Verdrängter Kaiser

Auf dem gerade zu Ende gegangenen Katholikentag in Stuttgart wurde das dortige Denkmal für Kaiser Wilhelm I. mit rotem Tuch verhüllt. Damit wollten die Veranstalter auf den bösen „Kolonialismus“ aufmerksam machen, der sich angeblich mit dieser Person verbindet.

Ich bin – wieder einmal – erschüttert über das historische Rumpfwissen heutiger Protagonisten. Der Erwerb von Kolonien war im jungen Deutschen Reich nämlich durchaus umstritten. Im übrigen fungierte als der eigentliche „starke Mann“ im frisch geeinten Deutschland bis zu dessen erzwungenem Rücktritt faktisch eben nicht der Kaiser, sondern Reichskanzler Bismarck – und der hat sich in dieser Hinsicht, bei allen Schwankungen, letztlich dagegen ausgesprochen! Dass dieser Lotse 1890 von Bord gehen musste, ist dann bereits Wilhelms Enkel, dem gleichnamigen „Zwo“, anzukreiden – wenn man denn schon einen „Schuldigen“ sucht und sich nicht die Mühe machen will, auch ihn, den letzten deutschen Kaiser, differenziert zu betrachten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir nehmen die Tat laienhafter Kirchenaktivisten hier und heute daher lieber zum Anlass für eine skizzenhafte Würdigung des von katholischen Gutmenschen in der Schwabenmetropole verhängten und verdrängten evangelischen Blaublütlers, liegt doch der Geburtstag des Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen nun 225 Jahre zurück: Am 22. März 1797 erblickte der Prinz in Berlin dieser Welt Licht, nach dessen „Mehr“ auf den Tag genau 35 Jahre später der sterbende Goethe in Weimar verlangen sollte. Als zweiter Sohn des Kronprinzen und baldigen Königs Friedrich Wilhelm III. und dessen Gemahlin Luise schlug „Wilhelm der Große“ früh die militärische Laufbahn ein. Dass er einmal selber wegen der kinderlosen Ehe seines Bruders, des preußischen „Romantikers auf dem Thron“ Friedrich Wilhelm IV., erst König und dann sogar Deutscher Kaiser werden würde, hätte zunächst niemand gedacht.

Wilhelm I. war übrigens – was nicht hinreichend im geschichtlichen Allgemeingedächtnis gegenwärtig ist – ein Jahrgangsgenosse von so unterschiedlichen „Promis“ wie Annette von Droste-Hülshoff (+1848), Franz Schubert (+1828) und Heinrich Heine (+1856). Im Unterschied zu diesen verhältnismäßig früh Verstorbenen erreichte er das biblische Alter von fast 91 Jahren. Der in den Berliner Revolutionstagen 1848 fälschlicherweise als „Kartätschenprinz“ zu unrühmlichem Namen gelangte präsumptive Thronfolger wurde, nach einer dreijährigen Zeit als Prinzregent an seines erkrankten Bruders Statt, dann 1861 tatsächlich preußischer König. Mit Bismarck als Ministerpräsident begann bereits 1862 heftiger Streit: der Verfassungskonflikt um die Heeresreform.

Die darauf folgenden Waffengänge gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) wurden freilich im Sinne von „Preußens Gloria“ und der Einigung Deutschlands überaus erfolgreich. Kritischen Nachgeborenen erschienen sie allerdings als Erweis von Militarismus und Nationalismus. Wilhelm selbst aber soll geweint haben, als man ihm 1870/71 den Kaisertitel aufnötigte: Er sah in diesem Akt das alte Preußen untergehen, jene europäische Großmacht, die sich nach dem Zusammenbruch 1807 zu einem modernen konservativ-liberalen Staat entwickelt hatte.

Geburtshelferin dafür war niemand anderes als die Mutter des zehnjährigen Wilhelm gewesen, eben jene legendäre Königin Luise, die einzige Person im königlichen Tross, die seinerzeit den Mut aufbrachte, sich mit dem „Ungeheuer“ Napoleon I. im ostpreußischen Tilsit an den Verhandlungstisch zu setzen. Dessen Neffen, Kaiser Napoleon III., hat Luisens nunmehr und wider ursprüngliches Erwarten königlicher Sohn dann 1870 unter umgekehrten Vorzeichen nach der Schlacht bei Sedan als Ergebnis einer Unterredung im Weberhäuschen Donchéry als Kriegsgefangenen „ab nach Kassel“ geschickt …

Ein Jahr zuvor war der König zum Namensgeber einer ganzen Stadt erkoren worden. Der preußische Kriegshafen im Jadegebiet, dessen sumpfigen Grund man 1852/53 dem Großherzogtum Oldenburg abgekauft hatte, hieß entsprechend seit 1869 „Wilhelmshaven“. Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 ging diese Bezeichnung auch auf die benachbarte oldenburgische Stadt Rüstringen über. Wilhelmshavens Einwohner hatten dann sofort mit Kriegsbeginn 1939 unter gegnerischen Fliegerbomben zu leiden.

Wilhelm I. – wir sehen es am Schicksal der nach ihm benannten Stadt – hat eher in seinen Funktionen denn durch seine Persönlichkeit größere Wirkung erzielt. Das unterscheidet ihn von seinem politischen Gegenspieler Bismarck, über den der Monarch bemerkte, es sei nicht leicht, unter solch einem Reichskanzler Kaiser zu sein. Dennoch hat man ihn verehrt. Als er gestorben war und die geneigte deutsche Öffentlichkeit es mit dem lärmigen Enkel Wilhelm II. zu tun bekam, sangen viele Menschen: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!“

Umstritten war Wilhelm I. zu Lebzeiten gleichwohl. Fortschrittlichen galt er als Reaktionär, keinen Deut besser als sein Bruder, der 1849 die ihm vom Frankfurter Paulskirchenparlament angetragene Kaiserkrone „im Namen des Volkes“ abgewiesen hatte. Auch er, Wilhelm, der mehrere Attentate überlebte, wollte partout im Sinne des überkommenen Gottesgnadentums regieren und wusste es nicht anders. Diese äußerst konservative Grundhaltung fand allerdings in den liberalen Gedanken seiner Gattin, einer geborenen Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Königin und Kaiserin Augusta, einen gewissen Ausgleich. Die zwei Kinder des Ehepaares haben jedenfalls dahingehend gewirkt.

Tochter Luise wurde mit dem Großherzog von Baden verheiratet. Dieser brachte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles sein Hoch schlicht auf „Kaiser Wilhelm“ heraus und umschiffte so den bizarren Streit um die Frage, ob der preußische König zusätzlich nun „Deutscher Kaiser“ oder „Kaiser von Deutschland“ sein solle. – Sohn Friedrich heiratete Victoria („Vicky“), eine Tochter der englischen Queen Victoria. Die liberalen Grundsätze der beiden blieben Blütenträume. Als der Sohn Wilhelms I. 1888 die Nachfolge seines Vaters antrat, untersagte ihm Kanzler Bismarck überdies die Kontinuität aus tausend Jahren: Nicht Friedrich IV. durfte er sich nennen, sondern er musste die Numerierung gemäß der preußischen Königsfolge annehmen: So wurde er auch auf der Ebene des Reiches Friedrich III.

Sein früher Tod nach nur 99 Tagen als preußischer König und deutscher Kaiser ließ seine Witwe als „Kaiserin Friedrich“ jenes ideelle Erbe antreten, von dem der Sohn, Wilhelm II., nur wenig wissen wollte. Stattdessen begann nun das sogenannte „Wilhelminische Zeitalter“ mit all den Widersprüchen, die bis heute unsere Gesellschaft prägen. Eigenwilliges Fortschrittsdenken verband sich aber eben erst ab damals tendenziell mit moralischer Großmannssucht und geistiger Selbstzerstörung. Hier hätte die woke Diskussion um deutschen Kolonialismus im gesamteuropäischen Imperialismus einzusetzen, nicht vorher. Denn ab da geriet schließlich ganz Europa ungewollt in den großen Krieg, der als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gleich den Keim zum Zweiten Weltkrieg in sich trug.

Dass der Stuttgarter Katholikentag vergleichsweise schlecht besucht war, hängt sicherlich mit vielen Dingen zusammen. Die eindimensionale Sicht auf einen protestantischen Hohenzollern wird womöglich auch den öffentlichen Eindruck verstärken, dass die deutschen Volkskirchen beiderlei Geschlechts nicht mehr unbedingt Orte und Zeiten für geschichtlich geschulte Weisheit bieten. Wo bleibt verantwortungsvolles historisch-informiertes Nachdenken? Ein rotes Tuch – oder, mit Fontane briestig-preußisch gesagt, ein weites Feld …

Buchlos glücklich

Mein erster benoteter Deutschaufsatz auf dem Gymnasium war zugleich der letzte seiner Art: Über ein freies Thema sollten wir schreiben, und ich entschied mich für den ersten von drei Vorschlägen: „Mein erster Schultag“. Mir bescherte dieses mein dortiges Erstlingswerk im klassischen Fach gleich die Bestnote, eine uneingeschränkte Eins.

Alle folgenden schriftlichen Klausuren bis hin zur Abiturprüfung bestanden meist aus dem Dreischritt Inhaltsangabe – Interpretation – Stellungnahme. Da waren dann jeweils bereits existierende literarische Werke die Grundlage. Entsprechend referentiell fielen die Aufsätze darüber aus. Textliche Eigenschöpfungen waren nicht mehr gefragt. Man hangelte sich extrem schülerhaft durch, nachvollziehend, verständig, letztlich: brav.

Eine andere Aufsatzgattung hieß „Argumentation“. Hier ging es zunächst noch ein wenig freier zu, indem Realien aus dem Alltag zur Diskussion standen. Allerdings war da bald eine Grenze erreicht: Zur Auswahl in der neunten Klasse stand einmal unter anderem das Thema: „Sollen alle Schüler männlichen Geschlechts in der Oberstufe Bärte tragen?“ – Dazu schrieb niemand etwas. Unser feinsinniger Deutschlehrer war darob ein bisschen erstaunt, ließ diesen Umstand aber im weiteren still auf sich beruhen …

Als wir dann selbst mit Eintritt in die elfte Klasse Oberstufenschüler wurden, differenzierten sich die Argumentationsmethoden noch einmal aus, dergestalt, dass vorgegebene Texte von Lessingschillergoethe über Mannbrechthesse bis zu Grassbölllenz in ihrem gedanklichen Gehalt bitteschön „in eigenen Worten“ auseinandergenommen werden mussten. Im Vordergrund als Forderung stand mithin das Verstehen vom Bestehen(den). In Bayern hätte man leben müssen: Da gab es die Möglichkeit zur Wahl eines freien Themas sogar bis zur Hochschulreife.

So hoch also die Anleitung zum eigenständigen Lernen in meinem niedersächsischen Schuldurchlauf veranschlagt wurde, so wenig Originales konnte daraus erwachsen. Wer nicht nebenher in seiner außerschulischen Freizeit Bücher las, dem kamen die kreativen Fähigkeiten schnell abhanden. Gefühlvolle Sprachgebilde, zu „Gedichten“ hochstilisiert, waren dann das Äußerste, was zu Papier gebracht werden konnte. Wem es gelang, doch auch den einen oder anderen Roman von Anfang bis Ende durchzulesen, mochte sich glücklich schätzen. Für den „Zauberberg“ musste ich erst krank werden, um mich ihm im Bett, ganz ungestört, freifiebernd hinzugeben.

Mit jedem Großwerk, das ich las, wurde ich kleinmütiger in Hinsicht auf meine eigenen literarischen Ambitionen. Den richtigen Überblick bekam ich nie; jedenfalls keineswegs so, dass ich guten Gewissens selber ein ganzes Buch hätte schreiben, geschweige denn zum Druck befördern wollen … Des Büchermachens ist kein Ende, weiß schon der Prediger Salomo. Diese weise Erkenntnis hemmt das bloße Nachplappern. Ich würde mich nur in den Bahnen des allseits Bekannten bewegen – beziehungsweise in ihnen verharren. Merke: Nichts Neues unter der Sonne! Alles darüber Hinausstrebende wäre ganz eitel.

Aus diesem kühlen Grunde habe ich mir für den Hausgebrauch meine eigenen Ausdrucksformen geschaffen, geschult in Rezeption, aber doch schöpferisch im Kleinformat. Ich lese alles, doch soll mich nichts gefangennehmen. Und wenn mir was in Herz und Verstand grünt, dann hat das mit der gleichfarbigen politischen Partei nichts zu tun. Da bin ich meinen Lehrern aus der Schulzeit tief dankbar; denn sie fügten sich zwar ihren lehrplanmäßigen Pflichten, ließen uns aber zugleich die Freiheit ergreifen, darüber hinaus, ohne Bärte oder andere Masken, sinnlich weiterzudenken.

Wenn keine Aussicht besteht, Erstklassiges abzuliefern: dann läßt man’s besser gleich ganz bleiben. Dies gilt nicht nur für die Produktion von Büchern, sondern auch zum Beispiel für eine Bewerbung zum einflussreichsten politischen Amt, das in der Bundesrepublik Deutschland zu vergeben ist. Oder für beides.

Foto: Steinerne Eule im Schrevenpark zu Kiel.

Märzgefallen

Gefallen im März 2020. Die Trauerweide in meinem Garten hat mir einmal mehr den Fall höchster Freude beschert. An ihren in die Tiefe fallenden Zweigen sprosst, wie jedes Jahr im Frühling, zartes junges helles Grün. Das ist in diesem Fall die gute Nachricht. Und nun die in Corona-Zeiten keineswegs zufällig schlechte: Da kommen sehr viele Fallzahlen auf uns zu. Nicht, wie es euch – und uns – gefällt, ist der Fall; sondern was uns fällt, wird dieser Welt zum Fall.

Gefallene Helden um die Iden des März: Caesar fiel am Fünfzehnten des Monats, vierundvierzig Jahre vor Christi Geburt und deren Versöhnung des adamitischen Sündenfalls. Beethoven starb am 26. März 1827 im Gefallen an dem schönen Wort Plaudite amici – comoedia finita est – „Freut euch, Freunde – das Lustspiel ist beendet“. Und am 22. März 1832 gefiel sich der liebe Gott auf jeden Fall an der letzten Sentenz des sterbenden Goethe von wegen „mehr Licht“.

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Die Märzgefallenen des Jahres 1848 post Christum natum sind dann namengebend geworden für die massenhaften Vorfälle in Wien am 13. März und in Berlin am 18. März, die längst fälligen Demonstrationen auf den Barrikaden – für die bürgerliche Freiheit. Vor allem waren es Handwerker, aber auch Intellektuelle und Künstler, die für den Fall von Pressezensur und allen sonstigen Eingriffen in die persönliche Freiheit sich stark machten. Österreichs Kanzler Metternich fiel und floh, Preußens Königspaar entfiel beim Trauerzug für die Gefallenen auf fordernden Zuruf des Volkes immerhin die Kopfbedeckung – für einen kleinen Augenblick jedenfalls.

Blutig und finster wurde es am 22. März 1945 (Goethes 113. Todestag), als angloamerikanische Bomben auf die uralte Stadt Hildesheim fielen. Tausendjährige Kirchenbauten und mittelalterliche Fachwerkhäuser wurden in unsinniger Zerstörungswut ein für allemal zu Fall gebracht. Damit fiel dort die kleinteilige kirchlich-adlig-bürgerlich-europäische Lebensleistung von Jahrhunderten gleichnishaft etlichen Fallstricken zum Opfer.

In jüngerer Geschichte fallen drei märzliche Wenden auf geschichtliches Interesse: Zum ersten die „geistig-moralische“ Wende vom 6. März 1983, sehr zum Missfallen meiner Generation. Zum zweiten die deutsch-deutsche Wende, die mit dem 18. März 1990 und somit auf den Jahrestag der Berliner Märzgefallenen fällt, die erste und letzte Wahl zur Volkskammer der DDR – bevor dieser Staat dann zusammenfiel und der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 beitrat. Zum dritten gibt es jetzt eine Corona-Wende, deren Fallzahlen wir abwarten müssen und deren Ende wir mit Beifall bedenken werden.

Die Spaßgesellschaft mit ihren „Gefällt mir“-Klicks hat wenig Substanz, wenn wir die rhetorisch eindrückliche Fallstudie des französischen Staatspräsidenten im Herzen bewegen und mit ihm im Chor einfallen, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Fällig wären dann nämlich die an dem Virus Gestorbenen: für ein Denkmal der Gefallenen. Ein Fall von Helden im Jubiläumsjahr von Hegel, Hölderlin und Beethoven. Für alle drei Genannten fällt der Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Male an.

Mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 (Märzgefallene in Berlin 1848; DDR-Volkskammerwahl 1990) hat unsere Bundeskanzlerin womöglich unauffällig ihren Gefallen bekundet an historisch bedeutsamen Fällen, Einfällen, Ausfällen. Mir fällt dazu jedoch nichts weiter ein. Unsere Wirtschaftsordnung und das Geldsystem werden voraussichtlich ins Bodenlose fallen. Dass die Regierungschefin in ihrer Rede die Relevanz des Ausfalls von Gottesdiensten und generell kirchlichen Lebens so überhaupt nicht erwähnte, sollte übrigens auch einmal auffallen. Noch nicht einmal Gottes Segen (wie sonst in vielen Neujahrsansprachen) fiel ihr ein zu wünschen. Fallweises schreckliches Fazit: Dem christlichen Abendland geht es innerhalb unserer bisher so wenig anfälligen grundgesetzlichen Ordnung an den Kragen. Aber wem fällt das in dieser ungewissen Zeit groß auf?

Im Blick auf die bewährte föderale, republikanische, demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung wird vieles fallen und neu werden: Meine Trauerweide fällt in leuchtendes unparteiisches Grün. In diesen unsicheren Zeiten ist das ein tröstlicher Zufall. Aber Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht. Dem Märzfall des Diktators Caesar sehen wir nach wie vor zwiespältig ins Auge. Die Märzgefallenen von 1848 verdienen unser herzliches Gedenken. Dem Märzgefallen anno 2020 gilt unsere Aufmerksamkeit.

Foto: Meine Trauerweide in fallenden Zweigen und freundlichem Grün.

Zwölf berückende Buchumschläge

Vom Brexit hört man derzeit wenig,

doch was man sieht, stimmt melancholisch:

1

 

So geht man denn zur Apotheke,

auf dass man sich schön lyrisch stärke:

VI

 

Dort, feuilletonverdorben, liest wer

das Mozart-Buch von Hildesheimer:

2

 

Wenn einer der Musik die Stirn böte,

dann könnte das noch immer Goethe:

5

 

„Amerika, du hast es besser“,

trotz vieler wahnhafter Obsesser:

7

 

„Ach“, ruft man aus,

„Bach soll ins Haus!“ -:

4

 

Das Bücherregal biegt sich tiefer,

wenn ich den dicken „Wagner“ liefer:

VII

 

Solch Roman vrai kommt nicht allein,

ganz primig zwiefach muss es sein:

III

 

Die Günderrode und Heinrich von Kleist

Ringen que(e)r tödlich um den großen Geist:

IV

 

Dann treten Gauß und Humboldt auf,

vermessen unabhängig aller Welten Lauf:

3

 

Beschäftigen wir uns mit Robert Gernhardt,

so merken wir, dass er uns richtig gern hat:

V

 

Grundiert ist viel davon in Sang und Klang durch Ohren,

die einer spitzte, kunstgesinnt erkoren:

II

 

Was sollen wir nun hierzu sagen?

Es gibt vielleicht was gegen unsre Plagen!

Indes, man müsste das, was hülfe zu genesen,

auch wieder einmal tief und gründlich lesen!

Musik der Freiheit

Beethoven – weitaus mehr als nur der Name eines der ganz großen Komponisten inmitten einer stattlichen Anzahl anderer Musiker, die der Tonkunst unseres christlichen Abendlandes ihre Prägung verliehen haben! Beethoven steht für ein Lebensgefühl, das sich an schöpferischer Freiheit von nichts und niemandem überbieten lässt. Darin hat er, vor bald zweihundertfünfzig Jahren, am 16. Dezember 1770 in Bonn am Rhein geboren, in seiner Person „Ludwig van“ sowie in seinem Werk vielen anderen aus seiner Zunft etliches voraus. Und darin ist er all jenen, die ein kreatives Freiheitsverständnis verfechten, zu einem eindrücklichen Vorbild geworden.

Ludwig van Beethoven (1770-1827) gehört einer Generation an, die überall auf eigene Faust neue Welten ausmachen, entdecken, erobern muss. Einige Beispiele: Wilhelm von Humboldt (1767-1835), zusammen mit seinem Bruder Alexander Namensgeber eines bis heute wirksamen Bildungsideals, versucht, hinter den vielen Sprachen der Menschheit die eine Ursprache zu entdecken. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) betont die Bedeutung der Religion für das gesamte Menschsein als „Ahnung des Unendlichen“. Napoleon Bonaparte (1769-1821) zertrümmert die alte europäische Ordnung durch militärische Gewalt im Nachgang und Ausfluss der Französischen Revolution und bringt so deren Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu Weltgeltung. Alexander von Humboldt (1769-1859) reist als Naturforscher in französischen Diensten durch Mittel- und Südamerika und wird als Vorbild einer quasi international gewordenen Wissenschaft geehrt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) kreiert mit seiner dialektischen Philosophie des Weltgeistes ein in sich geschlossenes universales Denksystem. Friedrich Hölderlin (1770-1843) entwickelt in seinen Gedichten einen in sich schlüssigen, hermetischen sprachlichen Kosmos. Friedrich von Hardenberg (1772-1801), bekannt unter seinem Künstlernamen „Novalis“, redet einer mystisch-religiösen Weltschau das Wort.

Im Überblick dieser exemplarisch angeführten Persönlichkeiten zeigt sich ein Zug ins Große und Ganze. Man verabschiedet sich zumindest innerlich sowohl vom traditionellen Kirchenglauben beiderlei Konfession als auch vom Vertrauen in die Institutionen des Ancien Régime. Alles Schöpferische und alles Zerstörerische muss aus sich selbst heraus erwachsen. Die Kunst wird, gleich der Wissenschaft und Politik, in dem Sinne autonom, als sie sich ihre Grundlagen in der jeweils befähigten Einzelperson selbst zu bilden hat. In ihren bedeutendsten Exponenten, zu denen der geborene kurkölnische Bürger und getaufte Katholik Beethoven zweifellos zählt, haben wir es mit subjektiv-voraussetzungslos urtümlicher Phantasie bei gleichzeitig objektiv-meisterhaft traditionsgeschulter Kunstfertigkeit zu tun. Alles zielt auf das Menschsein an sich, in weltbürgerlich-aufklärerischer Absicht oder in individuell-romantischem Anspruch.

Beethoven, der jugendliche Organist und Bratschist am in Bonn ansässigen Hof des kurkölnischen Fürstbischofs, wächst in der geistigen Welt des aufgeklärten Absolutismus auf. Er nutzt die dort gewährte Freiheit, sich einem revolutionär gesinnten Lesezirkel anzuschließen. Zugleich ermöglicht man dem Wunderkind, in allen Bereichen der Musik sich weiterzubilden. „Empfindsamkeit“ und „Mannheimer Schule“ sowie deren „Rakete“ prägen die entsprechende Ausbildung. Christian Gottlob Neefe (1748-1798) unterrichtet seinen begabten Schüler im „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Als Joseph Haydn (1732-1809) von seiner ersten Englandreise zurückkehrt und in Bonn Station macht, stellt man ihm den Einundzwanzigjährigen vor. Aus dieser Begegnung ergibt sich die staatliche Bewilligung eines Stipendiums für die Musikmetropole Wien. So zieht Beethoven im Jahre 1792 auf Geheiß seines Landesherrn Maximilian Franz – eines Bruders der Kaiser Joseph II. und Leopold II. sowie der französischen Königin Marie Antoinette (allesamt Kinder des römisch-deutschen Kaisers Franz I. und seiner Gemahlin, der österreichischen Erzherzogin Maria Theresia) – in die kaiserlich-erzherzogliche Residenz an der Donau. Im „Reisesegen“ schreibt Graf Waldstein, Mitglied der Bonner Lesegesellschaft und später Widmungsträger der Klaviersonate C-Dur Opus 53 (1804), Beethoven werde, so er fleißig arbeite, „Mozarts Geist aus Haydns Händen“ erhalten.

Bereits 1787 ist Beethoven kurz in Wien gewesen, um bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Stunden zu nehmen. Nun, fünf Jahre später, sind Haydn, der Kontrapunktdozent Johann Georg Albrechtsberger (1736-1809) sowie der Chef der italienischen Oper, Antonio Salieri (1750-1825) seine wichtigsten Lehrer. Beethovens erhaltene Übungen im „strengen Satz“ zeigen den Hintergrund für das, was der Student etwa ab seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in erstaunlich phantasievoller Eigenproduktion mit genauer Kenntnis der Tradition in unbändigem Freiheitsdrang durchzuarbeiten und so zu überwinden trachtet. Dabei steht er seit 1794 mittellos da, weil die französischen Revolutionstruppen sich um den aufklärerischen Geist in der Bonner Residenz nicht geschert und das kurkölnische Territorium kurzerhand erobert haben. Die staatliche pekuniäre Unterstützung aus der Heimat bricht dem Dreiundzwanzigjährigen also weg.

Beethoven wird in Wien zunächst und vor allem als ausgezeichneter Pianist bekannt und entsprechend gefeiert. In Konzertveranstaltungen spielt er auf dem Klavier eigene Werke sowie seine weithin bewunderten ad-hoc-Fantasien, die ihm unter den Zuhörern den Titel eines „zweiten Mozart“ bescheren. Beethoven formuliert bereits in seinen ersten drei Wiener Klaviersonaten Opus 2 (komponiert im Jahre 1795) einen intellektuellen Anspruch, den er in den folgenden Werken immer weiter und entschiedener ausbaut, so in der „Pathétique“ Opus 13 (1799), in der „Mondscheinsonate“ Opus 27 Nr. 2 (1800) oder in der „Appassionata“ Opus 57 (1805). In all diesen Werken führt Beethoven die Gattung der Klaviersonate in vollkommener Kenntnis und Anwendung der Tradition endgültig aus dem Genre gehobener Unterhaltungsmusik hinaus in eine von ihren meisterhaften Vorgängern Johann Christian Bach (1735-1782), Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart nie für möglich gehaltene freiheitsbetonte Bekenntnismusik einer völlig unabhängigen Künstlerseele.

Wie wenig Beethoven dabei auf äußere Etikette achtet, zeigt sein distanziertes Verhältnis zu seinem einstigen Lehrer: Überliefert ist ein – übrigens beide Seiten verstörender – kurzer Wortwechsel im Jahre 1801, als Beethovens „Geschöpfe des Prometheus“ Opus 43 uraufgeführt werden und Haydn gegenüber dem Schöpfer dieser Ballettmusik meint, sie mit seiner eigenen „Schöpfung“ vergleichen zu sollen. Und schon fünf Jahre zuvor ist es zu einer Verstimmung beim fast vier Jahrzehnte Älteren gekommen, weil, statt in tiefer Dankbarkeit und Demut dem erhabenen väterlichen Freund und umsichtigen Lehrer seine drei Sonaten Opus 2 zu dedizieren, Beethoven lapidar formuliert hat: „Joseph Haydn gewidmet“.

Ein bedeutendes Zeugnis für Beethovens stetige eigenständige Weiterentwicklung musikalischer Sprache ist auf dem Gebiet der Orchestermusik die Dritte Symphonie in Es-Dur Opus 55 (1804), die sogenannte „Eroica“. Sie markiert, biographisch gesehen, das Ende von Hoffnungen, in Paris eine Stellung im dortigen Musikleben anzutreten. Zusagen auf lebenslange Renten durch österreichische Mäzene aus dem Hochadel lassen den überzeugten Republikaner Beethoven die Widmung seines Werkes an Napoleon leichter auslöschen, nachdem der sich zum Kaiser hat ausrufen lassen. In der „Dritten“ beschreitet der Komponist völlig neue Bahnen, indem er die thematische und motivische Arbeit in einen stark vergrößerten Klangraum stellt und so die Gesamtdimensionen der sinfonischen Form beträchtlich erweitert. Fortan regieren das musikalische Geschehen markante Melodien oder prägnante Signale, während schmückendes Beiwerk entweder zurückweicht oder dem jeweiligen Grundgedanken eines Werkes untergeordnet wird. Besonders radikal hat Beethoven dies im ersten Satz seiner Fünften Symphonie c-Moll Opus 67 (1808), von der Nachwelt „Schicksalssinfonie“ betitelt, durchgeführt. In der zeitgleich entstandenen Sechsten Symphonie F-Dur Opus 68, der sogenannten „Pastorale“, lässt sich Beethoven, bei mitunter ähnlicher Motivik, von der von ihm so geliebten Natur leiten, weswegen die strenge musikalische Faktur auch dieses Werkes beim Hören weniger auffällt.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts komponiert Beethoven neben Sinfonien und Sonaten auch reichlich für sämtliche Sparten des musikalischen Lebens, insbesondere Streichquartette und andere Kammermusik mit unterschiedlicher Besetzung, Lieder (unter anderem auf Psalmnachdichtungen des lutherischen Dichters Gellert, z.B. „Die Himmel rühmen“), Konzerte (besonders die für Klavier und Orchester) und Chorwerke. 1803 wird sein Oratorium „Christus am Ölberge“ Opus 85 uraufgeführt, eine Passionsmusik mit der Fokussierung auf die ins allgemein Menschliche gewendete Szene im Garten Gethsemane. Schwer tut Beethoven sich mit seiner Oper „Leonore“ (1805), die erst nach gründlichen Umarbeitungen und unter dem Namen „Fidelio“ Opus 72 (1806/14) das Thema der Befreiung aus dunklem Kerker zur existienziellen Grunderfahrung der Zeitepoche erhebt. Unter den Bühnenmusiken sind die Ouvertüren zu Goethes Schauspiel „Egmont“ und die zur Shakespeare-Adaption „Coriolan“ bis heute bekannt geblieben. Letztere führt die motivische Arbeit bis zur völligen Auflösung durch. Gleichfalls im Jahre 1807 erscheint die C-Dur-Messe Opus 86, eine Vorstufe zur großangelegten und jeden liturgischen Rahmen sprengenden Missa Solemnis (1819/23).

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Bemerkenswert sind Werke, die gattungsübergreifendes Potenzial in sich tragen: Die Chorfantasie c-Moll Opus 80 (1808) beginnt als Klavierkonzert und endet in einem Chorsatz, der motivisch-melodisch schon auf das Finale der Neunten Symphonie vorausweist. Das Violinkonzert D-Dur Opus 61 arbeitet Beethoven später zu einem Klavierkonzert um. Die frühe Klaviersonate E-Dur Opus 14 Nr. 1 (1799) ist vom Komponisten selbst transkribiert worden in ein Streichquartett F-Dur. Andersherum nehmen viele Sätze in den insgesamt 32 Klaviersonaten Klangstrukturen auf, die den Kirchenmusiker an vierstimmige Choräle erinnern mögen, bei Beethoven aber von der Beschäftigung mit Gattungsmerkmalen des Streichquartetts herrühren.

Ein durch mehrere Gattungen wanderndes Thema ist als Grundlage der sogenannten „Prometheus-Variationen“ Opus 35 berühmt: Es existiert als Klavierwerk, als besagte Ballettmusik und als Sinfoniesatz am Schluss der „Eroica“. Beethoven verändert die sich über einem Bass Stück um Stück heranbildende Musik von Mal zu Mal. So legt er in jedem Fall einen Schaffensprozess offen, gewissermaßen die Modellierungen des Schöpfers an seinen Geschöpfen, in gestalterischer Freiheit doch stets auf den Ursprung bezogen und zugleich die spielerische Freude betonend. Hier ist immer auch mit humorvollen Wendungen zu rechnen. Insgesamt nehmen Variationen übrigens einen Großteil in Beethovens Werk ein. Seine erste gedruckte Komposition ist eine Klaviervariationenfolge über einen populären Marsch (1783). Sein letztes großes Klavierwerk sind die „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli“ (1823).

Je mehr sich ein schon seit 1796 bemerkbares Gehörleiden verschärft, desto stärker wird bei Beethoven die geistige Durchdringung sämtlichen musikalischen Ausdrucks. Kann er wegen seiner Schwerhörigkeit immer seltener öffentlich auftreten und fühlt er sich gesellschaftlich mehr und mehr ins Abseits gedrängt (Heiligenstädter Testament; Brief an die „unsterbliche Geliebte“), so arbeitet er konsequent an seinem Ruf als erstklassiger Komponist. Den Durchbruch erlangt er damit allerdings nicht; erst im Jahre 1813 vermag er mit dem Auftragswerk einer lärmigen Schlachtensymphonie namens „Wellingtons Sieg“ seine Bekanntheit über die adligen musikinteressierten Kreise hinaus in eine allgemeine Popularität auszuweiten. Auch die Gelegenheitskantate „Der glorreiche Augenblick“ zum Wiener Kongress 1814 gereicht Beethoven zu einem steigenden internationalen Ruhm – angesichts der auf Einladung des österreichischen Kanzlers Metternich in der Donaumetropole sich versammelnden gekrönten und ungekrönten Staats- und Regierungschefs, die eine neue nachnapoleonische europäische Ordnung auszuhandeln sich anschicken.

Ein Jahr zuvor, 1813, ist die Siebte Symphonie A-Dur Opus 92 uraufgeführt worden, später von Richard Wagner (1813-1883) als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet. In ihren Ecksätzen blitzt und brodelt es, man könnte eher von einem Tanz auf dem Vulkan sprechen. Der Wille zur grenzenlosen Freiheit ist angestimmt, doch diese selbst scheint zu taumeln und zu straucheln. So hat Beethoven das Scheitern der revolutionären Freiheitsideale seiner eigenen Jugend eindrücklich auskomponiert. Der Allegretto-Satz der „Siebten“ ist als Trauermarsch in Variationen ebenso berühmt geworden wie der langsame Satz aus der „Eroica“ und der dritte Satz aus der Klaviersonate As-Dur Opus 26. Letzteren hat Beethoven, ebenfalls in der Kongresszeit 1814/15, anlässlich einer Schauspielmusik zum Gedenken an eine in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gefallene preußische Soldatin (!) für Streicher und Bläser instrumentiert.

Beethoven sucht zu den herrschenden Gesellschaftsschichten immer ein angemessenes Verhältnis einzunehmen. Seine Klavierstunden öffnen ihm die Türen. Viele seiner Schülerinnen und Schüler entstammen dem österreichischen Hochadel. Mit den musikalisch und insbesondere pianistisch versierten Erzherzögen Johann und Rudolph pflegt er fachlich-freundschaftlichen Umgang und hat dadurch direkten Zugang zu den habsburgischen Regenten in der Wiener Hofburg. In den Klaviersonaten d-Moll Opus 31 Nr. 2 („Sturm“, 1802) und Es-Dur Opus 81a („Les Adieux“, 1810) klingt von diesen persönlichen Beziehungen etwas nach. Vor diesem Hintergrund ist das Ereignis beim Spaziergang Beethovens mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) im Jahre 1812 im böhmischen Kurbad Teplitz weniger dramatisch zu sehen als gemeinhin vermutet. Als die beiden auf Mitglieder der kaiserlichen Familie treffen, bleibt Goethe auf der Stelle stehen, lüftet seinen Hut und verneigt sich tief; Beethoven hingegen stapft weiter und mitten durch die Szenerie hindurch: Er kennt die hohen Herrschaften ja, und die wiederum kennen ihren Beethoven.

Im Metternichschen Zeitalter, als die Meinungs- und Pressefreiheit wieder massiv eingeschränkt ist, gilt Beethoven als ein Unikum, aber durchaus von ideellem Wert; mit einem solchen weiß sich die feine Gesellschaft gern zu schmücken. Hier liegt der Unterschied zu dem fast eine Generation jüngeren Franz Schubert (1797-1828), der in den nach ihm benannten Lese- und Musizierabenden im Freundeskreis („Schubertiaden“) stets mit Denunziation und Verhaftung rechnen muss. Beethoven hingegen gilt der Polizei als bedauernswerter harmloser Einzelfall mit mächtiger Protektion. Er selber ist von seiner politisch unkorrekten künstlerischen Einzigartigkeit überzeugt: „Beethoven gibt’s nur einen“ und sieht sich allenfalls auf einer Stufe mit Händel, Bach, Gluck, Haydn und Mozart. Von seinen komponierenden und nach wie vor lebenden Zeitgenossen achtet er allein Luigi Cherubini (1760-1842).

In diesem Sinne führt er sein kompositorisches Werk immer konsequenter weiter. 1819, im Jahr der Karlsbader Beschlüsse, beendet Beethoven seine „Große Sonate für das Hammerklavier“ B-Dur Opus 106. Im viersätzigen Ablauf bleibt sie der Tradition ganz treu, doch ihre Dimensionen sprengen jeden bisher gewohnten Rahmen, bis hinein in Abschnitte ohne Taktstriche und in eine ausgedehnte dreistimmige Schlussfuge „mit einigen Freiheiten“, wie die Bemerkung des Autors an deren Beginn tiefstapelnd lautet.

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In dieser Zeit ist es um Beethovens familiäre Verhältnisse schlimm bestellt. Sein 1815 verstorbener Bruder Carl Caspar hat einen Sohn hinterlassen, Karl, um den immer wieder ein alle beteiligten Parteien zermürbender Sorgerechtsstreit zwischen der als leichtlebig verschrieenen Mutter und dem Onkel entbrennt. In den Zeiten, da der Neffe mit Ludwig van Beethoven Umgang hat, versucht der wider Willen – nämlich aus unüberwindlichen Standesunterschieden zu den adeligen Geliebten – unverheiratet Gebliebene, seine an den pädagogischen Konzepten der Aufklärungsepoche geschulten Erziehungsgrundsätze strikt anzuwenden. Aber diese Art von Bildung des jungen Mannes gemäß dessen vermuteten Gaben und Fähigkeiten scheitert gründlich. Nach einem Selbstmordversuch des Zwanzigjährigen 1826 willigt ein als neuer Vormund eingesetzter Freund Beethovens schließlich in Karls Berufswunsch ein: Der Neffe schlägt die Offizierslaufbahn ein. Später erst wird er den Onkel ehren, indem er einem seiner Söhne den Namen „Ludwig“ gibt.

Mit den letzten drei Sonaten (1821/22), den Bagatellen Opus 119 und Opus 126 (1824) sowie den Diabelli-Variationen Opus 120 (1819/23) schließt Beethoven sein Schaffen für das Klavier ab, oft mit freien Assoziationen auf die Musikgeschichte. So erinnert der Tonfall im Variationssatz der E-Dur-Sonate Opus 109 an Georg Friedrich Händel (1685-1759), Beethovens Lieblingskomponist der Vergangenheit. Die As-Dur-Sonate Opus 110 gemahnt im ersten Satz an Mozart, im weiteren Verlauf mit Choral, Rezitativ, Arien und Fugen namentlich an die Johannespassion von J.S. Bach („Es ist vollbracht“). Hat der junge Beethoven bei einer Reise 1796, unter anderem nach Berlin und Leipzig, in der Thomasschule Bachsche Handschriften einsehen können? Die c-Moll-Sonate Opus 111 beginnt wie aus dem Nichts mit einem gezackten Thema und fährt zunächst fort im Nachklang einer barocken Ouvertüre, ehe ein leidenschaftliches, teils fugiertes Laufwerk einsetzt. Die anschließende „Arietta“ in C-Dur ist in der durch sie hervorgerufenen Literatur zu einem Abschiedsgesang verklärt worden. Thomas Mann (1875-1955) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) sehen in ihm das gesamte bürgerliche Zeitalter prophetisch-dialektisch durchschaut und überwunden.

Beethoven vollendet 1823/24 seine beiden Großprojekte, die Missa Solemnis D-Dur Opus 123 und die Neunte Symphonie d-Moll Opus 125. 1824 werden sie in St. Petersburg bzw. in Wien uraufgeführt. Außerdem entsteht in den letzten Lebensjahren eine Reihe von rätselhaften Streichquartetten, deren zerklüftete Sätze und polyphone Passagen an Adornos Wort von einer „Philosophie der Musik“ schlechthin denken lassen. Der Partitur der riesenhaft geratenen Messe stellt Beethoven indes ein völlig undogmatisches Motto voran: „Von Herzen – Möge es wieder zu – Herzen gehen“. – Im Finale der letzten vollendeten Sinfonie klingt eine Mischung aus Hoffnung und Wehmut auf: Indem Beethoven Teile aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ vertont und so ein Gedicht aus der vorrevolutionären Welt (1785) ins Bewusstsein rückt, gibt er seiner eigenen restaurativen Zeit eine persönlich entfaltete Freiheitsliebe mit auf den Weg. Ein zeitgenössischer Kritiker, der die Vermengung von absoluter Instrumentalmusik und Chorgesang für missglückt hält, aber doch den Mut zu dieser Grenzüberschreitung bewundert, schreibt nach einer Aufführung der „Neunten“ über Beethoven und sein Werk: „Auch in der Verirrung – groß!“

Insgesamt lässt sich versuchsweise sagen: Beethovens Gesamtwerk ist Ausdruck eines einzigartigen Personalstils. Der hat sich im Laufe eines ungewöhnlichen Lebens herangebildet aufgrund von früher Förderung durch Freunde und Bekannte, aber verfestigt in den allgemeinen unsicheren kriegerischen Zeitumständen und durch einen starken Charakter im Kampf gegen biographische Schicksalsschläge. Die Musik in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist bei Beethoven einem schöpferischen Einzelwillen unterworfen. Das objektiv gegebene musikalische Material bearbeitet er höchst traditionell und zugleich entschieden subjektiv. Eigentümlich für diesen Vorgang sind dynamische, rhythmische, harmonische, metrische und formale Neuerungen, die es in solchem methodischen Ausmaß vor Beethoven nicht gegeben hat und die man getrost als „revolutionär“ bezeichnen kann.

Nicht durch seine von vielen gesellschaftlichen Abhängigkeiten geprägte soziale Stellung im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts, sondern durch die absolute Beherrschung und alles Abgelebte geistesgegenwärtig überwindende, dabei phantasiegeleitete Fortentwicklung seiner Kunst wird Beethoven zum ersten freien Künstler der europäischen Musikgeschichte. Daran haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte viele weitere Vorstellungen und auch Wunschbilder geheftet. Die vermutete pausenlose energische Selbstbestimmtheit im Dienste allein „der Sache“ hat noch in der rebellischen westdeutschen Jugend der sechziger, siebziger und achtziger Jahre bleibenden Eindruck hinterlassen. Bücher, Filme und Plakate zeugen von der Beliebtheit des Protagonisten. Diese hängt wohl damit zusammen, dass Beethoven auf seinem ureigenen Boden von klassisch-romantischer Klangrede in seinem Schaffen durch innere Autorität eine allumfassende Welthaltigkeit ausdrückt, die alle Menschen, die sich darauf einlassen, vor verstiegenem Einzelgängertum oder gar exzessivem Ego-Trip schützt, zugleich aber ihnen in dem, was ihr Humanum wesentlich ausmacht, ein starkes Bewusstsein persönlicher Freiheit sichert.

Abbildungen: a) Beethoven gemeinfrei b) Wie man mit dem Hammer philosophiert – Taktlosigkeiten im Finale von Opus 106.

Yes, we can’t

„Wir schaffen das“ war vor bald vier Jahren das Startsignal für alles, was man seitdem, milde ausgedrückt, „Flüchtlingskrise“ nennt. Dieses Bonmot (oder: Malmot?) aus dem Munde unserer Bundeskanzlerin scheint im Rückblick die deutsche Antwort auf die US-amerikanische Ermunterung des Präsidentschaftskandidaten anno 2008 zu sein. Über zehn Jahre ist es her, dass der Senator aus Chicago, Barack Obama, unter dem orgiastischen Jubel einer unübersehbar großen Menschenmasse auf der Straße des 17. Juni in Berlin wie ein Messias empfangen und für seinen Ausruf „Yes, we can“ besinnungslos beklatscht wurde.

An der Siegessäule meinte damals ein idolbesoffenes selbsternanntes Weltbürgertum, über die künftigen transatlantischen Zeitläufte alternativlos gut entschieden zu haben. Es begann mit einer prophylaktischen Friedensnobelpreisverleihung an den tatsächlich gewählten und 2012 im Amt bestätigten ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika – und endete nach acht Jahren im weltpolitischen Chaos von Drohnenkriegen, in verschärften Fronten im Nahen Osten und mit Misstrauensbekundungen nicht nur aus Russland, sondern auch aus dem Kreis von abgehörten europäischen Verbündeten. Ende 2016/Anfang 2017 war der Mehrheit der amerikanischen Elektoren dann nicht etwa nach der ersten Frau im Präsidentenamt zumute, sondern nach einem alten weißen Cis-Mann, der sich bis jetzt darin treu geblieben ist, nicht als diplomatischer Politiker, sondern als selbständiger Unternehmer und dealmaker zu agieren. Einen neuen Krieg hat er bisher nicht begonnen.

Die dennoch in den bundesdeutschen Medien grassierende Verteufelung des derzeitigen US-Präsidenten hängt natürlich damit zusammen, dass mit ihm gesellschaftspolitisch nach den Begriffen der political correctness kein Staat zu machen ist. Wer legt sich schon ins Zeug für jemanden, der den „menschengemachten Klimawandel leugnet“? So jemand kann nicht als Vorbild dienen, wenn es um kultartige Bedürfnisse geht. Von denen haben wir, die Deutschen, immer sehr viel. Ich erinnere mich an die Begeisterungsstürme, als Papst Woityla in Münster (Westfalen) erschien. Der Besuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs mitsamt seiner attraktiven Ehefrau Raissa in den späten Achtzigern verursachte laut „Spiegel“ damals gar einen kollektiven „Gorbasmus“. Etwas gesitteter mag es gut zwanzig Jahre zuvor beim Volksauflauf am Schiffgraben in Hannover zugegangen sein, als Queen Elizabeth II. ihren ehemaligen Untertanen einen Besuch abstattete. Aber zwei Jahre noch von da zurück, 1963, vor dem Schöneberger Rathaus, war kein Halten mehr, als US-Präsident Kennedy auf deutsch sein Pfannkuchenbekenntnis ablegte und ausrief: „Ich bin ein Berliner“.

Wir Deutschen mögen den Personenkult. Da setzt bei uns der Verstand aus. Dem Führer hat man einst gehuldigt wie sonstwas. Wie gut hatte der abgeguckt im faschistischen Italien und beim Stalinismus; und wie tief zog sich die Blutspur auch anderswo, im Maoismus und Titoismus sowie in den verderbenbringenden Verehrungszwängen von Albanien, Kambodscha, Vietnam, Nordkorea, Kuba, Rumänien oder Venezuela. Eigenartigerweise gibt es nach 1945 keine deutsche Persönlichkeit, die von ihrem Volk verheiligt worden wäre. Ulbricht wurde eher als Posse wahrgenommen, trotz aller Gefahren an Leib und Leben, die solch gesundes kritisches Urteil standhafter DDR-Bürger mit sich brachte. Die diktatorische Böswilligkeit des vorgeblich ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden muss allerdings wohl erst noch aufgearbeitet werden. Dass die sozialistische Staatssicherheit ein noch engmaschigeres Netz gesponnen hatte als die nationalsozialistische Geheime Staatspolizei, sollte nicht in Vergessenheit geraten.

Der gemeine deutsche Personenhype fokussiert sich heutzutage also eher auf ausländische Stars: Das ist insofern günstig, als den so Verehrten keinerlei wirkliche Verantwortung zuerkannt werden muss. Kennedy, Lizzy, Urbi et Orbi, Gorbi, Obi: Sie sorgen oder sorgten für ihre eigenen Länder oder Schützlinge, nicht primär für die Bundesrepublik. Die SPD-Kampagne „Willy wählen“ von 1972 war wahrscheinlich die einzige Ausnahme, welche die nachkriegsgeschichtliche Regel nur bestätigte: Denn nach anderthalb Jahren wars dann endgültig vorbei mit jenem Bundeskanzler, der immer so strahlend und sonnengebräunt und geschichtsweise aufzutreten hatte … Die „Willy!Willy!“-Rufe seiner Anhänger, die sich nicht zu schade waren, auch ihre Kinder mit Fähnchen auszustatten und diese auf Wahlkampfveranstaltungen begeistert schwenken zu lassen, sprechen da eine bezeichnende Sprache …

Aber nun hat die deutsche Jugend ja ein neues ausländisches Vorbild namens Greta. Die sechzehnjährige Schülerin aus Schweden ruft recht regelmäßig und erfolgreich im Sinne ihres Slogans „Fridays For Future“ zu Demonstrationen für die Klimarettung auf. Damit es den Erwachsenen auch richtig wehtut, finden die straßenfüllenden Proteste immer freitagmorgens zur besten Schulzeit statt. Auch die Bundeskanzlerin hat mittlerweile die notorische Schwänzerei gutgeheißen, so dass der Rechtsstaat alleingelassen dasteht auf weiter Flur. Andererseits: Warum soll man denn auch bitteschön sich noch Wissen aneignen unter kundiger Anleitung von Lehrpersonen, wenn doch sowieso morgen die Welt untergeht?

Befeuert werden die Großkinder saturierter Altachtundsechzigerrevolutionäre von den Möchtegerndemagogen der dazwischenliegenden Elterngeneration. Und es stimmt ja auch: Die „89er“ sind so etwas wie betrogene Betrüger; denn als sie im besten Revoluzzeralter wie ihre Vorbilder zwei Jahrzehnte zuvor mit Anfang zwanzig aufbegehren wollten, machte ihnen der Berliner Mauerfall einen Strich durch die Rechnung idealistischer Flausen vom Gleichklang in Marx- und Engelszungen. Flüggegewordener Nachwuchs solch bedauernswerter Sandwichkinder soll ergo jetzt richten, wo der böse alte Cis-Mann in barocker Inkarnation etwa eines patriarchalen Bundeskanzlers Kohl die seinerzeitigen frischen Kräfte an deren guten Werken hinderte.

Deutsche Bischöfe beiderlei Geschlechts und Konfession entblöden sich in diesen unorientierten Zeiten nicht, die Klimaaktivistin aus Stockholm in einen prophetischen, wenn nicht gar gleich jesusmäßigen Rang zu erheben. Predigten auch von normalen Pfarrern vor Ort verklären das so herzzerreißend traurig dreinblickende Mädchen zur göttlichen Botin. „Wie hast du’s mit dem Klimaschutz?“ wird zur unüberbietbaren Gretchenfrage 2.0 hochgejazzt. Dass der Glaube an Gott eigentlich weitaus mehr meint als gesellschaftspolitische Rechthaberei, soll bloß niemand mehr ernsthaft denken müssen. Nein, alles ist klar, entschieden, eindeutig, alternativlos. Wehe dem, der heutzutage mit neuen Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern um die Ecke käme – die könnten ja (und wir bemühen ein weiteres Mal Goethes Faust) „leider auch Theologie“ enthalten …

Zur heutigen Wahrheit würde indes ziemlich sicher gehören, dass wir „das“, was uns einerseits in barrierefreie Toleranz oder andererseits in massenhafte Panik geraten lassen soll, durchaus nicht schaffen. Weder die Einwanderung von Angehörigen zutiefst archaisch geprägter Kulturen noch die Bewältigung der tatsächlich wirkenden, aber eben weniger menschenabhängigen als vielmehr, wie seit Jahrmillionen üblich, solar verursachten weltweiten Klimaveränderung lassen sich mal eben so wuppen. Idole hin oder her. Die wahre Sonne scheint sowieso vor Ort und lässt die Traditionen strahlen:

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Lob einer je eigenen Heimat mitsamt deren auch neugotischen Zeugnissen in eigentlich doch wunderschönen Bauwerken, bereit zur Überwindung von Schleusen – und fest auf dem Boden des bundesdeutschen Grundgesetzes, das nun siebzig Jahre alt wird, in bester schwarz-rot-goldener Verankerung: Was gibt es besseren Schutz vor Personenkult jeglicher Couleur? Wir schaffen nicht alles, aber darüber müssen wir die Freiheit nicht verlieren. Wer so weit denkt wie das Meer unendlich ist, fühlt und weiß sein Herz am richtigen Ort. Und damit zurück nicht in die bloß großdimensionierte, aber in Wirklichkeit inhaltsleere „Vielfalt“ von allem und jedem, sondern ganz sinnlich und genau, durchaus republikanisch-demokratisch-amerikanisch-deutsch-bürgerlich bestimmt zum Beispiel nach –  Bremerhaven.

Foto: Bremerhaven, Schleuse mit Schiff, das ins offene Meer steuert, dahinter Großer Leuchtturm, auch Loschenturm genannt, erbaut 1853 bis 1855 nach Plänen des Bremer Architekten Simon Loschen (1818-1902).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herders Weihnachtslied

Dass Weihnachten erst angefangen hat, ist den meisten eiligen Menschen nicht bewusst. Was sich aus der Heiligen Nacht heraus entfaltet und am Epiphaniasfest vulgo Dreikönigstag zu höchster Blüte gelangt, macht eines der unzähligen Lieder deutlich, welches hier und heute kurz betrachtet werden soll, zur im Sommer dieses Jahres anstehenden Feier des zweihundertfünfundsiebzigsten Wiegenfestes seines ersten Textdichters. Ich orientiere mich im folgenden am Evangelischen Gesangbuch (EG) von 1993 und an Herders Urfassung.

Nebenbei kommen nach- und durcheinander Baltikum und Bückeburg, Genf und Geistverwirrung, Königsberg und Kant, Ostpreußen und Oldenburg, Weimar und Weisheit, Zürich und Zarenreich sowie andere ähnlich anlautende, aber dann doch so grundverschiedene Phänomene in den gelehrten wie durchaus frommen Blick. Und vielleicht regt dieser kleine Beitrag ja auch dazu an, sich näher mit Herder zu befassen, dem Schöpfer so wirkmächtiger Begriffe wie „Volkslied“ oder „Zeitgeist“ …

EG 74 (Melodie: EG 442)

1 Du Morgenstern, du Licht vom Licht, / das durch die Finsternisse bricht, / du gingst vor aller Zeiten Lauf / in unerschaffner Klarheit auf.

2 Du Lebensquell, wir danken dir, / auf dich, Lebend´ger, hoffen wir; / denn du durchdrangst des Todes Nacht, / hast Sieg und Leben uns gebracht.

3 Du ewge Wahrheit, Gottes Bild, / der du den Vater uns enthüllt, / du kamst herab ins Erdental / mit deiner Gotterkenntnis Strahl.

4 Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht, / führ uns durch Finsternis zum Licht, / bleib auch am Abend dieser Welt / als Hilf und Hort uns zugesellt.

Neugier und Forscherdrang bringen Menschen, die bisher von Gott nichts Genaues wussten, zum Heiland der Welt, weitab vom Zentrum politisch-wirtschaftlicher Macht. Der Himmel auf Erden will erst entdeckt werden, aufgespürt, erwandert: Das Licht des Lebens erstrahlt im Verborgenen – weder im kaiserlichen Rom noch im Palast des Herodes, sondern schriftgemäß im judäischen Gebirge, an der Futterrinne, da Ochs und Esel sich Gute Nacht sagen. Man lese hierzu wieder einmal in Luthers unübertroffener Übersetzung Lukas 2 und Matthäus 2. Dann ist man christfestlich neuerlich althergebracht im Bilde.

Dem Weihnachtswunder eignet Ruhe, übernatürlicher Glanz, Licht durch die Finsternisse. Hintergründig klar scheint der Morgenstern, unbemerkt vom Getümmel des lauten Alltags: und doch beständig seit jeher, vor aller Zeiten Lauf. Neugier und Forscherdrang: eines bedingt das andere, und wenn beides auf gutem Wege ist, dann steckt viel Glauben darin. Die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland ist ein schönes Beispiel auch dafür, wie akademische Wissenschaft mit menschlich-unbedingtem Wissen-Wollen eine fruchtbare Verbindung eingeht und der Gotterkenntnis Strahl sich ungehindert Bahn brechen kann.

Herders Weihnachtslied

Wer glaubt, wer auf Gott vertraut, geht wach durch die Welt und wird erleuchtet vom Zeichen des Himmels selbst. Der Stern von Bethlehem verkündet: Gottes Bild ist erschienen; das Krippenkind enthüllt uns den Vater, herab ins Erdental. An Weihnachten wird uns das Geheimnis Gottes offenbar: Epiphanias bringt es auf den Erkenntnispunkt: Gott ist Mensch geworden.

Der Text unseres Liedes fußt auf einer Vorlage des Theologen Johann Gottfried Herder. Der erblickte das Licht dieser Welt vor nunmehr bald 275 Jahren, im August 1744, und schaut die ganze Klarheit des Herrn seit Dezember 1803. Er lebte hier auf Erden zu einer Zeit, da man sehr zuversichtlich war, menschliche Wissenschaft und göttliche Erkenntnis zusammenbringen zu können. Im Lichte der europäischen Aufklärung versuchte man im protestantischen Deutschland auch die Botschaft der Bibel neu zu verstehen – für einen umfassend gebildeten Pfarrer wie Herder bedeutete dies vor allem, die überlieferten Texte aus ihren eigenen Entstehungsbedingungen heraus zu deuten.

Wie so vielen Gelehrten der damaligen Zeit, so dämmert auch dem gebürtigen Ostpreußen und zwischenzeitlichen Hauslehrer und Prediger in Riga, dass wir es bei antiken, biblischen und anderen „alten“ Texten zunächst mit ganz fremden, fernen Welten zu tun haben. Sprache, Ausdruck, Denken und Brauchtum der alten Völker gilt es zu erforschen und mit gegenwärtigen Erfahrungen zu verbinden. Die Aufklärung wird in solch historischer Neugier romantisch: Auf einer stürmischen Schiffsreise durch den Ärmelkanal erinnert sich Herder unter anderem an seine Lektüre von Shakespeare-Dramen. Die rauhe aufgewühlte See wird ihm zum Sinnbild für die menschlich-allzumenschlichen Abgründe, in die hinein sich Helden wie die des englischen Dichters verstricken: zeitlos gültig, wiewohl in zeitbedingten literarischen Formen dargestellt.

Ganz am Rande hat Herder, ohne es zu ahnen, die entscheidenden Weichen für den Fortgang oldenburgischer Geschichte gestellt. Kurze Zeit nämlich war er als Lehrer im gefürsteten Bistum Lübeck angestellt. Er sollte des Herrschers schwer erziehbaren Sohn wieder in die Spur bringen. Aber der Prinz steigerte sich nur immer mehr in ausschweifenden religiösen Wahn hinein und bestand rumpelstilzchenhaft darauf, römisch-katholisch zu werden – am Hofe des reichsweit einzigen lutherischen Fürstbischofs ein Ding der Unmöglichkeit. Da wusste auch Herder irgendwann, mitten auf der Kavalierstour, die man dem Querkopf organisiert hatte, nicht weiter: Er verließ entnervt die Eutiner Reisegesellschaft und sah sich nach einer neuen Arbeitsstelle um.

Der Prinz indes wurde daraufhin entmündigt; die Erbfolge ging über auf seinen Cousin, Prinz Peter Friedrich Ludwig. Nachdem das Haus Gottorp durch einen Vertrag mit Dänemark und Russland die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst erhalten hatte, verlegte Peter Friedrich Ludwig – als sein Onkel gestorben war – die Residenz schrittweise von Eutin nach Oldenburg und regierte (bis zum Ableben des Vetters offiziell „nur“ administrativ) als Herzog über Stadt und Land. Er ist ein herausragendes Beispiel für das seit der Antike gepflegte Bild vom guten Fürsten – im Gegensatz zum Tyrannen, wie ihn im Evangelium der König Herodes verkörpert. Kein oldenburgischer Herrscher der letzten zweihundertfünfzig Jahre ist denn auch der Nachwelt so dankbar in Erinnerung geblieben wie „PFL“.

Aber zurück zum Wegbereiter dieser für den oldenburgischen Staat so glücklichen Entwicklung, zu Johann Gottfried Herder: Beginnend mit seiner Tätigkeit als Oberpfarrer in Bückeburg, seit 1771, beschäftigt er sich ausführlich mit den biblischen Ursprachen, veröffentlicht gut zehn Jahre später eine Abhandlung über die „Ebräische Poesie“. Allein aus der dichterisch klingenden „Urweissagung“ des Volkes Israel, meint er, ist die Botschaft von Gott angemessen in die Welt gekommen. – Nach 1776, als Generalsuperintendent und Konsistorialrat in Weimar, zugleich Nachbar von Goethe und Schiller, hat Herder seine Gedanken weiter ausgebaut. Seine Sammlung von Sagen, Legenden und Volksliedern wird immer größer. In dieser Zeit erhält in seinem Umfeld die Melodie von „O du fröhliche“ ihre endgültige Form; und damals, wohl um das Jahr 1795, dichtet Herder ein Lied, das in Klammern die schlichte große Überschrift trägt: „Christus“.

Du aller Sterne Schöpfer, Licht, / das aus des Himmels Tiefen bricht, / und gehst der Ewigkeiten Lauf / in ewig neuer Klarheit auf – so wird unser Herr und Heiland in Herders Urfassung unseres Liedes angeredet. Aus des Himmels Tiefen kommt des Glanzes stille Macht, sozusagen das Friedenslicht von Bethlehem, als fortwährendes Zeichen der Liebe Gottes. Das Krippenkind besucht uns in unserm Tal mit seiner Gott-Erkenntnis Strahl: Aus den weiten Tiefen des bestirnten Himmels sucht es die je und je persönlichen Finsternisse, Traurigkeiten, Ängste auf und verwandelt sie in neue Hoffnung. Der Gekreuzigte und Auferstandene bleibt bei uns, als Mitwanderer im Tal eigenen Wandelns durch die Zeitläufte.

Das Bild vom finsteren Tal, wie es besonders prominent im 23. Psalm aufscheint, mündet in Herders Urfassung des Liedes ein in die Schau des ruhenden Berges in Wolken: Auf seine Höhe sollen wir gelangen, auf ihm harret ewig Gut. Der biblische „Olymp“, der Gottesberg, von wo aus Weisung an das auserwählte Volk ergeht: der Berg Sinai, wo Mose die Zehn Gebote empfängt, kommt ebenso in den Sinn wie der prophetische Berg Zion, auf dem sich alle Völker in der Endzeit versammeln werden; wir erinnern die Weisheitssprüche Jesu, die nicht ohne Hintergedanken in der sogenannten „Bergpredigt“ zusammengestellt sind; ebenso den Berg, auf dem Jesus den vertrautesten Jüngern in überirdischem Glanz verklärt erscheint.

Der Gesetzesberg erweist sich als der Höhenzug des Evangeliums. Das Wort von Herders philosophischem Landsmann Immanuel Kant vom „bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir“ mag anklingen. Der des Todes Nacht durchdrungen hat, der als der Auferstandene Erkannte ist Hilf und Hort; zu ihm darf gerufen werden in begründeter Hoffnung und mit Anklang an die Emmausjünger: Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht.

Im Gesangbuch ist das Lied der Melodie „Steht auf, ihr lieben Kinderlein“ des Lutherschülers Nikolaus Herman zugeordnet. Herder und die thüringischen Gemeinden aber haben eher die Melodie zum 134. Psalm aus Genf im Sinn gehabt. So kommt helvetische Weltläufigkeit in das Lied. Der Genfer Psalter, dichterisch-musikalisches Wunderwerk aus der reformierten französischsprachigen Schweiz, hat durch die Nachdichtungen des Ambrosius Lobwasser, eines lutherischen Juristen aus Königsberg, seit Ende des 16. Jahrhunderts auch den deutschsprachigen Raum für sich gewonnen, über die damals sehr strengen Konfessionsgrenzen zwischen Reformierten und Lutheranern hinweg. Sogar die zunächst so musikabweisende reformierte Zürcher Kirche führte im Jahre 1598 die Genfer Psalmlieder in der Lobwasserfassung ein, nachdem man dort mehr als siebzig Jahre lang überhaupt nicht mehr im Gottesdienst gesungen hatte.

Beim Singen aller sechs vollendeten Strophen der Herderschen Urfassung mit der Melodie auf eine Nachdichtung aus dem Geiste der „Ebräischen Poesie“ sind Osten und Westen, Norden und Süden sehr eigentümlich beisammen. Die Weisen aus dem Morgenland haben in ihrer Neugier und ihrem Forscherdrang jenes Licht im Blick gehabt, dessen Zeiten Lauf die Geschichte unseres christlichen Abendlandes gewirkt hat. Und was an Nord- und Ostsee an Gedankenweite sich mit genauem Takt und Klang der französischen und schweizerischen Denkungsart verbindet, hat – wenigstens im Raum evangelischer Kirche und Kultur – dem Leben vor Ort immer zum Besten gedient.

Denn jene Spielart der Aufklärung, die ganz bewusst bei ihren christlichen Wurzeln geblieben ist, entwickelt immer wieder neuen Sinn für den Nächsten: nimmt ihn an in seinen Besonderheiten und in seinem Anderssein – interessiert sich für seine Herkunft, Prägung und Lebensgeschichte – übt wache, nicht etwa gleichgültige Toleranz – und weiß dabei über die eigene kulturelle und konfessionelle Bindung Bescheid.

Aus dem Licht vom Licht starken Bekenntnisses, im Angesicht des Krippenkindes, kann die Fähigkeit erwachsen, Gemeinschaft über alle Fremdheit zu pflegen, miteinander zu lachen und zu weinen, gemeinsam zu feiern und zu trauern. Der Glanz von Weihnachten kommt vom Friedenslicht aus Bethlehem, vom Stern aus dem Stall. Der bestirnte Himmel außen und innen gibt uns seine Weisung ins Herz.

Da wächst die Bereitschaft, sich leiten zu lassen von dem einen Ziel, dem Berg oder Stern Jesus Christus. Dabei wird niemandem der Griff nach den Sternen abverlangt – vielmehr das Vertrauen in den, der die Menschen, ja die Menschheit in Geschichte und Gegenwart kennt und annimmt. Der wahre helle Morgenstern begrüßt, umfängt und begleitet uns, ehe wir’s gedacht! Dieser Glaube lässt hellwach bleiben und bestirnt wandern in die Zeit.

Herders Urfassung (Melodie: EG 300)

(Christus)

1 Du aller Sterne Schöpfer, Licht, / das aus des Himmels Tiefe bricht, / und gehst der Ewigkeiten Lauf / in ewig neuer Klarheit auf.

2 Dir danken wir, dir beten wir, / und opfern hohe Hoffnung dir; / denn du durchbrachst der Erde Nacht / mit deines Glanzes stiller Macht.

3 Besuchtest uns in unserm Tal / mit deiner Gott-Erkenntnis Strahl, / aus welchem ewig Leben fleußt, / und sich in stille Seelen geußt.

4 Und wird in ihnen Gottes Bild / mit Weisheit, Lieb und Kraft erfüllt / und leitet sie durchs Todestal / zu jeder Sonne neuem Strahl.

5 Bleib bei uns Herr, verlaß uns nicht, / führ´ aus der Dämmrung uns zum Licht, / der du am Abende der Welt / dich treulich bei uns eingestellt.

6 Sei uns Mitwanderer im Tal / der Hoffnung zu des Berges Strahl, / der dort in Wolken vor uns ruht, / und auf ihm harret ewig Gut.

[7 Was keine Augen je gesehn, / harrt unser …]

 

Foto: Licht aus der Krippe.

Literaturhinweis: Liedkommentar von Eberhard Schmidt, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Heft 3, Göttingen 2001, Seiten 36 bis 39; darin Herders ursprünglicher Text in modernisierter Rechtschreibung Seite 37 (Reihe: Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3, Ausgabe in Einzelheften, Göttingen 2000 ff).

 

 

Osterspatz, hier lang!

(erschreckend frei nach JWG)

Zur Meise bereit sind Mensch und Mächte,

Durch der Freizeit holden bewegenden Tick,

In Schale speist jetzt Pick mit Nick;

Der neue Zeitgeist, mit welchem Rechte? –

Zog sich aus alter Freiheit zurück.

Nach dorthin meidet er, fliehend pur,

Kraftvollen Schauer denkenden Fleißes,

Im Live-Stream über die lustige Tour;

Aber die Sonne scheint bloß auf Weißes,

Nirgendwo regt sich Bildung und Streben,

Kein Mensch will sich mit Farbe beleben;

Und an Richtung fehlts im Revier,

man nehme genormte Menschen dafür.

Kehre doch um, auf wahren Höhen

Nach der Macht zurück zu sehen,

Aus dem hohlen finstern Tor

Dringt ein schrecklicher Wortschwall hervor.

Jeder sonnt sich töricht so gern.

Sie feiern nicht Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind gar nicht auferstanden,

Bleiben in Häusern, dumpfen Gemächern,

In digitalen Gewerbebanden,

In dem Druck von Netzen, Funklöchern,

In Stuben quetschender Enge,

Durch die Kulte unwürdiger Nacht

Sind sie alle verblendet gemacht.

Sieh nur, sieh!, wie unsanft sich die Menge

Navi- und niveaulos so durchschlägt,

Wie ein Fuß, in Breit und Länge

So manch blühende Blume zertritt,

Und, bis zum Abwinken überfordert,

Entfernt sich dieser letzte Wahn.

Selbst, wer den Eierlikör ordert,

Glotzt uns mit stumpfen Blicken an.

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Ich höre schon des Mobs Getümmel,

Hier ist des Volkes wahrer Himmel,

Zufrieden grunzet Groß und Klein:

Da bin ich, Mann: Is dat nich fein?

Haste etwa was dagegen?

Gleich vernicht ich dich mit Schlägen.

Foto: Tradition zum alten Eisen.

Merkel, Malu, Mali

Wir leben in seltsamen Zeiten. Noch nie war in Deutschland das beamtete Christentum so stark in den oberen Rängen vertreten. Unser Bundespräsident war früher einmal Pfarrer, unsere Bundeskanzlerin ist Pfarrerstochter. Und dennoch ist der christliche Glaube in unserem Gemeinwesen auf dem Rückzug. Von einer Theokratie kann also niemand sprechen. Alle Kirchenkritiker sollten wissen, dass eben trotz Herrn Gauck und Frau Dr. Merkel unser demokratischer Staat weiterhin reibungslos funktioniert. Allenfalls irritieren müsste, dass das christliche Bekenntnis denn doch so wenig in den Köpfen und Herzen der bundesdeutschen Bevölkerung präsent ist. Wie anders ist es zu erklären, dass viele Bürger ehrenamtlich in der Flüchtlingskrise helfen, ohne aber kirchlich affin zu sein? Und was ist von Leuten zu halten, die sich über „Religion“ echauffieren und dennoch ihren Beitrag leisten, um den Migranten zu helfen?

Vielleicht wirkt hier eine Form der Aufklärung nach, die sich dem, wagnerisch gesprochen, „Reinmenschlichen“ verschrieben hat. Ja, richtig gelesen, „wagnerisch“. Ich meine tatsächlich Richard Wagner, von dem ja mittlerweile die Saga umgeht, er sei ein Nazi gewesen. Aber wer im Jahre 1883 das Zeitliche segnete, wird kaum für deutsche Untaten des zwanzigsten Jahrhunderts haftbar gemacht werden können. Und wir müssen uns eben den Wagner denken, der 1849, nach dem Aufruhr in Dresden, steckbrieflich gesucht wurde als ein Anhänger der 48er-Revolution. Dass er ein besonders frommer evangelischer Christ gewesen sei, ist eine andere Frage. Aber er entstammte eben diesem geistigen Milieu, als Thomasschüler in Leipzig, als Komponist des für die Dresdner Frauenkirche bestimmten „Liebesmahls der Apostel“, als Schöpfer des nicht vertonten eigenen Versepos „Jesus von Nazareth“, als „Lohengrin“, „Meistersinger“ und „Parsifal“. Sein „Holländer“ ist ohne Mendelssohns „Elias“ nicht zu denken, einmal abgesehen vom lutherischen Impetus im „Rienzi“ und im „Tannhäuser“ –  oder von der Bachschen Polyphonie im Nürnberger Drama, im „Tristan“ und im gesamten „Ring“. Wenn jemand Aufklärung popularisiert hat in Deutschland, dann waren es Wagner und seine Mitstreiter. Das kirchliche Christentum wurde bei ihnen geweitet in eine Weltanschauung, die sowohl dem wissenschaftlich Zweifelnden als auch dem künstlerisch Begeisterten Heimat verschaffte. Manchmal wird das als „Menschheitsreligion“ bezeichnet.

Goethe, Kant und Mozart waren dafür „Urväter“ und Vermittler, Schleiermacher, Hegel und Beethoven folgten ihnen auf je ihre Weise nach. Lessing, Leibniz und Bach gingen ihnen voran, und niemand von diesen Großen hätte sich nur im entferntesten vorstellen können, dass diese Form von Bildung und Anstand in der Katastrophe des sogenannten „Dritten Reichs“ enden würde. Wäre man doch nur beim „Ersten Reich“ geblieben, jenem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das 1806, einfach so mitten in den Sommerferien, aufgelöst wurde … Aber wir wollen ja nicht klagen. Es ging weiter, und nun haben wir es heute mit einer Kanzlerin zu tun, die, gut evangelisch, Gutes mit Gutgemeintem vermengt, vermischt und am Ende verwechselt.

Es ist die „Alternative für Deutschland“, die nun alles durcheinanderbringt. Diese Partei hatte sich zunächst durch ihre Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung bekanntgemacht. Mittlerweile hat sie sich ihrer finanzpolitischen Elite entledigt und zeigt ihre Pegida-Fratze. Aber in diesem abscheulichen Tun legt sie den Finger in die Wunde eines abgehalfterten Europa, das zwar immer von „Werten“ spricht, zugleich jedoch die eigenen christlichen Errungenschaften in Abrede stellt. Die „politische Korrektheit“ greift derart um sich, dass das Reichsmuseum zu Amsterdam nun beispielsweise meint, alle irgendwie als anstößig empfindbaren Titel unter unsterblichen Rembrandtgemälden verändern zu müssen. Wie doof ist das denn?

Hier im föderalen Deutschland  entblödet sich eine Ministerpräsidentin nicht, einer „Elefantenrunde“ einen Korb zu geben, weil eben unliebsame andere Parteien ihre Vertreter in die Sendung des Südwestrundfunks schicken könnten. Liebe Frau Malu Dreyer, Sie sind einfach nur feige. Wenn Sie schon Böses ausgemacht haben wollen, dann stellen Sie sich doch furchtlos und engagiert und argumentativ super bewaffnet diesen Gegnern! Wahlkampf ist etwas anderes als eine jener schrecklich langweiligen neudeutschen Podiumsdiskussionen, auf denen sich am Anfang wie am Ende alle immer nur liebhaben!

Schließlich, nach Merkel und Malu, ist noch eines geschundenen Landes zu gedenken. Aus ihm kommen meines Wissens kaum Flüchtlinge hierher. Aber sie wären unbedingt willkommen, sollten sie sich aus ihrem Land auf den Weg machen. Dort, in den Bibliotheken, lagert literarisches, philosophisches und musikalisches Weltwissen. Es ist die Tragik unserer Zeit, dass wir vor lauter Islamhasserei diesen kulturellen Schätzen keine Aufmerksamkeit, kein Nachdenken, kein Gehör schenken. Dabei wäre es die Mystik, die alle Religionen versöhnen könnte. Da ist die jüdische Kabbala, die christliche innere Versenkung, die islamische Sufi-Bewegung. Seit Jahrhunderten. Von Mali aus wäre ein neuer Aufbruch doch zumindest denkbar. Oder? Weltmusik ist dort entstanden, die sich mit Psalmodien und Choralmelodien verbinden kann und auch international bereits verbunden hat. Wäre nicht die Musik, als echtes einmaliges Zeugnis des Abendlandes, bereit, sich mit ihren Vorfahren aus Jerusalem und Timbuktu zu vereinigen?

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Alles das ist möglich, wenn wir hier in Deutschland uns der eigenen christlichen Wurzeln bewusst bleiben. Denn man ist immer stark, wenn der eigene Glaube gepflegt wird. Eine „Islamisierung des Abendlandes“ muss niemand befürchten, der sich dem erlernten Christentum widmet und treu zu ihm steht. Pegida und die neuen Nazis halten nichts von den Kirchen – so wenig wie weiland die Machthaber des Dritten Reichs und der „DDR“. Und, meine lieben Kirchenleute, leider muss daran erinnert werden: Das Gutgemeinte ist nicht immer automatisch gut. Flausen im Kopf gehen an der Realität vorbei. Im übrigen gilt allen, die Merkel, Malu und Mali uneingeschränkt toll finden oder sie andererseits total ablehnen, das Wort, das einst auf Willy Wolke gemünzt war und uns immer wieder realpolitisch traurig macht, seitdem sein Urheber – wider Erwarten – dann doch mit 96 Jahren verstarb: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Abbildung: Detail aus „Madonna mit Kind und musizierenden Engeln“, Lombardische Schule um 1500, auf dem Schutzumschlag zu: Musica. Geistliche und weltliche Musik des Mittelalters. Herausgegeben von Vera Minazzi unter Mitarbeit von Cesarino Ruini. Aus dem Italienischen, Englischen und Französischen übersetzt von Yvonne El Saman. Freiburg im Breisgau 2011.