Würden alle momentan als „zeitgemäß“ eingeforderten Normen befolgt, müssten etliche schöne Baudenkmäler gnadenlos verschwinden. Denn die meisten Kirchen, Burgen, Schlösser oder Rathäuser aus antiken, mittelalterlichen oder neuzeitlichen Epochen erfüllen nie und nimmer auch nur von ferne heutige Regelungen in bezug auf Frauen- , Behinderten- oder Meinungsfreiheitsrechte. Allenfalls die Aufgänge zu den Emporen der Hagia Sophia in Konstantinopel (erbaut im 6. Jahrhundert) bilden eine politischkorrekte, weil rollatorkompatible rühmliche Ausnahme, hat man doch dort in steingewordener heiligweiser Voraussicht auf Treppenstufen zugunsten von sanft ansteigenden schwellenlosen Rampen verzichtet.
Dieser Tage nun werden wir heimgesucht von Skandalen völlig anderer Art. Sie stehen aber insofern mit architektonischer Hochkultur auf dem Boden der heutigen Türkei sowie mit einer leider daraus abzuleitenden islamistischen Verirrung in Verbindung, als der Autor dieses Weblogs bereits vor längerer Zeit in einem Text mit dem Titel Suite gothique einleitend unter anderem – weil ja (es war im Reger-Gedenkjahr) alles mit allem immer irgendwie zusammenhängt – auch über grüne Flaggen meinte sinnieren zu müssen. Allerdings vergaß ich damals (1. Juli 2016) zu erwähnen, dass sich zu spitzbögigen Baumeisterplänen gern auch spitzbübische Bierbrauerkünste gesellten. Gotischer Gerstensaft passt nun allerdings so ganz und gar nicht zu glaubensstarkem Grün, sofern öffentlichkeitsheischende Ökoparteipolitik sich dann doch zuletzt von ölscheichgesteuerter Ökonomie unterscheidet.
Jedenfalls war wohl niemandem bisher klar, was Kronkorken so alles anrichten können. Erst jetzt erfahren wir, dass sie weniger knorke denn krawallig wirken: König Fußball macht’s möglich, wenngleich wider Willen. Eine Bierbrauerei aus Mannheim beabsichtigte, auch in diesem Weltmeisterschaftsjahr allen Sammlern und Tauschlustigen eine Freude zu machen, und bedruckte fröhlich ihre Flaschenverschlüsse mit den Abbildungen von Flaggen der bald in Russland antretenden Nationen. Weil diesmal Saudiarabien mit von der Partie ist, prangte folglich auch dessen Hoheitszeichen als alkoholabdichtendes Objekt in regelmäßigen Abständen und völlig gleichberechtigt mit den Symbolen der übrigen einunddreißig Staaten auf diesem oder jenem gläsernen Behältnis.
Der Sturm im Bierglas ließ nicht lange auf sich warten. Nichts blieb im grünen Bereich; denn bekanntlich ziert das Tuch auf der Grundfarbe des Islam in Gestalt eines weißen arabischkalligraphischen Schriftzugs über schlankem Schwert das fundamentale Glaubensbekenntnis: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter.“ Deshalb beschwerten sich wohl derartig viele Wahhabitismusversteher, dass dagegen auch nicht eine einzige Mannheimer Rakete geholfen hätte. Ein Königreich für eine Alkoholfahne! – diese Kombination rief immense Wut unter „Betroffenen“ hervor, so dass die Brauerei nach Konsultationen mit der Polizei (!) und gar dem Staatsschutz (!) den Rückzug antrat, das Weite suchte … oder wie immer man das ausdrücken soll. Jedenfalls blies sie schließlich aus Sicherheitsgründen die gesamte Aktion ab. Kleine und große Fußballfans haben seither das Nachsehen.
Irritierend wirkt, dass die Zornigen und Eifrigen einen Sieg davontragen, indem sie Form und Inhalt dreist miteinander vermengen und dafür punktgenau jenes Verständnis bekommen, das sie drohend eingefordert haben. Als ob es tatsächlich um Verletzung religiöser Gefühle ginge. Wäre es den Aufgeregten wirklich darum zu tun, könnten sie sich doch juristisch zur Wehr setzen, schön innerhalb unserer bundesdeutschen rechtsstaatlichen Ordnung. Vielleicht bekäme man dann Klarheit darüber, ob die bloße Abbildung eines staatlichen Symbols im Kontext von mehr als zweieinhalb Dutzend weiterer Flaggen eine gedankliche Auseinandersetzung mit den jeweils auf ihnen abgebildeten Realien implizieren muss. Sind denn – anderes Beispiel – die auf den Dannebrog zurückgehenden Kreuzdarstellungen sämtlicher oldenburgisch-skandinavischen Länderfahnen noch heutzutage primär und zwingend als Zeichen einer (hier: christlichen) Gottergebenheit zu deuten?
Im normalen, faktisch multikulturell geprägten Alltag dient das alles doch dem spielerischen und sportlichen Wettbewerb. In dessen Vollzug kann man sich Weltläufigkeit durchaus im Sammeln und Tauschen auch von Kronkorken aneignen. So wird die gute alte Übung modifiziert, sich gegenseitig freundschaftlich bei der Füllung von Panini-Alben zu unterstützen. Nicht mehr, nicht weniger. Statt nun aber in diesem Sinne den Kritikern zu antworten, schrieb die Brauerei an nicht näher spezifizierte „Liebe Muslime“ unter anderem folgendes: „Wir haben kein Interesse an religiösen und politischen Äusserungen – schon gar nicht über unsere Produkte. Sollten wir Sie unabsichtlich beleidigt haben, bitten wir förmlichst um Entschuldigung. Wir wussten tatsächlich nicht, dass die Schriftzeichen ein Glaubensbekenntnis darstellen. Wir haben lediglich überprüft, ob Flaggen und Teilnehmer korrekt sind.“
In einem begleitenden posting der Brauerei an die Kundschaft finden sich überdies die hübschen Sätze über die gesamte Aktion: „Nur jede 171ste Flasche davon trägt den Kronkorken von Saudi-Arabien. Wir sind aktuell dabei, die Paletten im Handel zu sichten und die betroffenen Flaschen auszusortieren.“ Gleichzeitig aber wird eben damit die ganze heitere Angelegenheit beendet. Kein Biertrinken mehr aus den armen bemitleidenswerten gläsernen Behältnissen, weil Sympathisanten einer der schlimmsten Diktaturen der Welt sich aufregen. Was hat die Brauerei eigentlich befürchtet? Dazu Schweigen im deutschen Walde. Wurde die Firma bedroht? Ist die Saudilobby hierzulande bereits genauso stark wie im schon unterworfenen Houellebecqfrankreich?
In unserem Fußballdeutschland nerven ja derzeit eher zwei türkischstämmige Spieler: Die posieren stolz auf einem Foto mit dem Neosultan aus Osmanien, welcher gerade in seinem Staat erst die Gewaltenteilung, dann die Demokratie insgesamt abschafft und, um von selbstgemachten finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken, Kriege anzettelt. Alles unter den geneigten Augen eines paneuropäischen appeasement. Als nun die beiden erwachsenen Männer, die sich einst bewusst für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden, erwischt werden, erhebt sich ein allgemein bundesdeutsches pädagogisches „Du, du, du“ – für die ach so naiven Jungs wird eigens ein Termin beim Bundespräsidenten arrangiert, bei dem die beiden in Turnschuhen und Hochwasserhosen auflaufen. Danach soll, trotz dieser neuerlichen Respektlosigkeit, alles vergessen sein, man belässt sie im Kader für die Weltmeisterschaft, und nur wenige protestieren udojürgensmitfühlend, jedoch erfolglos: Aber bitte mit Sané …
Özil beleidigt rund um sich herum – einmal unser Staatsoberhaupt, mehrfach zudem die Nationalhymne, die er nicht nur bisher nie mitsang, sondern auch nach dem Besuch auf Schloss Bellevue weiterhin ganz absichtlich meidet: Dieser nach wie vor und völlig unverändert seit eh und je extra zugekniffene Mund hätte doch eigentlich für den Bundesjogi Grund genug gewesen sein müssen, auf solch einen hartleibigen störrischen Mesut endgültig zu verzichten. Die Pfiffe aus deutschen Fankurven im Stadion zu Klagenfurt waren aber wohl noch nicht gellend genug. Und das Endergebnis, die Translation von Córdoba (nein, eben nicht von anno 711, sondern 1978), hat mitnichten Alarmglocken läuten lassen. Wie auch, er schoss ja das eine Tor für „die Mannschaft“ und war sozusagen der Sieger trotz schlussendlicher Niederlage; denn die Ösis gewannen ja mit zwei Treffern gegen Özil … Aber wiederum tönt es: Schwamm drüber. Freundschaft!
Fassen wir zusammen: Russland ist ein großes Land. Zwar wirkt deutsches Bier völkerverständigend, kann jedoch die Sicherheit vor Wahhabiten und solchen, die es unbedingt werden wollen, dadurch nicht unbedingt garantieren. Deutscheingebürgerte Erdoganversteher dürfen sich alles erlauben, auch wenn sie unser Grundgesetz, dazu Haydn und Hoffmann von Fallersleben buchstäblich mit Füßen treten. So bleibt nur ein Blick auf den Beginn dieses Textes: Lest mal meine Suite gothique, freut euch an der abendländischen Kultur welcher Spielart auch immer, trinkt zur Not Gerstensaft nach Rezepten völlig vergessener Weltgegenden, aber doch nach dem deutschen Reinheitsgebot:

… und haltet es ansonsten mit den betroffenen Flaschen so, wie einst Bayern-München-Trainer Giovanni Trapattoni in seiner syntaktisch-semantisch wunderbaren Wutrede von vor gut zwanzig Jahren: „Spieler, die waren schwach wie eine Flasche leer.“ Wer sich übrigens ganz besonders flaschig anstellt, hat in der christlich-muslimisch-musealen Hagia Sophia keine Chance: Man kann dort beim Abgang von den Emporen in Tat und Wahrheit sehr ins Rutschen, Rollen oder auch Runterkullern kommen … – Treppen haben eben auch ihr Gutes. Ich habe fertig.
https://ausdrucksiteblog.wordpress.com/2016/07/01/suite-gothique/
Foto: Zu Kronkorken mögen Majestäten gehören, wie es „König Silberzunge“ war: Schon anno 1969 mahnte Kanzler Kiesinger: „Ich sage nur: China, China, China.“ – Da war die deutsche Kolonie Tsingtao im Reich der Mitte zwar bereits fünfzig Jahre verflossen, nicht aber deren Exportschlager, den man bis heute in Chinarestaurants im deutschen Tor zur Welt genießen kann. Wer dort aus irgendwelchen politischreligiöskorrekten Gründen solches verschmäht, muss nicht gleich beleidigt sein. Man reicht dort in ausgesuchter Höflichkeit auch anderes Erfreuliche: unter Umständen sogar in Kännchen, nicht ausschließlich in Flaschen. Nach Sammelbildchen habe ich bisher übrigens noch nicht gefragt. Dass das zuständige Politbüro Proteste gegen Bierbouteillen wegen missliebiger Panini organisieren würde, ist allerdings eine echte Pekingente.