen Barkenhoff? Hier arbeitet sich einer, der sich vielfach gescheitert sah, an der eigenen Lebensgeschichte produktiv ab – zumindest im Sinne der neuen Ideologie, die ihn so überströmend und begierig-treuherzig erfüllt.

Ein weiterer Gedanke Vogelers aus seinem Gotikaufsatz von 1936: „Die schweren Pfeiler und Säulen verwandelten sich als Säulenbündel in garbenförmige Kraftleiter. Jede Formgestaltung war der gemeinsam aufsteigenden, tragenden Idee unterstellt, gleichem Sinn dienstbar gemacht, ob es nun Werke der Steinhauerei, der Holzschnitzkunst, der Glasmalerei, der Goldschmiedekunst oder der Teppichwirkerei waren. Figürliche Bildnisse entstanden lediglich im zwingenden Rahmen der Architektur. In der gotischen Stadt war kein Raum für eine sich von gesellschaftlichen Leben und von Arbeitsdienst isolierende Person. Es war auch kein Platz für Personenkult, und deshalb gab es in der gotischen Stadt keine freistehende individuelle Denkmalkunst.“

Gemeinsam nach oben und vorwärts! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Aber es möge sich auch niemand steinern (stählern) hervortun wollen und besondere Verdienste für sich beanspruchen! Es fällt genau jenes Wort vom „Personenkult“, das später zum Leitbegriff für die Beschreibung der Stalinschen Untaten wurde und bei Vogeler bereits 1936 als gewissermaßen „ungotisch“ benannt und beurteilt wird. Dass auch die reine Gotik gefährdet war, zeigt der Autor dann unter anderem am Beispiel jener Kathedrale, die ja schon den jungen Bremer Kaufmannssohn eingeschüchtert hatte: „Der Kölner Dom, dieser Bauriese, ist Ausdruck des intellektuellen Erfassens, ist die Dogmatisierung des gotischen Bauprinzips. Die Papstkirche verstand es auch hier, den Geist der Zeit auszunützen und die schöpferischen Kräfte für ihre Zwecke umzubiegen. Man baute den Dom als ein Monument der Macht der Papstkirche. Von der phantastischen Kraft der sich vom feudalen und kirchlichen Druck befreienden Volkselemente[n] ist hier keine Spur.“

Für unlautere Zwecke umgebogene Spitzbogigkeit – da hat der neue Mensch sich der Gefahr eigener Biegsamkeit intellektuell-spitz und notfalls revolutionär-bockig zu erwehren. Vogelers idealistisches Menschenbild von der in klassenloser Gesellschaft möglichen „gegenseitigen Hilfe“, kristallisch-drusenhaft und christlich-nächstenliebend seit der Barkenhoff-Kommune 1918ff erdacht, gibt sich sogar im Angesicht einer Diktatur genau in solch hehrem Namen nicht geschlagen. Im mitgeführten Koffer fand man nach seinem bitteren Tod etliche Zeichnungen und Schriftstücke, die bezeugen, dass Vogeler von den ererbten und angeeigneten Formen mittelalterlich-frühneuzeitlicher Porträtmalerei und eben den großen Gedanken der europäischen Gotik noch in kasachischer Verlorenheit gezehrt hat.

Heinrich Vogeler lässt an Heinrich den Vogler denken

Den Bogen wollen wir nicht überspannen. Aber die Wiederbelebung des gotischen Mittelalters durch Formen sozialistisch-sowjetrussischen Furors ausgerechnet in Verbindung mit einem Namen, der so sehr an den ersten deutschen König erinnert, gibt doch zu denken. Wenn etwas zu Ende geht, werden die Alten bemüht: Die Männer aus oldenburgischem Fürstengeschlecht heißen heutzutage so wie ihre gräflichen Vorfahren, deren Linie bereits im Jahre 1667 ausstarb: Anton Günther, Christian oder Huno. Der letzte, im Jahre 476 abgesetzte und in Pension geschickte weströmische Kaiser wurde Romulus Augustulus genannt, den mythischen Gründer der Stadt Rom und den Begründer des Imperiums gleichermaßen aufrufend. Und so gemahnt vielleicht der in der Gründerzeit geborene Heinrich Vogeler an jenen ersten Heinrich, der in entschieden vorgotischer Zeit „am Vogelherd“ von einer Delegation wackerer Edelmänner zum Regenten ausersehen wurde. Die bekannte Ballade von Johann Nepomuk Vogl (!!!), durch Carl Loewe vertont, weiß davon ein Lied zu singen.

Mit dem Urenkel des ersten Heinrich beginnt die Glanzzeit der Kaiserpfalz zu Goslar. Heinrich der Zweite, der Dritte und der Vierte haben die „Schatzkammer des Reiches“ oft besucht und durch die Anwesenheit ihres jeweiligen Hofstaates nicht nur die Bergbauindustrie befördert, sondern auch der Stadt und ihren Einwohnern zu starkem Selbstbewusstsein verholfen. Mit dem Kaiserhaus entstand dort der seinerzeit größte Profanbau nördlich der Alpen, und seine romanische Architektur nahm man in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zum Anlass, wenigstens diesen Palast, die Ulrichskapelle und die den Kaiserstuhl beherbergende Vorhalle der vierzig Jahre zuvor wegen hoffnungsloser Baufälligkeit abgerissenen Stiftskirche mehr oder weniger mustergültig zu rekonstruieren und im Inneren zeitgenössisch auszugestalten. Der preußische Staat als Nachfolger des Königreichs Hannover hat hier damals Maßstäbe für die Zukunft gesetzt.

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Es gibt also keinen Grund zum Benörgeln deutscher Tradition. Solange wir romanische Bauten stolz den Touristen herzeigen und die nachfolgenden gotischen Bauwerke ideell verinnerlicht haben; solange wir die Hochsprache der Lutherbibel sprechen und doch noch irgendeinen Schimmer von Weimarer Klassik und phantastischer Romantik uns bewahren; und solange wir uns im klaren darüber sind, dass unsere moderne industrialisierte arbeitsteilige Gesellschaft nur so sich gut weiterentwickeln kann, wenn wir uns von den Kräften der Geschichte leiten lassen – dann müssen wir nicht in Furcht erstarren vor den Abirrungen gestern und heute, sondern können ganz getrost unsere alten Tagebücher und Bilder hervorholen: nicht, um an ihnen herumzukritteln, erst recht nicht, um sie zu verdammen; – sondern: um in ihnen die Grundlage unserer gewiesenen Wege zu erkennen. Dann sind wir im Leben stark. Und nicht nur manchmal.

Fotos: Gewölbe der frühgotischen Annenkapelle im Kreuzgang des Hildesheimer Domes; Blick in den Garten des Barkenhoffs in Worpswede; Kaiserstuhl in Goslar im Spiegel des Alltags.