Rheingold, Scheingold, Maingold

2023 hält wieder einige Fest- und Gedenkgelegenheiten bereit. Dass Grundlagen einbrechen können wie nicht mehr tragfähiges Eis, wäre uns vor fünfzig Jahren, in den ersten goldenen 1973er-Monaten, unvorstellbar erschienen.

Mit der erstmaligen Ausstrahlung der „Sesamstraße“ durch mehrere westdeutsche Fernsehanstalten zog ein unbeschwerter Optimismus auch bei den jüngsten Bundesbürgern ein. Obwohl es sich um eine TV-Serie „für Kinder im Vorschulalter“ handelte, waren auch ABC-Schützen und deren Eltern von Ernie, Bert & Co begeistert. Gern ließen wir, die wohlstandsverwöhnten Deutschen, uns generationsübergreifend auf humorvolle amerikanische Art unterhalten und ehrten das Krümelmonster insgeheim mit dem Orden vom Goldenen Keks.

1973 wurde dann nach trittsicherem Beginn aber auch zum Jahr des Ölpreisschocks. Auf den Jom-Kippur-Krieg im Oktober reagierten die arabischen Staaten mit massiven Preiserhöhungen für das Schwarze Gold, was hierzulande zu Sparappellen, Sonntagsfahrverboten und in der Folge zum Bau vieler neuer Atomkraftwerke führte. Man wollte sich befreien von einseitigen Abhängigkeiten. Die güldne Sonne und der Wind, der weht, wo er will, waren damals noch nicht im Gespräch.

Wer 2023 zurückblickt in die große weite und nur zu oft sehr ernste Weltgeschichte, kommt überhaupt an überraschend zahlreichen Daten nicht vorbei, die irgendwie mit Gold, Geld und also auch mit Macht zu tun haben. Vor 75 Jahren, im Juni 1948, wurde in den deutschen Westzonen die Währungsreform durchgeführt. Damit begann, noch bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war, die Erfolgsgeschichte der Deutschen Mark. Sie war übrigens nicht immer so „hart“, wie wir im nachhinein verklärend meinen. Gerade im Zuge der Ölkrise 1973/74 und nur kurze Zeit nach der Abkoppelung des US-Dollars vom Goldwert kam es zu einer Teuerung, die in einem Anstieg von Löhnen und Gehältern bis zu zehn Prozent gipfelte. Vor allem deswegen (die Affaire um einen DDR-Spitzel war nur Anlass, nicht Ursache) musste Bundeskanzler Willy Brandt dann im Mai 1974 abtreten und dem Finanz- und Wirtschaftsfachmann Helmut Schmidt das Amt überlassen.

Anders als heute gab es damals aber noch die „Vierte Gewalt“ in Gestalt einer Bundesbank, die wirklich gehört und geachtet wurde. Sie bewachte in Frankfurt am Main tatsächlich sozusagen das Staatsgold und wehrte alle Versuche ab, das Geld nachhaltig zu entwerten zugunsten haushalterisch flüchtigen Genusses im bloßen Hier und Jetzt. Sie verstand sich eben nicht als Staatsbank, die willfährig abgenickt hätte, was die Regierenden gerade meinten an Wohltaten ausschütten zu können. Vom Grundsatz einer von tagespolitischen Weisungen unabhängigen Notenbank ist nunmehr in Zeiten der EZB so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben.

Die Bank Deutscher Länder, die spätere Deutsche Bundesbank, war ja mit der Zielsetzung gegründet worden, eine verdeckte Geldentwertung wie im Dritten Reich sowie eine Hyperinflation wie die von 1923 ein für allemal unmöglich zu machen. 1948 war 1923 gerade einmal 25 Jahre her – nun werden es, im Herbst 2023, genau einhundert sein. Wir beobachten diesen Teil unserer deutschen Geschichte und verfolgen aufmerksam, wohin sich die europäische Geldpolitik entwickelt und gestaltet – so sie nicht abdriftet und uns in den gesellschaftlichen Untergang reißt. Lassen wir uns nicht aufs Glatteis führen!

Vor 175 Jahren war die hohe Zeit der „48er“. Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichten ihr „Kommunistisches Manifest“ im Blick auf die revolutionären Bewegungen in halb Europa. Den Forderungen nach der „Diktatur des Proletariats“ stimmten viele laut wie leise bei, unter ihnen ein Anarchist namens Richard Wagner, seines Zeichens Kapellmeister in Dresden. Sein nicht musikalisiertes Libretto „Jesus von Nazareth“ schrieb er 1848, intellektuell-werbewirksam an der Seite der Armen und Entrechteten, in einem Tonfall aber auch von Eigenrechtsanspruch und Neid. Der Streit und Kampf um den aus dem Schatz des Rheingoldes geschmiedeten Ring des Nibelungen ist da schon vorgebildet.

Was Johann Sebastian Bach mit seinem Dienstantritt in Leipzig vor nun 300 Jahren (Mai 1723) in Kantaten und namentlich Passionen von den Untiefen menschlichen Begehrens und Sehnens aus klingend-lutherischem Geist hinauf in die goldenen Hallen des Himmelreiches führte, wurde durch Wagner „geerdet“ und zu einem Menschheitsepos verarbeitet, dessen Protagonisten ihren eigenen Gesetzen folgen und im Streben nach ichbezogener Freiheit sich nur immer mehr verhaken und verheddern. Mit der Götterdämmerung hören Goldrausch und Geldgier mitnichten auf. Wer diesen Punkt erreicht hat und angesichts solcher aussichtslosen Lage beginnt, an Gott zu zweifeln, möge an Bach glauben. So jedenfalls hat es der Komponist Mauricio Kagel gehalten, der dieses goldene Wort prägte und dessen Stück sowie Film „Zwei-Mann-Orchester. Für zwei Ein-Mann-Orchester“ vor nunmehr fünfzig Jahren Aufsehen erregte.

Im Herbst 2023 werden es 375 Jahre her sein, dass in den Rathäusern von Osnabrück und Münster Verträge unterzeichnet wurden, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten. Dieser Westfälische Friede war nur deshalb nach jahrelangen Verhandlungen zustandegekommen, weil man eben, trotz allen Anfeindungen, miteinander geredet hatte. Die Gegner solcher Konferenzen, die vor jedweder Friedensordnung deswegen Angst hatten, weil sie dann ihre eigenen territorialen korrupten Willkürherrschaften drangeben müssten, hatten das Nachsehen. Insofern hat dieser Friedensschluss für 2023 womöglich einige Aktualität. Siegt Gewalt um ihrer selbst willen, ferner Gier nach Gold und Geld? Oder geht es nicht doch eher um deren Einhegung innerhalb einer Ordnung, die das verfasste Recht durchsetzt? Sollen wir auf diese eigentlich schon 375 Jahre alte bewährte Einsicht nun noch jahrzehntelang wie auf etwas ganz neu zu Erfindendes warten? Muss jede Generation erst wieder selber auf die heiße Herdplatte fassen, um zur Vernunft zu kommen?

Unter den vielen Anlässen, die in diesem Jahr gefeiert oder bedacht werden können, sei für heute nur noch die Grundsteinlegung des gotischen Kölner Doms zu nennen. Sie erfolgte 1248, also vor 775 Jahren. Geld hatte sich dort durch das Gold des Dreikönigsschreins unermesslich vermehrt. Die unablässig in die Rheinmetropole strömenden Pilgersleute brachten Reichtum und Wohlstand, so dass man aus dem Vollen schöpfen zu können meinte und sich frohgemut ans Werk machte. Nach etlichen geistigen und materiell-finanziellen Durststrecken kam das Projekt spätestens mit der Zeit der Reformation dann gänzlich zum Erliegen. Noch Heinrich Heine und Robert Schumann ließen sich von einer Bauruine inspirieren: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beziehungsweise der langsame Satz aus der „Rheinischen“ Symphonie sind gewissermaßen im Vorgriff auf das Endprodukt geschaffen. Erst im Oktober 1880 wurde die Kathedrale vollendet.

Vom mittelalterlichen quasi rheingoldfinanzierten Dom über inflationäres Scheingeld ohne Golddeckung bis zum 1948er Maingeld aus „Bankfurt“, das vielen bis heute ganz persönlich „mein Geld“ geblieben ist und erinnerungsweise wie tägliches Gold glänzt, kann also in diesem Jahr vieles bedacht und manches gar gefeiert werden – in eisfreien Zeiten wie diesen umso fester!

Das gab es tatsächlich einmal: Unbetreutes Denken!

Ein Beispiel von vor nunmehr vierzig Jahren

Waffen nach Saudiarabien? Der Bundeskanzler sprach sich dafür aus. Panzerlieferungen sollten es sein, aber die Frage kam auf, ob die nicht womöglich die Sicherheit des Staates Israel gefährden könnten. Helmut Schmidt hielt dies für unwahrscheinlich, das Königreich mochte also seiner Meinung nach das gewünschte Gerät bekommen. Das war im Jahre 1981. Eine neunte Klasse saß in einem Gymnasium irgendwo in Nordwestdeutschland über einem Deutschaufsatz. Das Interview mit dem Kanzler wurde per Kassettenrekorder eingespielt, und wir sollten uns schriftlich und zeugnisnotenrelevant dazu äußern.

Einige Tage später erhielten wir unsere umfangreich korrigierten Arbeiten vom Lehrer zurück. Der entschuldigte sich ja immer bei uns, wenn er es nicht gleich zur nächsten Deutschstunde geschafft hatte, alles durchgesehen und benotet zu haben. Er war neugierig genug, sofort nachzugucken, wer was gemeint und argumentativ begründet habe. So auch diesmal: Sein Lesepensum bot wieder Anlass zur Bewunderung – und sein Auffassungsvermögen hatte ihn nicht im Stich gelassen. Es gab zwei Einsen. Die so ausgezeichneten Jungs hatten aber mitnichten ähnliche Ansichten zu Papier gebracht. Gelinde gesagt, sie waren zu völlig unterschiedlichen Standpunkten gelangt.

Während der eine pragmatisch das Öl, den Westen an sich mit seinen arabischen Verbündeten und die Möglichkeit, dadurch auch Israel zu schützen, ins Feld der Argumentation brachte, sah der andere, bergpredigtbesoffen, allein den Vers aus Matthäus Kapitel 5 Vers 9 als den Stein der Weisen an. Ich habe danach übrigens nie wieder derart bekennend-biblisch geredet oder geschrieben. Und trotzdem: Unserem Deutschlehrer, noch im letzten Kriegsjahr als Soldat eingesetzt und sogar kurzzeitig in französische Gefangenschaft geraten, galt das starke und überzeugende Wort an sich mehr als die inhaltliche Einzelmeinung. Mein Klassenkamerad war nicht der „Nazi“, und ich war nicht der „linke Spinner“ – sondern wir wurden von diesem Lehrer als besonders sprachfähige, differenziert denkende und redlich argumentierende junge Menschen wahrgenommen.

Mein Deutschlehrer ist vor neun Jahren gestorben. Bei meinem letzten Besuch zeigte er sich ganz angetan von neuerlicher Lektüre ausgerechnet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seines Lieblingsschriftstellers Thomas Mann. Dabei hätten wir ihn immer eher mit Herrn Settembrini aus dem „Zauberberg“ vergleichen wollen. Aber sein Humanismus war eben weiter als das, was uns heutzutage als „alternativlos“ angedient wird. Auch ein Naphta (Gegenpart des weltläufigen heiteren Italieners in dem epochalen Roman) muss seine Rolle spielen dürfen, und sei es, um sich selbst zu läutern … Hans Castorp, Tonio Kröger, Hanno Buddenbrook … – sie haben eigentlich keine festgezurrte Meinung, sie sehen, gleich dem reinen Tor Parsifal, auf das Reinmenschliche …

Vor sechs Jahren dann starb völlig unerwartet im siebenundneunzigsten Lebensjahr jener Weltpolitiker, der nie gleichgeschaltete Meinungen mochte, der sich über Rechtschreibreformen und Rauchverbote hinwegsetzte, der seiner evangelischen Kirche nur noch deshalb die Treue hielt, weil sie Künstler wie Johann Sebastian Bach und Bischöfe wie Eduard Lohse hervorgebracht hatte. Helmut Schmidt starb an jenem 10. November, der zugleich der 256. Geburtstag des geschichtskundigen Dichters Friedrich Schiller war. Ich würde mich gern täuschen, wenn es nicht stimmte, dass seit sechs Jahren die Welt noch einmal kälter, gleichgültiger, ungebildeter und zugleich erregbarer geworden ist.

Wo ist die hohe Kunst des Argumentierens hin? Ich habe sie stets gern gepflegt – solange es noch formidable Mitstreiterinnen und Mitstreiter gab! – und ihre Notwendigkeit darin begründet gesehen, entgegen allen hartherzigen Eindimensionalitäten sowohl von „Rechts“ als auch von „Links“ die urwüchsig-dramatische Schillersche Gedankenfreiheit hochzuhalten. Deren guter Gebrauch schließt nämlich die Fähigkeit ein, sich jederzeit in die Position des Gegenübers einzufinden. Ohne solchen Diskurs aber bricht sich eine Regulierungswut Bahn, deren Gehabe rasch diktatorisch und zuletzt tyrannisch wird. An diesem Punkt regt sich also erstaunlich unerschütterlich mein „westliches“ Herz: in einer bundesdeutsch-grundgesetzlich geprägten Vorstellung von Meinungsfreiheit, die ich mir unbedingt erhalten wissen will für unsere in dieser Hinsicht durchaus gefährdete Gesellschaft.

Dies bin ich nicht dem heutigen saudiarabischen König schuldig (denn der fragt nicht danach), auch nicht anderen Herrschern nah und fern, deren Weisheit derzeit zu wünschen übriglässt – aber durchaus meinem verehrten Deutschlehrer, der weder für noch gegen Schmidts Panzerlieferungen agitierte, sondern vielmehr unserer schönen deutschen Sprache das gelehrte und wunderbar überlegene Wort redete.

Siebziger, notdürftig gereimt

Bluna, Tritop, Afri-Cola,

Prilblumen und Klementine,

Dalli-Dalli, Ilja Richter,

ganz mechanisch: Schreibmaschine.

Schlussverkäufe, Baader-Meinhof,

Breschnew und Honecker,

Willy Brandt und Willi Stoph,

Negerküsse waren lecker.

Jusos, Judos, Schmidt und Strauß,

F.A.Z. nebst Stern und Spiegel …

Plötzlich ging das Erdöl aus.

Da half weder Brief noch Siegel.

Als ich in die Schule kam,

war Olympia in München,

und die Zeit verging noch langsam:

Nichts ließ sich da übertünchen.

Siebziger, wart ihr nun besser

als unsre altgewordne Zeit?

Ihr warbt um Raucher, Trinker, Fresser

und reklamiertet so die Freiheit.

Auf ewig Fortschritt und Konsum!

Man baute fleißig Autobahnen.

Je mehr das Geld floss, blieb man stumm

und nahm gern Mohn von den Afghanen.

Es waren ausgelassne Jahre

mit Tagesschau und Sesamstraße.

Der Teppich hieß: „Auslegeware“

im kleinen wie im großen Maße.

Ob giftgrün, hellbraun, himmelblau:

Ästhetik fand einfach nicht statt.

Bis ultimo lief diese Show.

Kein Mensch war je scheinblütensatt.

„Bleibt gesund und lebhaft“

… schreibt ein Künstler zum Eintreffen eines neuen Jahres kalenderhalber weltlicher Natur, wohl überblickend alles mit allem zusammenhangsreich, durchdrungen von dem, was in der hohen Politik niemand für möglich hält, insonderheit eingedenk jenes schlechten Verlierers im Weißen Haus zu Washington D.C., einst friedensnobelpreisgeschmückt  siegessäulensicher zu den Göttern erhoben, nun aber seiner früheren Feindin endgültig entledigt, die freundschaftlich tat und doch es nicht vermochte, allgemein zu punkten und zu stechen; weswegen wir künftig hillarylos und unbarack donaldisieren, wie einst die Kremlastrologen den winkenden lebenden Leichnamen oberhalb des Leninmausoleums auf der Mauer am Roten Platz dritten Roms Lebensodem einhauchen mussten, um dem Gerangel dahinter weniger Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, als es selber sich gewünscht hätte (es: das Gerangel, eher Geschubse oder vielleicht auch Gekämpfe um machtvolle Nachfolge) – obgleich die Bildzeitung so gern mit den jeweiligen Toten gesprochen hätte respektive einem Interview mit dem zuvor den rechtmäßigen Lenker eliminierthabenden Lastwagenfahrer vom Breitscheidplatz nicht abgeneigt gewesen wäre; allein der hat dummerweise seinen Ausweis unterm Sitz vergessen, auf dem er allahuakbar dem weihnachtlichen Treiben vor der KW-Gedächtniskirche am Kudamm ein tödliches grausames Ende setzte, anschlagsfreudig, wie es nur ein böser Wahhabit sein kann, unerkannt jedoch vom Deutschen Bundestag, der zwar wortreiche Gedenkminuten und sogar Schweigemärsche für ferne Terroropfer in Frankreich seinerzeit goutierte, aber jetzt damit glänzt, dass Weihnachtspause ist und alles Friedefreudeeierkuchen –  als ob man so durchkommen könnte, ohne Bundeskanzler Schmidt

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im Rücken und als Vorbild, dessen Ansprachen anno 1977, bis heute unvergessen, wiederhervorgeholt und als Trost und Ermutigung und Brennglas des „tiefen Zorns über die Brutalität“ rezitiert und gern gehört werden, von allen Menschen in Deutschland, selbst von solchen, die keine dreißig Jahre alt sind und die Schleyerentführung

Deutscher Herbst: Helmut Schmidt – Rede an die Nation (check: http://www.notrends.de) – YouTube

aus eigener Tagesschauanschauung nicht kennen können – dennoch motiviert, da nachzuhaken und den heutigen offiziell sein wollenden Figuren einer behaupteten „Verantwortung“ berechtigterweise die lange Nase zu zeigen: „Es ist eine Lust zu leben“, so humanistisch lebt es sich angesichts solch blöder statements wie man müsse mit dem Terror leben und so … – ohne zu erkennen, dass die Daeschleute die Nazis unserer Tage sind, dass der IS der wirkliche Faschismus ist; ungefragt sei klargestellt, dass nicht die einzelnen gläubigen Muslime unsere Feinde sind – und ich bin ausdrücklich gegen solche Leute, die wollen, dass der Islam insgesamt von unserem Erdball verschwinde – (das wäre ja wiederum eine Drittreichwahnvorstellung mit vergleichbar einschlägiger Propaganda wie damals gegen „die Juden“), sondern vielmehr diese salafistisch infiltrierten Islamisten, deren rückständiges Weltbild nur dann zu belächeln und finanziell zu fördern wäre, wenn die nicht im Gegenzug keine geringere Diktatur errichten wollten denn eine ohne Juden, Schwule, Christen, selbstbewusste Frauen &cetera – toll, wenn weder Politik noch Kirchen noch Wirtschaftsvertreter diese Nazis unserer Tage als solche durchschauen … überdies vergessend liberale Gedanken, realpolitisches Kalkül, geldsichere Maßnahmen; Europa geht vor die Hunde angesichts dieser völkerwanderungsgleichen Historie, aber diesmal ohne Restfestungen wie Ravenna oder Venezia, ohne irgendein kaisergleiches Selbstbewusstsein christlichmosaikischen Ursprungs, eher völlig rechtschreibungsfern und verteidigungsunfähig (Hochkultur war doch mal Schrift und Krieg, oder?), dafür aber übermotiviert in Windgerädertsein und Genderisierung – wobei alles mit allem natürlich gar nichts zu tun hat; jedoch kommt kein kulturgeschichtlich geschulter zweiter Mehmet, der eine christliche Mutter hatte und also die Vollmacht sein eigen nannte, die Kirchen Konstantinopels vor Zerstörungen durch den rasenden Mob zu bewahren – so einer kommt nie wieder und ward seit anno 1453 auch nicht mehr neuerlich gesehen … – in diesem Sinne ein gesundes und lebhaftes Jahr des Herrn MMXVII, Punkt.

Abbildung: Raymon Müller: Helmut Schmidt (Dezember 2016)

Normaljahr 1981

Waffen nach Saudiarabien? Der Bundeskanzler sprach sich dafür aus. Panzerlieferungen sollten es sein, aber die Frage kam auf, ob die nicht womöglich die Sicherheit des Staates Israel gefährden könnten. Helmut Schmidt hielt dies für unwahrscheinlich, das Königreich mochte also seiner Meinung nach das gewünschte Gerät bekommen. Das war im Jahre 1981. Eine neunte Klasse saß in einem Gymnasium irgendwo in Nordwestdeutschland über einem Deutschaufsatz. Das Interview mit dem Kanzler wurde per Kassettenrekorder eingespielt, und wir sollten uns schriftlich und zeugnisnotenrelevant dazu äußern.

Einige Tage später erhielten wir unsere umfangreich korrigierten Arbeiten vom Lehrer zurück. Der entschuldigte sich ja immer, wenn er es nicht gleich zur nächsten Deutschstunde geschafft hatte, alles durchgesehen und benotet zu haben. Er war neugierig genug, sofort nachzugucken, wer was gemeint und argumentativ begründet habe. So auch diesmal: Sein Lesepensum bot wieder Anlass zur Bewunderung – und sein Auffassungsvermögen hatte ihn nicht im Stich gelassen. Es gab zwei Einsen. Die so ausgezeichneten Jungs hatten aber mitnichten ähnliche Ansichten zu Papier gebracht. Gelinde gesagt, sie waren zu völlig unterschiedlichen Standpunkten gelangt.

Während der eine pragmatisch das Öl, den Westen an sich mit seinen arabischen Verbündeten und die Möglichkeit, dadurch auch Israel zu schützen, ins Feld der Argumentation brachte, sah der andere, bergpredigtbesoffen, allein den Vers aus Matthäus Kapitel 5 Vers 9 als den Stein der Weisen an. Ich habe danach übrigens nie wieder derart bekennend-biblisch geredet oder geschrieben. Und trotzdem: Unserem Deutschlehrer, noch im letzten Kriegsjahr als Soldat eingesetzt und sogar kurzzeitig in französische Gefangenschaft geraten, galt das starke und überzeugende Wort an sich mehr als die inhaltliche Einzelmeinung. Mein Klassenkamerad war nicht der „Nazi“, und ich war nicht der „linke Spinner“ – sondern wir wurden von diesem Lehrer als besonders sprachfähige, differenziert denkende und redlich argumentierende junge Menschen wahrgenommen.

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Mein Deutschlehrer ist vor einigen Jahren gestorben. Bei meinem letzten Besuch zeigte er sich ganz angetan von neuerlicher Lektüre ausgerechnet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seines Lieblingsschriftstellers Thomas Mann. Dabei hätten wir ihn immer eher mit Herrn Settembrini aus dem „Zauberberg“ vergleichen wollen. Aber sein Humanismus war eben weiter als das, was uns heutzutage als „alternativlos“ angedient wird. Auch ein Naphta (Gegenpart des weltläufigen heiteren Italieners in dem epochalen Roman) muss seine Rolle spielen dürfen, und sei es, um sich selbst zu läutern … Hans Castorp, Tonio Kröger, Hanno Buddenbrook … – sie haben eigentlich keine festgezurrte Meinung, sie sehen, gleich dem reinen Tor Parsifal, auf das Reinmenschliche …

An einem 10. November, Geburtstag von Martin Luther (1483) und Friedrich Schiller (1759), Todestag von Mustafa Kemal Pascha (1938), starb 2015 völlig unerwartet im siebenundneunzigsten Lebensjahr jener Weltpolitiker, der nie gleichgeschaltete Meinungen mochte, der sich über Rechtschreibreformen und Rauchverbote hinwegsetzte, der seiner evangelischen Kirche nur noch deshalb die Treue hielt, weil sie Künstler wie Johann Sebastian Bach und Bischöfe wie Eduard Lohse hervorgebracht hatte. Ich würde mich gern täuschen, wenn es nicht stimmte, dass seitdem die Welt noch einmal kälter, gleichgültiger und zugleich diktatorischer geworden ist.

Aus völlig anderen Gründen als damals, 1981, bin ich zwar der Ansicht, dass die neureichen grausamen Hüter „heiliger Stätten“ weiterhin keine Waffen von uns bekommen dürfen – aber ich setze mich nach wie vor dafür ein, dass auch andere Meinungen geäußert werden können: und nicht aufgrund „politisch korrekter“ Erwägungen gelöscht werden. Die gegenwärtige Erfahrung zeigt aber sowieso ein anderes Bild: Islamismus wird, warum auch immer, geduldet – und dessen Gegner werden mundtot gemacht. Da regt sich das unerschütterlich „westliche“ Herz: Meine bundesdeutsch geprägte Vorstellung von Gedankenfreiheit lasse ich mir nicht rauben.

Das bin ich nicht dem unweisen König Salman schuldig (denn der fragt nicht danach) – aber durchaus meinem lieben Deutschlehrer, der weder für noch gegen Schmidts Panzerlieferungen agitierte, sondern vielmehr unserer schönen deutschen Sprache das gelehrte und wunderbar überlegene Wort redete.

Abbildung: Matthäus 5, 9 aus einer der Lutherbibeln, die ich in den achtziger Jahren benutzte: Hier in der revidierten Fassung von 1892, gedruckt 1906.