Felix Mendelssohn zum Geburtstag

Eine Skizze

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde vor zweihundert und einem Dutzend Jahren am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren und wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Sein Großvater war der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Fanny und weiteren Geschwistern wurde der junge Felix nach der durch die napoleonische Besetzung erzwungenen Übersiedlung zu Verwandten nach Berlin dort ab 1811 sorgfältig erzogen. Die mozarthaften Wunderkinder erregten bald Aufsehen. 1816 ließen die Eltern sie evangelisch taufen. Reformatorisches Bekenntnis hat Mendelssohns tiefe Frömmigkeit zeit seines Lebens geprägt, bis zu seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren in Leipzig am 4. November 1847.

Abraham Mendelssohn hatte das nötige Kleingeld, seinen begabten Kindern viele Bildungs- und Konzertreisen durch halb Europa zu ermöglichen: in die Schweiz, nach Frankreich und Italien sowie nach England und Schottland. Felix Mendelssohn hat auch als Erwachsener auf den britischen Inseln seine größten künstlerischen Triumphe vor einer riesigen dankbaren Zuhörerschaft gefeiert. Die Reiseeindrücke flossen in Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ (darin unter vielen anderen Hits der weltberühmte „Hochzeitsmarsch“), die Hebriden-Ouvertüre oder die Schottische Sinfonie ein.

Die eigene musikaliensammelnde Verwandtschaft und der Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, machten Mendelssohn mit Bachs Matthäuspassion bekannt. Auch sonst ist allenthalben schon beim ganz jungen Komponisten eine intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel zu erkennen. Seine Wiederaufführung der „großen Passion“ des alten Thomaskantors im Jahre 1829 ist ein Meilenstein der musikalischen Wirkungsgeschichte. Mendelssohn hat damit, als gerade Zwanzigjähriger, etwas mehr als hundert Jahre, nachdem dieses Hauptwerk abendländischer Passionsmusik 1727 erstmals erklungen war, die öffentliche umfassende Bach-Renaissance eingeleitet; sie dauert an bis in unsere Tage.

Mendelssohn hat sich zeit seines kurzen glanzvollen Lebens stets für Kollegen seiner Zunft eingesetzt, indem er ihre Werke aufführte, nachempfand oder anderweitig bekanntmachte: Dazu zählten Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und auch Richard Wagner. Vergleichen wir etwa dessen Holländer-Ouvertüre mit der Einleitung zum Oratorium „Elias“, so merken wir, wie nahe sich der Leipziger Gewandhauskonzertdirektor und sein neidischer musikdramatischer Nachbar in Dresden manchmal waren.

Ganz bewusst komponierte Mendelssohn ein ausgesprochen musikhistorisches Moment in seine Werke ein. So klingt im Oratorium „Paulus“ Bachs Johannespassion nach. Der erste Satz seiner „Italienischen“ atmet Mozarts lichten Geist. Im „Lobgesang“, gezählt als zweite Symphonie, treten Chor und Vokalsolisten hinzu, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter.

Eigene unverwechselbare Zeichen hat Mendelssohn in der Klavier- und Orgelmusik gesetzt: Die „Lieder ohne Worte“ sind quasi seine Erfindung. Und die sechs Orgelsonaten markieren den Beginn einer romantischen Tradition, die vor allem im französischen Sprachraum bei César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne zu hoher Blüte gelangte.

Es gibt so gut wie keine musikalische Gattung, die von Mendelssohn unbeachtet blieb. Er ist einer der letzten Komponisten, die ganz universell dachten und schufen, in der Kirchenmusik wie im Opernfach, in Liedern wie in Solokonzerten, in Motetten, Kantaten, Oratorien, Chören (z.B. „O Täler weit, o Höhen“ oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“) Sinfonien, Schauspielmusiken, Streichquartetten und sonstigen kammermusikalischen Werken.

Die Fülle seines Schaffens erwuchs, ähnlich wie bei Mozart, aus einer gediegenen Allgemeinbildung, die vor allem einen entschiedenen Sinn für die jeweilige Form ausbildete. Was Kritiker meinten, als allzu „glatt“ bemängeln zu müssen, war tatsächlich immer neu hart erarbeitet. Mendelssohn strich, verwarf und korrigierte stets bis zur Drucklegung seiner Kompositionen – und oft noch darüber hinaus, sehr zum Leidwesen der Verleger.  Hierin ähnelte er seinem Kollegen Frédéric Chopin: Nie war er zufrieden.

Felix Mendelssohn, glücklich verheiratet mit der Tochter eines Hugenottenpredigers aus Frankfurt am Main und Vater vieler Kinder, galt zu Lebzeiten und noch viele Jahrzehnte danach als ein geniales Glückskind, das den öffentlichen Musikbetrieb im biedermeierlichen Deutschland schöpferisch und organisatorisch ungemein bereichert hatte. Kein Männerchor im wilhelminischen Zeitalter, der nicht seine Lieder sang; kein Bachverein, der nicht seine kirchenmusikalischen Werke aufführen wollte; kein Konzertpublikum, das nicht nach seinen Ouvertüren und Sinfonien verlangte.

Dass er kein Titan wie Beethoven, kein Grübler wie Brahms, kein Neutöner wie Liszt war – geschenkt. Verhängnisvoll sollte sich im Fortgang seiner Rezeptionsgeschichte allein der Umstand erweisen, dass er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Nazis kannten ja selbst dann keine Gnade, wenn die von ihnen Geächteten längst zum Christentum konvertiert waren – weil bei ihnen überhaupt gar kein Glaube zählte, sondern bloß dumpf das Blut. Das Mendelssohn-Fenster in der Leipziger Thomaskirche verarbeitet diese böse Fama sehr eindrücklich.

So wurde das beliebte e-Moll-Violinkonzert aus dem öffentlichen Musikbetrieb verdrängt, indem man Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert zu etablieren suchte: 1937 wurde dieses Stück, das im 19. Jahrhundert niemand aufführen wollte, erstmals dem Publikum dargeboten. Die Perfidie, noch post mortem Keile zu treiben zwischen Kollegen, die sich im wirklichen Leben geschätzt und unterstützt hatten, ist vielleicht nur ein kleiner Aspekt in dem sich damals schon manifestierenden Grauen der 1940er Jahre – aber eben einer unter unzähligen Schritten, die den aufrichtigen Geist einer zwar unpolitisch-vormärzlichen, aber in sich selbst zutiefst humanen Kultur niedergetrampelt und zertreten haben.

Mendelssohn hat es auch im Nachkriegsdeutschland schwer gehabt. Man traute dem stilistischen Alleskönner nicht recht über den Weg. Wer jedoch die feinsinnige Klangwelt mit durchaus aufbegehrenden Momenten etwa in der „Walpurgisnacht“ oder im c-Moll-„Sinfoniesatz“ zusammenhört, wird nicht umhinkönnen, in ihm einen europäischen Weltbürger zu entdecken, der die heutzutage so gern vollmundig betonte „Vielfalt“ nicht als propagandistisch aufgemotztes Neusprech übergriffig missbraucht, sondern leise und unausdrücklich, schlicht und einfach, gebildet und kunstreich: wirklich GELEBT hat.

Foto: Felix Mendelssohn: aus den „Sieben Charakterstücken“ Opus 7 (1827-1829)

Es-Dur con variazioni

Es ist die Tonspur.

Es flötet zauberhaft.

Es tönt freimaurerisch.

Es verbindet sich zäh mit c.

Es klingt heldenhaft.

Es vergoldet Ockerfarben.

Es lässt hoffmannesk zart movieren.

Es weiß sich beethoventlich.

Es lautet lamoleonisch an.

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Es wirkt napoleonisch.

Es verleiht warmen Glanz.

Es mag gern siegreich sein.

Es will hoch hinaus.

Es gründet sich die beste Tonart.

Es bläst dreimal erniedrigt.

Es brahmst endlich mollig.

Es bacht orgelnd trinitarisch.

Es tollt empereurisch großartig.

Es prägt die Eroica.

Es händelt adventlich im Gesangbuch.

Es lassen wir mal so stehen.

Inspirationen: Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte (1791). Paralleltonart c-Moll (gilt jedes Jahr). Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Sinfonie Es-Dur (1803). Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonie Es-Dur (1788). Ludwig van Beethoven: Prometheus-Variationen (1800) und Dritte Symphonie Es-Dur „Eroica“ (1804). Lambertikirche Oldenburg (1791-1800). Drei b als Vorzeichen. Johannes Brahms: Rhapsodie Es-Dur, endend in es-Moll (1892). Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge Es-Dur aus der Orgelmesse (1739). Ludwig van Beethoven: Fünftes Klavierkonzert Es-Dur „L‘ Empereur“ (1811). Georg Friedrich Händel: Triumphmarsch aus den Oratorien „Josua“ und „Judas Makkabäus“ in der Es-Dur-Fassung des Evangelischen Gesangbuchs (1747/1993).

 

 

Joseph Haydn unvergessen

Einer genuin christlichen Geisteseshaltung haben die ganz großen Gelehrten und Künstler der europäischen Kultur Ausdruck verliehen. Einer von ihnen starb hochgeehrt und geachtet heute genau vor zweihundertzehn Jahren in Wien, am 31. Mai 1809: Joseph Haydn. Er gilt als Begründer jener Musiktradition, die wir die „Wiener Klassik“ nennen. In Sonaten, Streichquartetten und Symphonien, in Opern, Oratorien und Messen hat er, 1732 im niederösterreichischen Rohrau geboren, wahrhaft geistreiche Musik geschaffen.

Zu seinen persönlichen Freunden zählten Mozart und Beethoven. Seinen Stil fand er unter anderem im Studium der Werke Georg Friedrich Händels und der Söhne Johann Sebastian Bachs. In seinen über tausend Werken vereinigt er einfache Liedformen mit hochkomplizierten Stimmgeflechten: darin fängt er alle Befindlichkeiten des menschlichen Gemüts ein, von tiefer Trauer bis zu heiterer lichter Gelassenheit, von klagendem Schmerz bis zum überschwenglichen Jubel. Zumindest eine Melodie ist uns allen vertraut: Aus einem seiner Streichquartette stammt die Weise zu unserer Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

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Man wird nicht sagen können, dass sich in Haydns Schaffen der Heilige Geist direkt äußert – dazu ist selbst Musik doch letztlich zu sehr irdenes Stückwerk, auch in einem so großartigen Oratorium wie der „Schöpfung“, das die biblische Schöpfungsgeschichte vertont. Aber diese Musik enthält Momente, die vom Zeitgeist heilsam wegführen und dem bösen Ungeist ganz klar wehren, weil Trost darin ist, Kraft, Mut, Ausdauer, Zuversicht und grenzenlose Hoffnung.

Rechte Lehre und befreiende Erinnerung – daraus entsteht ein neuer gewisser Geist, eine gute Ordnung, die nach vorn hin offen ist. Ganz optimistisch setzt Haydn am Anfang seiner „Schöpfung“ folgende Worte in erst dunkle, dann helle leichte Musik: „Nun schwanden vor dem heiligen Strahle / des schwarzen Dunkels gräuliche Schatten; / der erste Tag entstand. / Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor. / Erstarrt entflieht der Höllengeister Schaar, / in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht. / Verzweiflung, Wuth und Schrecken / begleiten ihren Sturz. / Und eine neue Welt entspringt auf Gottes Wort.“

Lamoleonische Vestib*letten

Entre nous: Entrez, s‘ il vous plaît! Wenn man nur wüsste, wohinein. Da ergeht freundliche Einladung, und ich nehme sie auch durchaus gerne an. Rankenornamental ist alles super im Vestibul. Oder eingedeutscht mit ü statt u, wie bei der C/Konfi- oder Ouvert*re? Manche Wörter übrigens gibt es in der behelligten Sprache gar nicht. Der Friseur/Frisör heißt im Französischen coiffeur, und wer in anglophonen Gegenden ein Handy so nennt und also neudeutsch „Händie“ ausspricht, sollte sich über unverständiges Kopfschütteln nicht wundern, selbst bei denen nicht, die unablässig mit ihrem mobile beschäftigt sind.

Am geschmiertesten läuft die eigene Sprache, wenn sie sich selber so setzt, als seien ihre Gepflogenheiten die natürlichsten der Welt und schon immer dagewesen, sozusagen seit unvordenklichen Zeiten. Angesichts von Blümchenmustern dürfte das keine allzugroße Anstrengung darstellen. Unüberwindliche Schwierigkeiten ergeben sich auf einer hochstrebend sowie blumig gedachten Treppe der Erkenntnis vielmehr aus dem Mangel an Orientierungsstufen (!):

Lamoleonische Vestibületten

Erstens nämlich hat die Räumlichkeit, in der ich mich nun befinde, nichts mit einer längst wieder abgeschafften Schulform zu tun, die seit den siebziger Jahren alle Fünft- und Sechsklässler zu durchlaufen hatten, um von dort und ab deren (Be-)Schluss dann entweder in die Hauptschule, in die Realschule oder ins Gymnasium weiterverschickt zu werden.

Zweitens versagen bei dem Gebäude, um das es hier geht, sehr viele sonst zuverlässige Regeln. Wer alles über Stile und Bestimmungen von Bauwerken aus alter und neuer Zeit auswendig gelernt haben sollte, wird hier keinen Blumentopf gewinnen. Eifrig eingeheimste Fleißpunkte helfen dem strebsamen Schüler mitnichten weiter, wenn er nicht höchstselbst sich aufmerksam umschaut.

Drittens sind Stufungen immer heikel. Wenn gerade kein Meisterfriseur zugegen ist, steigt die Gefahr des Pottschnitts. Neben Höher- gibt es leider auch Ein- und sogar Herabstufungen, wofür sich mittlerweile das alles umfassende Unwort „Wertschätzung“ etabliert hat: Ich lobe hoch, sortiere ein oder senke den Daumen. Einen Wert abzuschätzen kann eben unter Umständen auch bedeuten, höchst abschätzig zu werten = zu entwerten.

Viertens ist Orientierung oftmals eher Wunsch denn Wirklichkeit. Ex oriente lux – aus dem Osten kommt das Licht. Die Sonne geht im Morgenland auf, und an uns ergeht immer wieder die Frage, wie „geostet“ unsere abendländischen Sinne tatsächlich sind. Die bisher übliche „Westorientierung“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Genauer müsste man dieses Phänomen als „Okzidentierung“ bezeichnen.

Fünftens aber hat Lamoleon sich nie um solche Fragen groß gekümmert. Das Eigenverständnis läuft seltsame Wege, wohl von großen architektonischen Vorbildern und sonstigen Lilienmotiven angeregt, aber dann anschließend von nachkommenden Generationen unverstanden und sogar manchmal ums Spezifische betrogen. Davon wird in einem Folgetext noch ausführlich zu reden sein.

Sechstens geht es im Grunde nur um diese Fragen: Wer oder was mag denn „Lamoleon“ wohl sein? Wie „bio“ ist die blau-weiße Farbgebung? Es folgt vielleicht ein ganzer Fragenkomplex: Kann man das eingedeutschte „Vestibül“ zur Eskalationsstufenerhöhungsvermeidung eigentlich auch mit Ypsilon schreiben? Vestibyl … ? Oder wäre das zu opernhaft? Gibt es aber nicht auch Ufertüren in Wassermusiken? Uh, vertú recte! In virtute veritas! Virtuositas. Es geht also um Virtuosität? Um Händel und sein Handy, das er in Herrenhausen verloren hat?

Stop achtkantig! Die Türen des Hohen Ufers mögen schlundartig sperrangelweit offenstehen und hannöversch locken … Bisher war man in diesen hier vorgestellten und mittels Eckmotiv ins Bild gesetzten heiligen Hallen von solchen Aktionen herzlich unbeeindruckt. Brahms wäre aufblühend da im Hauptraum wirksam gewesen, wenn die Hiesigen die Gelegenheit nicht verschlafen hätten; stattdessen ging der Zuschlag für die Uraufführung seines Deutschen Requiems – nein, nicht an die Leine, sondern – an die Weser nach: Bremen …

Wir ahnen: Es gibt hier viel aufzuklären. Die Menschen haben ein Anrecht darauf. Obwohl ich überhaupt kein investigativer Journalist bin, weiß ich doch: Mit einer bloßen Entrée will heutzutage niemand abgespeist werden, so höflich die Veranstaltung auch vonstatten gehen mag. In Marmeladenbrötchen beißen und gleichzeitig Mobiltelefonempfang haben wollen – dies ist der unsägliche Widerspruch unseres derzeitigen Lebenswandels. Traditionelles Wohlleben und trendiges Whirlpoolhightec: Das wäre zusammengefasst also so etwas wie Frühstücksfernsprech – in Pirouetten und durch die Blume gesagt.

Hommage à Melante

Ehrung, gar: Laudatio? Er, der sich anagrammatisch „Melante“ zu nennen beliebt und darin in seiner ihm eigenen bestgelaunten Art so etwas wie Italianità francophone betont, gilt nach seinem Hinscheiden über zwei Jahrhunderte hinweg als absolutes No go: zopfig verdorben, stilistisch unbestimmbar (ergo charakterlos), rokokoüberbordend flach & cetera …

Wer über Georg Philipp Telemann (*14. März 1681 in Magdeburg / +25. Juni 1767 in Hamburg) spricht, kommt weder an postmortal einsetzender Verachtung noch an zu eigenen Lebzeiten und dann wieder ab dem zwanzigsten Jahrhundert gepflegter Hochschätzung seines Werkes vorbei. Aus beidem ergibt sich Maß und Mitte für eine hier versuchte skizzenhafte Würdigung.

Wäre eine Lobrede auf ihn noch so kurz: Im neunzehnten Jahrhundert hätte selbst dem Musikkundigsten nicht allzuviel einfallen dürfen. In einem Lexikon von 1878 steht über ihn zu lesen: Er „brachte […] es mit seiner Vielschreiberei wohl zu einer Unzahl von Werken, aber es waren keine künstlerischen Schöpfungen, sondern Fabrikwaare.“ Und 1884 urteilt ein Kritiker: „Telemann kann entsetzlich bummelich [sic!] schreiben, ohne Kraft und Saft, ohne Erfindung, er dudelt ein Stück wie das andere herunter.“

Seine Zeitgenossen haben das ganz anders gesehen. Da hätte jeder noch so ausführliche Panegyrikos nicht ausgereicht, ihn qualitativ adäquat zu fassen. Johann Mattheson – seines Zeichens Universalgenie in Hamburg und also unter anderem auch Musikkritiker dortselbst – dichtet 1740 über den im sechzigsten Lebensjahr stehenden Komponisten: „Ein Lulli wird gerühmt; Corelli lässt sich loben; / nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.“

Der damals schon ertaubte Mattheson (*1681 [also gleichaltrig mit Melante] in Hamburg / +1764 ebenda) beschreibt hier eine stilhistorisch aufsteigende Linie: Auf den gepriesenen Italo-Franzosen Giovanni Battista Lulli = Jean-Baptiste Lully (*1632 in Florenz / +1687 in Paris) und den zu preisenden Italiener Arcangelo Corelli (*1653 in Fusignano / +1713 in Rom) folgt der Preissieger aus dem deutschen Tor zur Welt. So sieht womöglich eine wirklich europäische Geschichtsschreibung aus!

Ein erschreckend-erstaunlicher Lebenslauf

Die einzelnen äußeren Lebensstationen von Telemanns schon früh einsetzender musikalischer Wirksamkeit deuten indes nicht notwendigerweise auf Internationalität oder wenigstens Weltbürgerlichkeit hin: Magdeburg, Zellerfeld (tiefste Harzlandschaft), Hildesheim, Leipzig, Sorau (Schlesien), Eisenach, Frankfurt am Main, Hamburg. Dennoch ist da von Anfang an mehr.

Schon in Magdeburg komponiert und inszeniert er eine Oper, mit sich selber in der Hauptrolle. Daraufhin erfolgt seine Verbannung in den Harz und Vorharz, zunächst in die Obhut eines Superintendenten, der mit Telemanns früh verstorbenem Vater ehedem in Helmstedt studiert hat; aus dem Jungen soll schließlich etwas Ordentliches werden, nicht so ein Musikus-Luftikus. Doch auch dort und später am Andreanum, an der evangelischen Lateinschule zu Hildesheim, lässt Georg Philipp „das Mausen nicht“ (wie es im Text von J.S. Bachs Kaffeekantate einst instinktanalytisch heißen wird).

Im Oberharz und in der konfessionell geteilten Reichsstadt findet Telemann, der mütterlicher- wie väterlicherseits aus Pastorenfamilien herstammt, sowohl subversive als auch offensive Gelegenheiten für fruchtbares Komponieren. Anregungen erhält er durch Hofmusiken im französischen Stil, die er bei Konzertbesuchen in Braunschweig und Hannover erlebt. Seine Begabungen werden allseits wahrgenommen und gelobt: Er darf dann beispielsweise sogar in römisch-katholischen Gottesdiensten der Hildesheimer Godehardikirche Kantaten aufführen – ein früher Fall von Ökumene …

Die ob der keineswegs weniger gewordenen Musikalität des Knaben erschreckte Familie bleibt in größter Sorge. Nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt nimmt die Mutter ihrem Sohn das Versprechen ab, fortan nur noch vernünftig zu sein und in Leipzig brav Jura zu studieren. Noten und Musikinstrumente muss er zu Hause lassen. Telemann findet das nicht sooo sonderlich schlimm: Der eigene Sinn für Melodien und Harmonien lebt notfalls im Kopf, woraus sich spontan und flexibel neue Stücke erfinden sowie niederschreiben lassen – und spielen kann man schließlich auch auf Instrumenten jeweils vor Ort.

Lebensklug und listig zugleich ist ihm alles recht und eigentümlich leicht zu erreichen, was der Karriere seines in Planung befindlichen Musikerlebens dient. In Halle an der Saale trifft der junge Mann den sechzehnjährigen Georg Friedrich Händel (*1685 in Halle a.S. / +1759 in London) – und ergibt sich in seinem avisierten Studienort recht bald ausschließlich der ars musica. Er gründet ein Studentenorchester, jenes Collegium musicum, mit dem später dann auch Johann Sebastian Bach (*1685 in Eisenach / +1750 in Leipzig) arbeitet. Außerdem bringt es Telemann dort in Leipzig zum Leiter des Opernhauses und sogar bis zum Titel eines Kirchenmusikdirektors. Mit dreiundzwanzig Jahren!

Es folgt eine Zeit in der Welt adliger Provinz: selbstauferlegte Klausur sozusagen, zum vorbedachten Behuf, sich in der eigenen Kunst weiterzubilden und zu vervollkommnen. Am Hof im schlesischen Sorau pflegt man die französische Musik – und Telemann macht von dort Ausflüge in die Gasthöfe, wo abends die einfachen Leute vom Lande mit Fiedel, Laute oder Dudelsack ihre melodisch, harmonisch und rhythmisch unverwechselbaren Tänze spielen und dazu singen. Auch bereist der allseits interessierte Musiker die polnische Königsstadt Krakau und lässt sich hier wie dort inspirieren von der slawischen Volksmusik – lange vor Chopin und Bartók …

Vielen seiner Melodien hört man diese Herkunft an: Deren Fundus allein hätte für ein durchschnittliches Komponistenleben reichen können. Aber Melante will eben mehr als das, und als er ein erstes Mal geheiratet hat, geht er an den Hof von Eisenach. Auf einer Reise nach Weimar lernt er den dortigen Kapellmeister Bach kennen. Man freundet sich an, und noch aus der Ferne – der nachmals Goetheschen Distanz von Frankfurt zum thüringischen Musenhof – entspringt diesem Musikerbund (im Jahr 1714) eine Patenschaft zum zweitältesten Bachsohn: Daher der Philipp zwischen Carl und Emanuel … Jahrzehnte später noch für den mittlerweile allseits hochgelobten „großen Bach“ (*1714 in Weimar / +1788 in Hamburg) gewiss ein Vorteil, um in Hamburg Telemanns Nachfolger im Amt des Director musices tatsächlich zu werden.

Doch von der schönsten Großstadt der Welt ist in den 1710er Jahren in Thüringen noch nicht die Rede. Der Tod der Gattin nach der Geburt einer Tochter ist zu betrauern. Telemann will weg, braucht dringend Luftveränderung. Der in Leipzig erworbene Titel verschafft ihm 1712 die Stelle des Director musices in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main. Hier heiratet er zum zweitenmal; viele Söhne und Töchter gehen aus dieser Ehe hervor; keines der Kinder zieht es beruflich zur Musik; erst der Enkel Georg Michael (*1748 in Plön / +1831 in Riga, Spross von Pastor Andreas Telemann [1715-1755], nach dem Tod des Vaters vom Großvater erzogen), setzt die Profession fort, zwischenzeitlich als Vertretung für den verstorbenen Opa in Hamburg (bis zur Ankunft von CPE Bach im Jahr 1768), zuletzt als komponierender Musikdirektor, Kantor und Organist in Riga …

Die Mainmetropole hält viele verschiedene Anlässe bereit, Musik gewissermaßen auf der Durchreise kennenzulernen: Zu den Messezeiten quillt die Stadt über von Gästen, die sich gern unterhalten lassen durch Konzerte, Theater- und Opernaufführungen von gastweise anwesenden Klangkörpern aus der näheren und weiteren Umgebung. Man ist in dieser städtischen Gesellschaft großzügig und weitherzig gegenüber allen Musikern, lässt sie organisatorisch und finanziell gewähren – Hauptsache, sie gefallen … und nach der Saison sind sie ja auch wieder weg.

Ebenso verhält sich die Stadtregierung ihren eigenen festangestellten Musikern gegenüber: Telemann darf in seinem dienstlichen Bereich in der Katharinenkirche und Barfüßerkirche (Vorgängerin der Paulskirche) mit seinem Budget schalten und walten, wie er selbst es für richtig hält. Melante wird Selfmademan – und das liegt ihm. Die Texthefte für seine Kantaten verlegt und verkauft er ganz eigenständig: Später, in Hamburg, wird diese Frankfurter Gewohnheit langjähriger Quell für Unmut und rechtlichen Streit; denn dort will der Drucker am Erlös monetär mitbeteiligt sein …

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Anno 1721 wird er, ohne sich beworben zu haben, vom Senat der Freien und Hansestadt zum Kantor am Johanneum und Director musices für die fünf Hauptkirchen (von links nach rechts gemäß der Stadtansicht von Elias Galli:) St. Michaelis, St. Nicolai, St. Katharinen, St. Petri und St. Jacobi gewählt (zweiter Turm von rechts gehört zum Dom St. Marien, welcher nicht den Hauptkirchen zuzählt, sondern hannoverscher Besitz ist – aber das ist eine andere Geschichte …). Telemann nimmt den Ruf an, aber zugleich sichert er sich, wie schon bei seinem Weggang aus Eisenach, nun auch hier ab: Er wird weiterhin für Frankfurt Musik komponieren – und so lässt man ihn versöhnt seine Straße ziehen. Melante scheidet niemals im Streit von einer Stelle.

In Hamburg allerdings geschieht dies fast, nur ein Jahr nach seiner Ankunft dort: Genervt von den textheftherstellenden gewinnheischenden zünftigen Ratsdruckern bewirbt er sich erfolgreich um die ausgeschriebene Stelle des Thomaskantors und städtischen Musikdirektors in Leipzig. Das teilt er auch der Bürgerschaft mit, die ihm daraufhin bessere Konditionen zusagt und sein Gehalt erheblich aufbessert. Also bleibt Telemann in Hamburg. In der Pleißestadt erhält schließlich, weil Christoph Graupner keine Freistellung seines Darmstädter Fürsten bekommt, der nur drittplazierte Johann Sebastian Bach den Zuschlag.

Melante entfaltet in den folgenden Jahrzehnten an Alster und Elbe eine derart umfassende Tätigkeit, dass man es kaum glauben kann. Lehrer an der Lateinschule, Organisator und Schöpfer aller Kirchenmusik, Leiter der Oper am Gänsemarkt, Komponist von Werken für die weltliche Öffentlichkeit senatorischen Glanzes sowie für den hausmusikalischen Bedarf; hier ein Freiluftkonzert, dort eine gravitätische Trauerkantate, „Ebbe und Flut“ für die Bürgerkapitäne, „Seliges Erwägen“ jahraus jahrein zur Passionszeit sowohl für Waisenkinder als auch für die Hochmögenden …

Allgegenwärtig, umtriebig, hellwach, souverän in seiner Kunst und erprobt im Umgang mit Adligen, Kirchenleuten und stolzen Bürgern gleichermaßen, ist er bei alledem auch noch von sympathischer Ausstrahlung. Anders ist es kaum zu erklären, dass man für ihn eine Geldsammlung veranstaltet, als das familiäre Unglück sich nicht länger verbergen lässt: Telemanns Ehefrau brennt mit einem schicken schwedischen Offizier durch und hinterlässt enorme Spielschulden.

Nach diesem Tiefschlag ermöglicht man anno 1737 dem Sechsundfünfzigjährigen eine achtmonatige Reise nach Paris, ins Zentrum damaliger Weltmusik. Damit erfüllt sich ein Traum für den mondänen Komponisten, der stets auch literarisch, philosophisch, innovativ und herbarisch interessiert ist. In der Kapitale der Grande Nation trifft er viele geistreiche Köpfe von Rang und Namen, die ihrerseits sich freuen, den großen deutschen Tonkünstler, von dem sie schon so viel gehört haben, endlich persönlich kennenzulernen. Man reicht ihn in den Salons herum und ist begeistert.

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Die weiteren dreißig Lebensjahre in Hamburg, immer mal wieder ergänzt durch Kuraufenthalte in Pyrmont sowie kleinere Reisen ins Holsteinische und Mecklenburgische, sind geprägt von regem Interesse am Fortgang der musikalischen Entwicklung – und von sich steigernder Freude an den Gewächsen des eigenen Gartens, Zeichen von Wohlstand, Dankbarkeit und Ehrfurcht vor der Schöpfung. Er stirbt im Jahr des 250. Reformationsjubiläums am Gedenktag der Augsburgischen Konfession und wird begraben am Tag der Apostel Petrus und Paulus.

Musikalische Besonderheiten

Telemanns Musik speist sich aus einer bildhaften Melodik; den schulmäßigen Kontrapunkt lässt er früh hinter sich. Ihn interessieren vor allem Singstimmen und Melodie-Instrumente. So macht er die Blockflöte salon- und orchesterfähig – was späteren ach so heroisch denkenden Zeiten dann eher suspekt ist. Jedes Soloinstrument bekommt bei ihm „seine“ Musik. In seinem riesigen Gesamtwerk von über 3600 Nummern sind nur Stücke für Tasteninstrumente solo vergleichsweise selten: doch etwa in den „drei Dutzend Klavier-Fantasien“ präsentiert er eine kompositorische Farbigkeit, die weit vorausweist in Richtung Chopinsche Mazurken oder Bartóksche Tänze – und entschädigt so einen seiner bei ihm ansonsten eher seltenen quantitativen Mängel.

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Die immer neue Mischung in aller erdenklichen Vielfalt ist eine enorme Antriebskraft Telemannscher Kompositionspotenz. Nebenher wird Melante auf diese Weise zum Erfinder des Streichquartetts und zum Meister von Trio und Duo. Das klingt in seiner „Tafelmusik“-Sammlung, aber auch in seinen unzähligen Kantaten in ihren kleineren und größeren Besetzungen bewusst durch. Überall ist er auf der Höhe seiner musikalischen Zeit und geht mit ihr weiter, vom Generalbasszeitalter über die Empfindsamkeit bis hinein in die Frühklassik. Als Melodienschöpfer steht er in einer Linie mit Händel, Mozart und Schubert, auch wenn die beiden Letztgenannten sein Originalwerk kaum in seinem ganzen Reichtum kennengelernt haben dürften.

In den vierstimmigen Chorälen bleibt er, verglichen mit dem in dieser Disziplin einzigartigen Bach, weitgehend traditionell: Doch überraschen im an und für sich schlichten Satz dann doch bizarre harmonische Wendungen sowie die neumodische Unbekümmertheit, mit der Gesangbuchlieder in molliger Tönung auch tatsächlich in Moll enden dürfen … Das gibt es bei J.S.B. nicht!

Empfindsam arbeitet Telemann dem Stil seines Patenkindes CPE Bach vor. Und in überschäumender Schöpferkraft schickt er auch mal Eigenkompositionen nach London, erlaubt dem dort oft überlasteten Freund Händel, sie unter dessen Namen aufzuführen; im Gegenzug sendet der deutsche Engländer dem Kollegen in Hamburg seltene Pflanzen fürs Herbarium – New Deal in enzyklopädischen Dimensionen mitten im Siècle des Lumières: praktisch, sachdienlich, freundschaftlich, unprätentiös, gabenorientiert, situationsschnell, naheliegend, vernünftig.

Bei aller Universalität, die in manchem an Heinrich Schütz (1585-1672) oder Joseph Haydn (1732-1809) erinnert (schon was die schiere Lebenslänge angeht), bleibt Telemanns Musik stets leicht fasslich und insgesamt eher heiter gestimmt. Seinem Selbstzeugnis nach wohnt in ihm nun mal „kein sauertöpfisch Herz“, sehr zum Verdruss der späteren Kritiker, die bei ihm so wenig Metaphysisches zu entdecken vermögen und sich daher lieber gründlich deutsch an Bach, Beethoven oder Wagner orientieren.

Aber dieses Französische, Gravitätische und Objektive lässt Melante stets wie selbstverständlich da sein. Dinglich direkt, human konkret, bestechend logisch: all das liegt bei Telemann offen zutage. Klang erschöpft sich wirklich im Klang; aber das stellt keine Beschränkung dar, sondern entbirgt Musik in einer quicklebendigen vollblütigen Art und Weise. Alles ist tatsächlich so gemeint, wie es erklingt. Hier gilt, was eine mögliche Herangehensweise betrifft, die klare, ursprünglich auf die Werke Franz Schuberts gemünzte Empfehlung: „Einfach musizieren!“

Diese Art von prompter Präsenz ist wohl einer der Gründe, weshalb Melante bei seiner Ankunft in Paris von tout le monde gefeiert wird wie ein sehnlichst zurückerwarteter vertrauter Star aus eigenem Hause. Längst hat man dort seine gedruckten Werke subskribiert; man stellt ihm sogleich ein königliches Privileg aus, die eigene Musik konkurrenzfrei zu publizieren. Die „Dilettanten“ (im damaligen Sprachgebrauch keinesfalls abschätzig gemeint) kennen ihn als den Gründer der in ganz Europa gelesenen Fachzeitschrift „Der Getreue Musikmeister“.

Wer Telemann spielt, weiß sich immer in Gesellschaft. Jeder hausmusikalische Kreis, der sich mit seinen Triosonaten befasst, kennt dieses Phänomen, das tröstet, erfreut oder beides miteinander. Nichts Menschliches bleibt ihm fremd. Von fröhlichen „Bratensymphonien“ bis zum oratorischen „Weltgericht“ wird nichts zwischen Himmel und Erde ausgelassen. Humorvolle Lautmalereien, ergreifende Klagechöre, fröhlicher Durmollwechsel und schräge Ausdruckssteigerungen eröffnen allen, die sich hörend oder ausführend darauf einlassen, einen zugleich pointierten und unerschöpflichen Kosmos per aspera ad astra.

Eigentümliche Nachwirkungen

Mit ersten wissenschaftlichen Editionen beginnt anno 1907 die Telemann-Renaissance, begünstigt in den folgenden Jahrzehnten von einer durch die Jugend-, Sing- und Orgelbewegung angeregten völlig entschlackten Musikauffassung. Mit der antiromantischen Wiederentdeckung kleinteiliger Formen und einer an barocken Modellen geschulten Hochschätzung von Tonsprache als „Klangrede“ gelangt der gesellige und spielfreudige Melante zu neuen Ehren.

Aber gibt es nicht schon mitten in der rund 140 Jahre davorliegenden Zeitspanne seiner größten journalistischen Verdammung manch einen Lichtblick? Woher stammt denn das ominöse e-Moll-Thema aus der Durchführung des ersten Satzes in Beethovens Eroica? Ich meine, es einmal in einer der vielhundert Telemannschen Sonaten mitgespielt zu haben … Nur mit dem Unterschied, dass es dort, rhythmisch unwesentlich modifiziert, in c-Moll notiert ist … Kann mir da jemand bei der Recherche weiterhelfen? Und selbst, wenn diese Sonate (wider meine rudimentäre Erinnerung) heutzutage unter Händels Namen laufen sollte (was bei Beethovens Verehrung für ihn nicht weiter verwunderlich wäre): ihr Hauptthema könnte gleichwohl von Melante stammen – eventuell gegen eine Blumenkiste von der Insel?

Gleichfalls ins neunzehnte Jahrhundert führt uns eine Adventskantate, die Felix Mendelssohn für ein Bachsches Werk gehalten hat, weil sie in einer Handschrift des Thomaskantors überliefert ist. „Machet die Tore weit“ ist aber von Telemann! – ebenso wie manch andere Kirchenkantate, der J.S.B. die Ehre zuteil hat werden lassen, sie für eigene Aufführungszwecke abzuschreiben. Der verpatete Kollege in Frankfurt respektive Hamburg wird das keinesfalls missgestimmt, sondern stolz zur Kenntnis genommen haben, auch wenn die Forschung lange, nämlich bis tief ins nachkriegszwanzigste Jahrhundert gebraucht hat, beispielsweise auch eine so schöne Kantate wie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ schnörkellos dem „fünften Evangelisten“ abzusprechen und dem Mann aus Magdeburg friktionsfrei zuzuerkennen …

Formvollendet und freigeistig zugleich – beides macht Telemann zu einem gesamteuropäischen Ereignis, ohne dass dabei die von ihm aufgegriffenen nationalen und landsmannschaftlichen Stilelemente verwischt werden. Im Gegenteil, die auskomponierte Liebe zum Detail, das Interesse am je Eigenartigen von Stil und Stimmung, ja der Sinn fürs Ausgefallene und Besondere, woran Spätere anknüpfen werden, bis hin zu Chopin und Bartók – : all das bringt eine bunte Vielfalt überhaupt erst zum Klingen. Was sich künstlerisch ausdrücken lässt, bleibt in seiner Wurzel doch erkennbar und wirkt von dort weiter, gewissermaßen hinein in eine Polyphonie höherer Ordnung …

In diesem durchaus aktuellen Sinne: Melante sei Dank.

Abbildungen:
(1) Elias Galli (zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in Hamburg tätig), Hamburg von der Elbseite um 1694. Das Originalgemälde von den großen Ausmaßen 152,5 x 247, 5 cm befindet sich im Museum für Hamburgische Geschichte. Meinem eigenen Foto liegt als Vorlage zugrunde eine Reproduktion auf dem Titelblatt für den Hamburgensien-Kalender 1969, herausgegeben von der Vereinsbank in Hamburg, Filiale Cuxhaven.
(2) Gedenkplatte für Telemann, dessen Grab sich auf dem Johannisfriedhof befand. Heute steht dort das Hamburger Rathaus. Die Platte ist in den Boden eingelassen direkt an der Fassade zum Rathausmarkt, links am Haupteingang.
(3) Fantasie F-Dur aus den „drei Dutzend Klavier-Fantasien“, hier aus dem in Klavierstunden häufig benutzten „Notenbuch für Wolfgang“ (zu dessen Namenstag am 31. Oktober [!!!] 1762) von Leopold Mozart, Mainz 1939 (Edition Schott).
Literaturhinweise:
Karl Grebe: Georg Philipp Telemann mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg (1970), 9. Auflage 1996 (Reihe: rowohlts monographien).
Eckart Kleßmann: Georg Philipp Telemann. Mit einem Nachwort von Helmut Schmidt. Hamburg (2004), aktualisierte Ausgabe 2015 (Reihe: Hamburger Köpfe).
Siegbert Rampe: Georg Philipp Telemann und seine Zeit. Laaber 2017 (Reihe: Große Komponisten und ihre Zeit).