August 1806 in memoriam

Am 6. August 1806 endete das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Franz II. legte die römisch-deutsche Kaiserwürde ab und regierte fortan (nur noch) als Kaiser Franz I. von Österreich. Wien blieb also – wenn auch anders als bis dahin – eine Kaiserresidenz, und Haydns „Kaiserhymne“ konnte dort mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“ noch jahrzehntelang gesungen werden. Wir stimmen auf diese Melodie heutzutage „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ an. Was aber bis in unsere Gegenwart musikalisch nachwirkt, kann doch nicht verwischen, dass damals eine regelrechte Zeitenwende besiegelt wurde.

Denn das Duell zweier Kaiser nahm eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. Seitdem ist es aus der Geschichte verschwunden, nach fast achteinhalb Jahrhunderten Bestand.

Am 2. Februar des Jahres 962 war einst der deutsche König Otto, nachmals „der Große“ genannt, in Rom zum römischen Kaiser gekrönt und gesalbt worden. Seitdem gab es in Mitteleuropa wieder ein Imperium Romanum, gar bald mit dem Zusatz sacrum versehen, also ein „Heiliges Römisches Reich“, erstanden aus den idealisierten Resten der fränkisch-karolingischen Welt, diese wiederum fußend auf den verchristlichten Vorstellungen einer Pax Romana, die seit der heidnischen Antike die Geschichte und Kultur rund um das Mittelländische Meer geformt hatte.

Dieses ottonisch, später salisch und staufisch regierte Reich büßte im Laufe der Zeit immer mehr von seinen hehren Idealen und deren Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung ein. Im Investiturstreit zerrieben sich weltliche und kirchliche Herrschaftsträger wechselseitig. Seit dem 13. Jahrhundert wuchs überdies das Selbstbewusstsein unter den Nachfolgern der ursprünglichen Lehnsnehmer. Und nach dem Verlust seiner europäischen Dimension seit dem 15. Jahrhundert galt das Reich nur noch „deutscher Nation“ angehörig. Die Wirren von Reformation, Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg setzten der tatsächlichen imperialen Macht der Kaiser weiter zu. Nun, 1806, hatte sich das Reich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt.

Kaiser Franz sah das Ende kommen und installierte 1804 für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der traditionellen Nachfolge der habsburgischen Erzherzöge.

Das Absterben des Alten Europa, dessen größten Gebietsanteil eben das Heilige Römische Reich deutscher Nation einnahm, begann mit der Französischen Revolution ab dem 14. Juli 1789. Damals, so sagt es ein Merksatz aus meiner Schulzeit, gab es in Deutschland ebensoviele Groß-, Klein- und Kleinststaaten wie man Jahre nach Christi Geburt zählte, also 1789: eintausendsiebenhundertneunundachtzig. Deutschland war groß und der Kaiser in Wien weit weg: so erlebte man diese zerklüftete politische Landschaft gleich einem Flickenteppich.

Jeder Landesfürst war eifersüchtig auf seine hoheitlichen Rechte bedacht. Da gab es größere Herrschaftsgebiete wie etwa Preußen, Württemberg oder Bayern, sodann unzählige Herzogtümer und Grafschaften, dazu etliche Ritterschaften und Freie Reichsstädte. Alle ihre jeweiligen Herrscher oder Senatoren pochten auf ihre Eigenständigkeit. Sie schlossen Bündnisse mit ausländischen Mächten, waren mit ihnen dynastisch verbunden – etwa Hannover mit Großbritannien oder Oldenburg mit Dänemark und Russland – und verbaten sich normalerweise jedes Hineinregieren des Kaisers.

Und es gab die geistlichen Herrschaften, regiert von zumeist römisch-katholischen Fürstbischöfen. Diese Territorien waren es, die am schmerzlichsten die Wucht der politischen Veränderungen durch die Vorgänge in Frankreich zu spüren bekamen. Revolutionstruppen hatten das Rheinland besetzt. So ging seit Ende des 18. Jahrhunderts das ganze linksrheinische Gebiet des Alten Reiches verloren. Um die deutschen Fürsten zu entschädigen, löste man im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 in Regensburg nahezu alle geistlichen Fürstentümer auf und schlug deren Gebiete weltlichen Herren zu.

Mit dieser staatskirchenrechtlich bis heute bedeutsamen Flurbereinigung verschob sich insgesamt das konfessionelle Gefüge des deutschen Ancien régime. Mit einem Male erbten protestantische Herrscher mitunter auch kurfürstliche Funktionen. Es wurde dadurch unwahrscheinlich, dass eine evangelische Mehrheit in diesem erlauchten Kreise der Kurfürsten einen römisch-katholischen habsburgischen Kaiser bestätigen würde. Auch deshalb zog sich Franz II. lieber auf sein Stammland Österreich zurück.

Mit der Gründung des Rheinbundes in der ersten Jahreshälfte 1806, faktisch dem Austritt einer klaren Mehrheit von deutschen Staaten aus dem Reich, wurde ein weiterer Schritt von Napoleons Gnaden unwiderruflich vollzogen. So erlöste der römisch-deutsche Kaiser seinerseits den lebenden Leichnam heilig-römisch-deutscher Herrlichkeit und überließ ihn seinem Schicksal, zumeist in der Faktizität französischer Besatzung.

Das Römertum ging habituell auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun im Jahre 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 und 1806, sozusagen die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach mehr als neunhundert Jahren, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können.

Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging der Kaisertitel an ein kleindeutsches Reich über, absichtlich völlig losgelöst von den Habsburgern in Wien, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss: Die k.u.k. gutkatholische Doppeldonaumonarchie streckte ebenso die Waffen wie die preußisch-protestantische Hohenzollernherrschaft.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815 sah man überall in Europa nur noch auf die jeweils eigene nationale Prägung. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls selbstherrlich, spielte nun keine große Rolle mehr. Jegliches Denken im Sinne von karolingischen und ottonischen Großzügigkeiten wurde durch die maßgeblich Mächtigen des 19. Jahrhunderts eher verdrängt denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

Es musste der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Im Blick auf die ganze Welt geschah dies ab einem weitaus schrecklicheren 6. August: dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit den „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, war folgerichtig und ist nach wie vor begrüßenswert.

Die antike und christliche Grundlage Europas ist heutzutage fast völlig in Vergessenheit geraten, mit ihm zugleich ihre Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre sie neu zu erkennen: Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), blieb im historischen Gedächtnis als zeitweiliger Erzieher von Otto III. gegenwärtig. Freilich war der bei Grundsteinlegung des Gotteshauses schon acht Jahre tot.

Gewiss: Die damaligen Umstände mitsamt der neu-alten „Rom-Idee“ des Enkels von Otto dem Großen sind mit den derzeitigen überhaupt gar nicht vergleichbar. Aber dieses Bauwerk, im schwärmerischen Nachgang christlichrömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums errichtet, hat immerhin alle Höhen und Tiefen der gemeinsamen europäischen Geschichte überstanden, ohne auch nur eine der vielen Zeitenwenden auszulassen.

Domdämmerung

… und nun zu etwas ganz anderem: Eine gesunde Mischung aus Verkaufsveranstaltung und Volksfest lässt uns an den uralten Zusammenhang von Gottesdienst und Schauspiel, von Liturgie und Drama erinnern. Bald beginnt der diesjährige „Sommerdom“. Die Eigenwerbung schreibt übrigens nicht einfach „Dom“, sondern „DOM“, so, als handle es sich um ein Kürzel, das rein zufällig ein bekanntes Wort ergibt, ähnlich wie die „PISA-Studie“, bei der man immer an die toskanische Stadt mit dem schiefen Domturm denken muss oder auch soll.

Nun, der Begriff „Hamburger Dom“ geht tatsächlich auf ein kirchliches Bauwerk zurück. Er hat vielleicht sogar das Zeug zum Paradigma, wie Aufklärung und Barbarei, Abbruch und Neubeginn, Wegräumen der Finsternis und Hoffnung auf Licht in eigenartiger Weise zusammengehen können. Geistliche Stellvertretung und weltliche Schaustellerei, Kirche und Konsum, sakrale Schranken und säkulare Schrankverkäufe haben hier nämlich in jahrhundertelanger Entwicklung letztlich ein gentleman agreement hervorgebracht, dem bei aller denkmalschützerisch immer wieder geäußerten Fragwürdigkeit doch eine konsequente Logik innewohnt.

Gehen wir, zur Abwechslung von Corona, Inflation, Krieg und den Großtaten einer „letzten Generation“ einmal spurensicher, zunächst aus der Perspektive der Aussichtsplattform des Nikolaikirchturms in Richtung Rathaus auf jenen unterirdischen blinden Fleck zu, der die Hamburger Stadtsilhouette im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts so werden ließ, wie sie sich bis heute präsentiert:

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Von den luftigen Höhen steigen wir hinab und landen in löwenzahnumrankten Tiefen:

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Hier befinden wir uns an archäologischer Stätte. Das Ausgegrabene wurde für die Nachwelt erhalten. Es kann nun bestaunt werden von denen, die hektisch vorbeizugehen im Begriff sind. Durchreisenden muss ja etwas geboten werden, sonst erzählen sie zu Hause nur von Jungfernstieg, Landungsbrücken, Reeperbahn, Michel und „König der Löwen“. Weil aber fragmentarisch Altes ganz allgemein nicht aus sich selbst heraus den vielen Schaulustigen seinen vormaligen Zweck erschließt, ist eine Erklärtafel vorhanden. Wer sich also für die freigelegten Überreste früheren gottesdienstlichen Lebens interessiert, kann alles Wissenswerte darüber auf einer wetterfesten Metallstellwand nachlesen, hier am Speersort über Ziegeln im Klosterformat norddeutscher Backsteingotik: Die installierten „Möbel“ auf der grünen Wiese mitten in Hamburg machen es möglich.

Gotische Reliquien und Gewöhnlicher Löwenzahn: Sie befinden sich zirka zweieinhalb Meter tief von jener durchsichtigen regenabweisenden Schutzschicht entfernt auf trockenem Grund. Es ist dieses eine Fenster, das die überdimensionierte „Hotelseife“ (lakonisches Wort eines Künstlers) im Nordwesten der Anlage unterscheidet von den anderen sozusagen Seifensteinen (in freier Assoziation zu deren begrifflichem Vorbild in der Jerusalemer Grabeskirche).

Kunststoffige Kissen, nicht zum kommunalen Kuscheln, sondern zum gesitteten Sitzen bestimmt, stecken den Raum ab, der früher einmal, bis in die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, von gewölberelevanten Pfeilern und Pfosten beherrscht war. Die Postenpositionen hat man nun in einem rasenumgreifenden ZEITbegrenzten Denkmal von anno 2009 nachgeahmt. Der Blick in die Tiefe von Löwenzahn und Ziegelstein ist mit Glas eingefasst und von weißer Sitzfläche umrahmt:

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Hier sehen wir die „Hotelseife“ im ganzen. Im Hintergrund befindet sich die älteste Pfarrkirche Hamburgs, Sankt Petri. Der Gegenblick:

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eröffnet uns ein ganzes Feld von Sitzgelegenheiten, aber nur diese eine verfügt über ein Guckloch in den gotischen Untergrund. Und vielleicht kann hier die ZEIT Wunden heilen, jenes liberale Hamburger Wochenblatt mit dem Bremer Schlüssel im Zeitungskopf:

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Dass dieser Platz öffentlich zugänglich ist, wäre keiner besonderen Erwähnung wert, gäbe es nicht seit wenigen Jahren dort diese Möglichkeit, sich ausdrücklich mit dem Ursprung Hamburgs zu befassen. Nach etlichen Jahrzehnten Parkplatztristesse auf dem im Zweiten Weltkrieg durch Fliegerbomben völlig zerstörten Gelände des klassizistischen Johanneumgebäudes aus den 1830er Jahren ist dies so, als hätte man sich ein Herz gefasst, der eigenen Geschichte ins Gesicht zu blicken. Jede Sitzgelegenheit markiert ein Pfeilerfundament jener fünfschiffigen gotischen dömlichen Hallenkirche, die man Anfang des neunzehnten Jahrhunderts meinte abreißen zu müssen.

Im Blick auf die ökologische Wahrheit halten wir uns schlicht und einfach an die Tatsache, dass tief unten Gewöhnlicher Löwenzahn ganz eigenständig und von aufgeregten „Grünen“-Sprecherinnen völlig unbetreut wächst, blüht, verwelkt und sich in alle Winde verstreut, wie die Blume auf dem Felde bei Hiob, im Psalter, beim zweiten Jesaja oder im ersten Petrusbrief, vom Hamburger Jung Johannes Brahms in seinem Deutschen Requiem so einzigartig in oratorisch-romantische Töne gesetzt und notabene im Dom zu Bremen uraufgeführt.

Wer ökonomisch denkt, wird seine Freude haben an den Überlegungen im Rathaus, nachdem der ganze in Rede stehende Bezirk endlich an die Stadt Hamburg gefallen war. Was könnte man mit dem Grundstück mitten im Zentrum alles erwirtschaften, wären erst einmal die schändlich verwahrlosten Häuser und dieses gotisch-finstere Monstrum selbst abgeräumt? Die Makler der damaligen Zukunft sahen in dem Areal nichts weiter als einen möglichst rasch zu beseitigenden Makel der Vergangenheit.

Wer ökumenisch sich der Sache annimmt, lernt, dass im Jahr 1892 in Sankt Georg die erste katholische Kirche seit der Hamburger Reformation eingeweiht wurde. Sie versteht sich bis heute als Nachfolgerin des einst so unbeliebten Heiligtums und wahrt die geistliche Kontinuität einer seit dem neunten Jahrhundert bremischen Dependance: Bischof Ansgar verlegte seinen Sitz von Elbe und Alster an die Weser; den Kirchenoberen in Hamburg verblieben aber ihre Pfründen am Ort. Der heutige römisch-katholische St.-Marien-Dom, seit 1995 Kathedralkirche, ist in seinen architektonischen Außenformen ganz bewusst als Kleinausgabe des Bremer Doms errichtet.

Dass in Hamburgs St.-Petri-Kirche heutzutage evangelisch-katholisch-orthodoxe Andachten am Ansgaritag abgehalten werden, also in unmittelbarer Nachbarschaft zu den alten Steinen und deren ZEITläuften, lässt jedes irenisch und liberal gestimmte Herz höher schlagen. Und eigenartig mutet an, dass ein langer Atem den Katholiken nach tausendeinhundertfünfzig Jahren wieder einen Erzbischofssitz in Hamburg beschert hat.

Das letzte erhaltene trockenlehmziegelsteinige Fundament des einstmals großartigen Kirchengebäudes aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert ist also dem seit dem Jahre 1806 sonst restlos verlorenen Hamburger Mariendom zuzuordnen. Es gehört schon einiges an Kühnheit hinzu, seine eigene Geschichte derart rabiat zu entsorgen. Einige historische Anmerkungen zu diesem aus heutiger Sicht befremdlichen Vorgang mögen nun ausgesprochen sein:

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Bereits seit dem Jahr 845 gab es in Hamburg keinen Bischof mehr. Dennoch blieben adlige Domherren dort, die in dem ihnen zustehenden Bezirk Unabhängigkeit von jedwedem weltlichen Recht genossen. Die aufblühende Hafen- und Handelsstadt barg mithin in ihren Mauern ein exterritoriales Gebiet, das der Bürgerschaft wenig Nutzen und manchen Ärger einbrachte.

Die bremische Enklave wurde im Zuge der Reformation, wie die Stadt Hamburg, lutherisch, wobei alle Privilegien erhalten blieben. Im Westfälischen Frieden von 1648 kam der Dom – wie auch die Mutterkirche in Bremen – an Schweden; ab 1719 gehörte das Areal zum Kurfürstentum Hannover und war faktisch – wegen der herrscherlichen Personalunion mit London – seitdem der britischen Krone untertan. Die gottesdienstliche Versorgung erfolgte durch hamburgische Pastoren und Kirchenmusiker (z.B. Thomas Tallis, Johann Mattheson und Georg Philipp Telemann), aber wegen der Nichtzugehörigkeit zur Freien und Hansestadt erhielt der Dom niemals den Status einer Hauptkirche.

Für die Händler, die rund um das Gemäuer ihre Waren verkauften, war das Gotteshaus vor allem bei Regenwetter praktisch. Dann zogen sie, namentlich die Tischler, mit ihren Ständen in eine Halle, die im spätgotischen Stil nördlich Ende des Mittelalters angebaut worden war, den sogenannten „Schappendom“, von niederdeutsch „Schapp“ = „Schrank“. Ansonsten kümmerte sich die hannoversche Regierung aber so gut wie gar nicht um den Erhalt des Geländes: Kirche und umliegende Gebäude verfielen, manche Ecken mussten baupolizeilich abgesperrt werden.

Spätestens mit dem stattlichen hellen Neubau der Michaeliskirche, der 1762 eingeweiht werden konnte, sah man den gesamten Dombezirk als städtebaulichen Schandfleck an. Der Stadtrat startete 1772 eine Initiative mit dem Ziel, das Areal käuflich zu erwerben. Weil man aber eine diplomatische Auseinandersetzung mit dem Handelspartner England scheute, wurde daraus nichts. Der durch die hannoversche Regierung 1784 veranlasste Ausverkauf der bis dahin frei zugänglichen Dombibliothek mit kostbaren und einzigartigen Dokumenten zur hamburgischen Geschichte erzürnte viele kulturbeflissene Bürger und zeigte zugleich, wie sehr mit der überkommenen Domfreiheit auch insgesamt das „alte gotische Gebäude des Reiches“ am Ende war. Die dämlichen Dömlinge vor Ort passten allen aufklärerisch Gesinnten da nur zu gut ins Bild.

Als mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 die geistlichen Territorien aufgelöst wurden und infolgedessen der Dom an die Stadt Hamburg fiel, war kein Halten mehr. Bereis im Januar 1804 beschloss der Stadtrat den Abriss der „dunklen Höhle“, im Laufe des Jahres 1805 barg man die Gebeine aus den Gräbern im Kirchengebäude, um sie auf umliegenden Friedhöfen neu zu bestatten. Einen Großteil des Inventars verkaufte man, nur weniges brachte man in anderen Kirchen oder in Museen unter. Künstler wie Ludwig Tieck und Philipp Otto Runge suchten den verschwindenden Ort auf, machten Aufzeichnungen und blickten zwar romantisierend, aber keineswegs wehmütig auf die fortschreitend zur Ruine sich wandelnde Stätte.

Ende 1806, einige Monate nach dem Abschied des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aus der Weltgeschichte, war von dem gotischen Ungetüm nur noch ein Schutthaufen übrig. Auch der wurde abgetragen, und man grub sogar die Fundamente aus, einesteils der Steine wegen, andernteils, um ein für allemal vollendete Tatsachen zu schaffen und den Regensburger Beschluss von 1803 wirklich unumkehrbar zu machen.

Kirchenorganisatorisch empfand man allgemein Genugtuung. Ein Gotteshaus ohne feste Gemeinde war nun endlich weg, ein alter Zopf erfolgreich abgeschnitten. Später erging es anderen sakralen Gebäuden ähnlich: Das Johanniskloster und die Magdalenenkirche machte man in den 1820er und 1830er Jahren ebenso dem Erdboden gleich, wenn auch unter deutlich vernehmbaren Protesten. Denn nach den Befreiungskriegen begann in ganz Deutschland eine Rückbesinnung auf die eigene Geschichte; die Auffindung der originalen Baupläne zum Kölner Dom leitete eine neugotische Bewegung unter den Architekten ein. Nach dem Hamburger Stadtbrand von 1842 schleifte man die Ruine der Nikolaikirche und errichtete dort einen riesigen Kirchenneubau, gotischer, als das Vorgängergebäude (geschweige denn der verschwundene Dom) es jemals gewesen war. Mit dem Rathausturm aus den 1880er Jahren wurde dann die Anzahl der Türme im Stadtbild wieder komplettiert.

Auf einem winzigen Rest von Steinen kann man sitzen, einsam und allein den Träumen an eine große Vergangenheit nachhängend. Ruderalvegetation wie jener Gewöhnliche Löwenzahn lässt uns in je neuer Gegenwart aber auch den rudus, den „Schutt“ vor Augen führen, von dem sich die Altvorderen einst befreiten. Der alte Hamburger Dom lebt folgerichtig genau dort weiter, wo ihn die Stadtväter Ende des neunzehnten Jahrhunderts in seiner nützlichen und unterhaltsamen Version installierten: auf dem Heiligengeistfeld, in freier geschäftstüchtiger und konsumorientierter Entfaltung. Die klerikale Fassung zog um nach St. Georg, wo heutzutage die gelungene bauliche Vereinigung von Neuromanik, Wiederaufbauarchitektur nach dem Zweiten Weltkrieg und jüngsten Renovierungen beeindruckt. Oder sie zeigt sich als Mahnung an die Schrecken des Feuersturms von 1943 am heutigen Turm von St. Nikolai.

Ein Gleichnis auf die deutsche Geschichte der letzten zweihundertfünfzig Jahre? Durchaus. Und auch ein Fingerzeig auf all die Kirchengebäude, die heutzutage entwidmet werden, weil ihnen die sie einstmals füllenden Gottesdienstgemeinden abhandenkamen. Wie ist es um die christliche Prägung unserer bundesdeutschen Gesellschaft derzeit eigentlich bestellt? Dies zu fragen sine ira et studio brächte vielleicht einen Zuwachs an Erkenntnis: und sei es nur im unverwandten Blick in den Untergrund am Hamburger Speersort, hinab zum letzten verbliebenen Mauerrest, den der Löwenzahn so oder so als rudimentär dömlich ausweist.

Heiliges Reich, verloren

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist stets am Gedenktag seiner Auflösung Gegenstand dieses Weblogs. Ich wiederhole dieses Mal meinen Beitrag vom vergangenen Jahr. Es hat sich nämlich nichts verändert. Nur das Geld wird wertloser – es sei denn, man erfreut sich an seiner münzförmigen Erscheinung niedersächsischer Prägung neuester Zeit:

Der 6. August ist ein besonderer Tag, jedes Jahr. In den orthodoxen und katholischen Kirchen dieser Welt wird die Verklärung Jesu gefeiert. Auf dem Berg Tabor leuchtet sein Antlitz wie die Sonne; der auferstandene Christus blickt durch. In den Evangelien ist diese Szene ein erster Hinweis auf Passion und Ostern – darum steht ihre Lesung im liturgischen Kalender der lutherischen Kirche, in Abänderung der Tradition, am Letzten Sonntag nach Epiphanias an, also im Winter.

Mitten im Hochsommer, am heißen 6. August Anno Domini 1806, nahm das Duell zweier Kaiser eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. So erlitt ein mehr als achthundertfünfzig Jahre währender Staat sein Knocked-Out und wurde nie wieder – auch im übertragenen Sinne nicht – Gegenstand von irgendwelchen Boxkämpfen sprich grausamen Waffengängen, von denen doch die Zeit um 1800 so übervoll war.

Dieses Römische Reich, später heilig genannt und, nach Verlust der europäischen Dimension, seit dem fünfzehnten Jahrhundert nur noch deutscher Nation angehörig, hatte sich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt. Kaiser Franz hatte das Ende kommen sehen und bereits zwei Jahre zuvor für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“ installiert, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst also die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der Nachfolge der traditionellen habsburgischen Erzherzöge.

Das Römertum ging habituell eher auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun Anno Domini 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 bzw. 1806 die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach rund achteinhalb Jahrhunderten, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits im Jahre 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können. Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging die Kaiserwürde wieder nach Deutschland, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss damit.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Alle möglichen geistigen und institutionellen Anknüpfungspunkte wurden der neuen Zeit geopfert, und die war, spätestens seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815, eher national ausgerichtet. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls chauvinistisch, spielte nun keine Rolle mehr. Den dahinterstehenden Gedanken einer zumindest westeuropäisch-kontinentalen Einheit von italienisch-französisch-deutschem Gepräge sah fürderhin kein Mensch. Karolingische und ottonische Großzügigkeiten wurden im neunzehnten Jahrhundert von allen Seiten eher ausgeblendet und kämpferisch bestritten denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

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Es musste erst der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Weltweit geschah dies erst ab einem anderen 6. August, dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit der Gründung der „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, ist verständlich und nach wie vor begrüßenswert. Wie schade, dass diese Organisationen nun selbst im Klein-Klein sich längst verloren haben. Die UNO ist zu kraftlos, um Kriege zu verhindern. Und die „Europäische Union“ dieser Tage macht den Eindruck eines bürokratischen Monsters, das angesichts von „Corona“ alle Hemmungen zum Gelddrucken ablegt – geistige Gestaltungskraft ist da mitnichten am Werk …

Der verklärte Christus ist in Vergessenheit geraten, und mit ihm seine Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre eine Kraftquelle neu zu schöpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), war zeitweilig der Erzieher des späteren Kaisers Otto III. – Klar: Die Umstände der ersten christlichen Jahrtausendwende sind längst vorüber. Aber dieses Bauwerk altdeutsch-neurömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums überstand dann immerhin alle weiteren Höhen und Tiefen der Geschichte – sogar ihre Verwendung als Pferdestall und Irrenanstalt im Gefolge der durch die napoleonische Bedrängnis stattgehabten Säkularisierung. Hoffen wir, dass der Name des Erzengels Michael auch weiterhin die menschlich-gebrochenen Erinnerungen wachhält; denn, seien wir ehrlich: Wer ist schon wie Gott?

Weitere Texte zum Thema in diesem Weblog:
https://feoeccard.com/2019/08/04/hrr-2-februar-962-6-august-1806/
https://feoeccard.com/2018/08/06/vergessener-tag/
https://feoeccard.com/2016/02/09/otto-und-sein-ausgefranztes-reich/

RR hdN ko

Der 6. August ist ein besonderer Tag, jedes Jahr. In den orthodoxen und katholischen Kirchen dieser Welt wird die Verklärung Jesu gefeiert. Auf dem Berg Tabor leuchtet sein Antlitz wie die Sonne; der auferstandene Christus blickt durch. In den Evangelien ist diese Szene ein erster Hinweis auf Passion und Ostern – darum steht ihre Lesung im liturgischen Kalender der lutherischen Kirche, in Abänderung der Tradition, am Letzten Sonntag nach Epiphanias an, also im Winter.

Mitten im Hochsommer, am heißen 6. August Anno Domini 1806, nahm das Duell zweier Kaiser eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. So erlitt ein mehr als achthundertfünfzig Jahre währender Staat sein Knocked-Out und wurde nie wieder – auch im übertragenen Sinne nicht – Gegenstand von irgendwelchen Boxkämpfen sprich grausamen Waffengängen, von denen doch die Zeit um 1800 so übervoll war.

Dieses Römische Reich, später heilig genannt und, nach Verlust der europäischen Dimension, seit dem fünfzehnten Jahrhundert nur noch deutscher Nation angehörig, hatte sich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt. Kaiser Franz hatte das Ende kommen sehen und bereits zwei Jahre zuvor für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“ installiert, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst also die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der Nachfolge der traditionellen habsburgischen Erzherzöge.

Das Römertum ging habituell eher auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun Anno Domini 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 bzw. 1806 die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach rund achteinhalb Jahrhunderten, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits im Jahre 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können. Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging die Kaiserwürde wieder nach Deutschland, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss damit.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Alle möglichen geistigen und institutionellen Anknüpfungspunkte wurden der neuen Zeit geopfert, und die war, spätestens seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815, eher national ausgerichtet. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls chauvinistisch, spielte nun keine Rolle mehr. Den dahinterstehenden Gedanken einer zumindest westeuropäisch-kontinentalen Einheit von italienisch-französisch-deutschem Gepräge sah fürderhin kein Mensch. Karolingische und ottonische Großzügigkeiten wurden im neunzehnten Jahrhundert von allen Seiten eher ausgeblendet und kämpferisch bestritten denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

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Es musste erst der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Weltweit geschah dies erst ab einem anderen 6. August, dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit der Gründung der „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, ist verständlich und nach wie vor begrüßenswert. Wie schade, dass diese Organisationen nun selbst im Klein-Klein sich längst verloren haben. Die UNO ist zu kraftlos, um Kriege zu verhindern. Und die „Europäische Union“ dieser Tage macht den Eindruck eines bürokratischen Monsters, das angesichts von „Corona“ alle Hemmungen zum Gelddrucken ablegt – geistige Gestaltungskraft ist da mitnichten am Werk …

Der verklärte Christus ist in Vergessenheit geraten, und mit ihm seine Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre eine Kraftquelle neu zu schöpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), war zeitweilig der Erzieher des späteren Kaisers Otto III. – Klar: Die Umstände der ersten christlichen Jahrtausendwende sind längst vorüber. Aber dieses Bauwerk altdeutsch-neurömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums überstand dann immerhin alle weiteren Höhen und Tiefen der Geschichte – sogar ihre Verwendung als Pferdestall und Irrenanstalt im Gefolge der durch die napoleonische Bedrängnis stattgehabten Säkularisierung. Hoffen wir, dass der Name des Erzengels Michael auch weiterhin die menschlich-gebrochenen Erinnerungen wachhält; denn, seien wir ehrlich: Wer ist schon wie Gott?

RR: Römisches Reich.
hdN: heilig, deutscher Nation.
ko: knocked-out. Hoffentlich nicht. Das göttliche Humanum möge leuchten wie die Sonne.
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