Ungesungene Hymnen

Noch über das sehr vorzeitige Aus für „Die Mannschaft“ hinweg sehen wir, die Deutschen, uns in einen angeblich veritablen Sängerkrieg verwickelt, der den schnöden und enttäuschenden Ergebnissen bei der trotzdem ja – nur eben ohne „uns“ – weiterlaufenden Fußballweltmeisterschaft in Russland doch noch einen letzten Sinn abzugewinnen vorgibt.

Gegen die Özil-Feinde brachte man zuletzt das Argument in Stellung, von den deutschen Spielern der WM ’74 habe seinerzeit so gut wie niemand die Nationalhymne mitgesungen – dennoch sei das Team um Bundestrainer Helmut Schön damals Pokalgewinner geworden. Es könne also keinerlei ursächlicher Zusammenhang zwischen vaterländisch motivierter Sangeslust und patriotisch befeuertem Siegeswillen mit entsprechend stolzem Endergebnis bestehen.

Das mag stimmen oder auch nicht. Ich sage hier und heute, vierundvierzig Jahre nach dem großen Finale, das uns an der deutsch-niederländischen Grenze tumultuarische Zustände bescherte, nur dieses: Die beiden unzertrennlichen Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land anno MCMLXXIV hießen Tip und Tap und waren erkennbar den damals gerade aufsteigenden Stars am Himmel des aus Amerika importierten und genial synchronisierten Kinderfernsehens nachempfunden, nämlich Ernie und Bert aus der Sesamstraße.

Ungesungene Hymnen

Neben dem Kichern des breitschädeligen Ernie und dem Brummen des eierköpfigen Bert sind uns aus dieser bewegten Zeit der Nach-68er-Jahre die besten Songs aus der Welt Jim Hensons und seiner Muppets, auch und gerade in der Sesame Street, bis zum heutigen Tag in bester musikalischer Erinnerung: „Quietscheentchen, du bist mein“, „Hätt‘ ich dich heut‘ erwartet, hätt‘ ich Kuchen da“ oder das unverwüstliche „Manamana – didibidibi“ … Da verzichtete man gern und gnädig auf die Sangeskünste von Paul Breitner, Sepp Maier & Co.

Seitdem haben sich die Zeiten mental sehr verändert. Einer wie Mesut Özil gilt nunmehr als bockig, wenn er seinen Mund nicht öffnet. Und niemand ist zur Stelle, der ihm mal so richtig mit Mozart oder Beethoven den türkischen Marsch bläst. Sei’s drum. Die Mitglieder der spanischen Nationalmannschaft wurden gar in toto von uns biodeutschen Fernsehzuschauern beargwöhnt, weil von denen wirklich niemand sang: Dass deren Hymne – bereits seit über 260 Jahren erklingend, also eine der ältesten ihrer Art überhaupt – bis heute keinen allgemein anerkannten Text hat, wäre da, bevor man sich ereifert, vielleicht wissenswert gewesen.

Was uns heutzutage fehlt, ist die Selbstverständlichkeit eigener musikalischer Aktivität. Auch in den Siebzigern sang nicht jeder in einem Chor oder spielte ein Instrument – aber man ging durchaus in oder auf Konzerte, man hörte im Radio die entsprechenden sonntäglichen Sendungen, man kannte und sang und pfiff die gerade beliebten Melodien aus Fernsehserien, Schlagern, Operetten oder gar Opern. Wer dann so ein paar prominente junge Fußballer vor einem Länderspiel während der Hymne stumm sah, konnte als liberal erzogener Bildungsbürger das irgendwie letztlich augenzwinkernd einordnen: Die können oder wollen eben nicht singen. Ach, das sind so Revoluzzer – lass sie zehn Jahre älter werden, dann hat sich das gegeben …

Heutzutage sind wir verunsichert, weil unsere eigene Kultur – und sei es die der seichten Wunschkonzerte – im Abklingen ist. Hier aufgewachsene Muslime, selbst solche türkischer Abstammung, sind keinesfalls mehr automatisch dem „westlichen“ Lebensstil zuzuordnen. Das, was wir über ein halbes Jahrhundert hinweg uns als kemalistisch garantiert einredeten, traf damals und trifft auch heute einfach nicht zu. Da können wir indes itzo auf die Schnelle nichts ausrichten. Besinnen wir uns also notgedrungen erst einmal auf eine längere Zeit eigener kultureller Bestandsaufnahme.

Und: Nehmen wir die aktuell fehlende Gesangskultur bei der seit dem Jahr 2015 nicht mehr deutsch sich nennen dürfenden „Mannschaft“ am besten: sportlich. Auch sie hat ja ihre Tradition, nur eben mit dem kleinen Unterschied, dass sie damals zur Weltmeisterschaft führte – und diesmal zum Versagen. Womöglich liegt die Differenz, wie meistens ja, im Charakter der handelnden Personen: Die 74er haben sich durch nichts und niemanden in ihren jeweiligen Einzelpersönlichkeiten übertreffen lassen. Da waren elf Individualisten auf dem Spielfeld. Das war auch nicht immer nur unproblematisch.

Und die 18er? Wo waren da die eckigen kantigen echten Typen? Die durften erst gar nicht mit nach Russland fahren und waren schon vorher aussortiert. Fazit: Außer medial gehyptem Sängerkrieg fußballdeutsch nichts gewesen. Schade.

Technik, die begeistert

Seit einiger Zeit folge ich dem Autor Wolfgang G., der einen Weblog namens „Pfaffes World“ betreibt. In seiner neuesten Nummer „Das Smartphone“ schreibt er von all der Mühe, die das neue Mobiltelefon seiner Mutter ihm bereitet. Ganz selbstverständlich wendet sich die 76jährige Dame nämlich an ihren Sohn, wenn sie Schwierigkeiten mit der neumodischen Technik hat. Da sage ich nur: Chapeau!

In meiner Familie oder im eigenen Freundeskreis käme niemand auch nur von ferne auf die Idee, mich um Hilfe anzugehen, so es um richtig praktische Handgriffe geht. Dass ich eine Kneifzange bemühen könnte, um ein verbogenes Ende des Ladekabels wieder flottzumachen, stellt sich in bezug auf mich kein Mensch meiner engeren und weiteren Umgebung annäherungsweise geschweige denn hoffnungsfroh überhaupt erst vor.

Solange alles reibungslos funktioniert, bin ich selber allerdings ein begeisterter Nutzer all der Geräte und Maschinen, die unsere Welt heutztage prägen. Dabei halte ich das Durcharbeiten von schlecht aus dem Englischen (oder Chinesischen, gar Koreanischen?) übersetzten Bedienungsanleitungen für eine völlig überbewertete Tätigkeit. Ich lese die ellenlangen Texte nie (seit dem Bonmot von US-Präsident Trump, er sei ein bekennender Nichtleser, darf das ja offen gesagt werden), sondern verfahre nach dem Motto trial and error. Doch, wie schon angedeutet: Das läuft bei mir nur, solange der Strom aus der Steckdose fließt und ich behaglich davon ausgehen kann, dass auf Knopfdruck jeweils das geschieht, was draufsteht.

Ich muss in die Tasten greifen können; und wenn ich mich vertippe, etwa ein CAPS LOOK mir nur noch Großbuchstaben serviert, bin ich aufgeschmissen: Wo war nochmal die Funktion, um das rückgängig zu machen? – Mein Kompjuhter sagt es mir dann ja nicht, ich sehe mich dem Zwang ausgesetzt, durch wildes Drücken an beiden Seiten der Buchstabentastatur alles höchstselbst herauszufinden. Vielleicht macht aber gerade solch eine Störung unbewusst heideggerischen „Zuhandenseins“ am Ende innovativ, um nicht zu sagen mutig.

Wie gut, dass die mechanische Schreibmaschine weitestgehend ausgedient hat. Aufgrund meiner einzigen Ausbildung, die ich in technischer Hinsicht einigermaßen erfolgreich durchlaufen habe, bestand nämlich früher, also im tiefsten Damals, bei mir immer die Gefahr, Akkorde anzuschlagen. Das Durcheinander in sich verhakter Buchstabenhämmerchen anschließend rein händisch wieder zu entwirren gestaltete sich zeitaufwendig, ergo geduldstrapazierend und auf eine mir befremdliche Weise enervierend fingerspitzengefühlig. Am Klavier war doch vieles bedeutend einfacher, und was ich an Fingerfertigkeit und durchaus auch Sensibilität besaß, fand ich dort sinnvoller eingesetzt und entfaltet.

Andererseits war mein Verhältnis zu namentlich rundfunktechnischen Errungenschaften unserer bundesdeutschen Zivilisation über weite Strecken meiner Kindheit eigentümlich personalisiert. Den Sprecher, dessen ernste Nachrichtenstimme aus einem bei uns zu Hause scherzhaft „Dampfradio“ genannten Apparat aus den Fünfzigern erklang, stellte ich mir in demselben sitzend umgeben von völliger Dunkelheit vor: Amt und Person derart übereinstimmend, dass sich die Umrisse des Kopfes nicht von der ewigen Nacht im klar ersichtlich fensterlosen Radiogerät unterscheiden ließen. Darin spiegelt sich wohl meine damalige Auffassung von Seriosität und Feierlichkeit. Notabene halte ich diese Erwartung an die Machart tagespolitischer Meldungen bis heute hin aufrecht.

Später, als es einen eigenen Fernseher bei uns gab (aus dem Impuls heraus, die Olympischen Spiele von München in den eigenen vier Wänden ansehen zu können), meinte ich, dass Programmansagerinnen oder Tagesschausprecher mich in unserem Wohnzimmer sehen könnten. Das zog erhöht angepeiltes gutes Benehmen und Aussehen coram Hanni Vanhaiden oder Karl-Heinz Köpcke nach sich.  Wer wollte sich schon blamieren, wenn die allabendlichen TV-Leute höchstpersönlich einen ansprachen? Auch diese Menschen brachten es doch fertig, exklusiv pro me dazusein. Wie sie es schafften, gleichzeitig auch all die anderen Millionen Haushalte mit ihrer Anwesenheit zu beglücken, blieb mir indes schleierhaft. Aber die Technik würde das schon hinkriegen, beschwichtigte ich mich selbst. Schließlich waren ja in diesen modernen Zeiten auch Mondlandungen möglich …

Völlig anders gelagert war mein Verhältnis zum gemieteten Fernsprechapparat der Deutschen Bundespost. Ich teilte die allgemein verbreitete Ansicht, es sei gut, dass man sich beim Telephongespräch nicht sehe. So konnte beispielsweise die Hausfrau auch während ihrer Arbeit einen Anruf entgegennehmen, ohne der sie so vielfach bedrängenden inneren Stimme „Schürze ab!“ tatsächlich Folge leisten zu müssen. Insgesamt galt die Grundregel: „Fasse dich kurz“; denn wir befanden uns eben nicht in West-Berlin, wo man für 23 Pfennig unbegrenzt lange fernmündlich sich zwischen Frohnau und Zehlendorf auslassen konnte. Für uns, den jungen Nachwuchs, war übrigens das graue Ding mit der Wählscheibe in Eigeninitiative tabu. Zur Illustration gab es dazu von den Erwachsenen eine Geschichte über Kinder, die aufs Geratewohl eine Nummer gewählt hatten und punktgenau in Japan gelandet waren. Die anschließende Rechnung an die Eltern wies eine Verbindung im Wert von über tausend Mark aus …

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Das Problem eines utopischen Bildtelefons kehrte sich während eigener Lektüre von Orwells „1984“ um in das der dystopischen Totalüberwachung. Technisch ist diese letztere mittlerweile nicht nur möglich geworden, sondern auch allgegenwärtig – derzeit allerdings noch in freundlicher Form. Genaueres wissen wir im übrigen ja nicht: Guckt der User durch seine Webcam nach außen, oder durchleuchtet die in Laptop respektive Smartphone eingebaute Heimkamera die eigene Wohnungsmisere und meldet deren mit Kleist, Büchner, Hoffmann, Nietzsche oder Adorno bestückten Bücherregale an irgendeine Zentrale?

Jedenfalls ist die Unterscheidung zwischen Hör- und Sprechmuschel im digitalen Zeitalter obsolet geworden. Viele Krawattenmenschen im Zugabteil sprechen lauthals in die Gegend, total wichtig: zwischen Bremen und Hamburg möglichst ununterbrochen. Als unfreiwilliger Mithörer bekomme ich mit, wer seine Präsentation in der Firmenleitung „unterirdisch“ abgeliefert hat, oder wessen Macke schnurstracks einen Kündigungsgrund darstellen muss, nach dem Motto: „Das geht GAR nicht“ … Technik und Transparenz schließen bei solchen Eisenbahnfahrten eine bezeichnende Ehe. Und auf dem Display blinkt zuverlässig die unlöslich-unlöschliche Verbindung auf. Das Sechste Gebot, hier kann es noch einmal so richtig auftrumpfen.

„Dann heirat‘ doch dein Büro“, sang Katja Ebstein 1980, und ihre vorwurfsvoll-selbstbewusste Stimme klingt herüber in unsere dienstbeflissen-humorlose Jetztzeit. Ein Unterschied zu damals ist, dass sich die räumlichen Dimensionen völlig verflüchtigt haben. Die imperativgesättigten Zeilen: „Stell dir ein Bett dort hinein / und schlaf mit den Akten und Computern ein“, locken heutzutage nur mitleidiges Lächeln hervor; denn dank der Kommunikationstechnik ist überall Arbeit und Freizeit, wo immer man sich aufhält: unvermischt und unverwandelt, ungeteilt und ungetrennt. Was einst im Konzil von Chalcedon im Jahre 451 von den zwei Naturen Christi vierfach ausgesagt wurde, ist mittlerweile völlig beliebig individualisiert und droht auseinanderzufließen in belanglose E-Mails, dröhnende „Sprachnachrichten“ oder undurchschaubare Algorithmen, an deren Stelle sich ein personal denkender einfacher Zeitgenosse gern wirkliche Menschen dächte, die den Informationsaustausch wohlwollend oder doch augenzwinkernd begleiteten …

„Pfaffes World“: Die Reformatoren sahen den Buchdruck als Gottesgeschenk an. Durch ihn konnten sie ihre Gedanken in Schriften und Liedern rasch und raumfüllend verbreiten. Das Internet schließt sich direkt an. Die guten, zu Unrecht oft geschmähten evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer nehmen das Wort nach wie vor ernst. Sie sind nicht etwa „noch“ erfüllt von der ihnen aufgetragenen Botschaft – als ob diese ein Relikt der Vergangenheit wäre, womöglich „nicht mehr zeitgemäß“ – , sondern die kirchlichen Amtsträger ringen wie am ersten Schöpfungstag um die jeweilige Bedeutung der großen vermittelnden Verheißung: „Und Gott sprach“. Für mich sage ich: Technisch reparieren kann ich nichts, aber gesprächsweise dasein und darin zugleich mediale Nähe wie erholsames Seinlassen verkörpern – das geht durchaus. Macht die Pfaffen nicht schlechter, als sie sind!

Foto: Fernsprechapparat der Deutschen Bundespost aus den siebziger Jahren.