Märzgefallen

Gefallen im März 2020. Die Trauerweide in meinem Garten hat mir einmal mehr den Fall höchster Freude beschert. An ihren in die Tiefe fallenden Zweigen sprosst, wie jedes Jahr im Frühling, zartes junges helles Grün. Das ist in diesem Fall die gute Nachricht. Und nun die in Corona-Zeiten keineswegs zufällig schlechte: Da kommen sehr viele Fallzahlen auf uns zu. Nicht, wie es euch – und uns – gefällt, ist der Fall; sondern was uns fällt, wird dieser Welt zum Fall.

Gefallene Helden um die Iden des März: Caesar fiel am Fünfzehnten des Monats, vierundvierzig Jahre vor Christi Geburt und deren Versöhnung des adamitischen Sündenfalls. Beethoven starb am 26. März 1827 im Gefallen an dem schönen Wort Plaudite amici – comoedia finita est – „Freut euch, Freunde – das Lustspiel ist beendet“. Und am 22. März 1832 gefiel sich der liebe Gott auf jeden Fall an der letzten Sentenz des sterbenden Goethe von wegen „mehr Licht“.

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Die Märzgefallenen des Jahres 1848 post Christum natum sind dann namengebend geworden für die massenhaften Vorfälle in Wien am 13. März und in Berlin am 18. März, die längst fälligen Demonstrationen auf den Barrikaden – für die bürgerliche Freiheit. Vor allem waren es Handwerker, aber auch Intellektuelle und Künstler, die für den Fall von Pressezensur und allen sonstigen Eingriffen in die persönliche Freiheit sich stark machten. Österreichs Kanzler Metternich fiel und floh, Preußens Königspaar entfiel beim Trauerzug für die Gefallenen auf fordernden Zuruf des Volkes immerhin die Kopfbedeckung – für einen kleinen Augenblick jedenfalls.

Blutig und finster wurde es am 22. März 1945 (Goethes 113. Todestag), als angloamerikanische Bomben auf die uralte Stadt Hildesheim fielen. Tausendjährige Kirchenbauten und mittelalterliche Fachwerkhäuser wurden in unsinniger Zerstörungswut ein für allemal zu Fall gebracht. Damit fiel dort die kleinteilige kirchlich-adlig-bürgerlich-europäische Lebensleistung von Jahrhunderten gleichnishaft etlichen Fallstricken zum Opfer.

In jüngerer Geschichte fallen drei märzliche Wenden auf geschichtliches Interesse: Zum ersten die „geistig-moralische“ Wende vom 6. März 1983, sehr zum Missfallen meiner Generation. Zum zweiten die deutsch-deutsche Wende, die mit dem 18. März 1990 und somit auf den Jahrestag der Berliner Märzgefallenen fällt, die erste und letzte Wahl zur Volkskammer der DDR – bevor dieser Staat dann zusammenfiel und der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 beitrat. Zum dritten gibt es jetzt eine Corona-Wende, deren Fallzahlen wir abwarten müssen und deren Ende wir mit Beifall bedenken werden.

Die Spaßgesellschaft mit ihren „Gefällt mir“-Klicks hat wenig Substanz, wenn wir die rhetorisch eindrückliche Fallstudie des französischen Staatspräsidenten im Herzen bewegen und mit ihm im Chor einfallen, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Fällig wären dann nämlich die an dem Virus Gestorbenen: für ein Denkmal der Gefallenen. Ein Fall von Helden im Jubiläumsjahr von Hegel, Hölderlin und Beethoven. Für alle drei Genannten fällt der Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Male an.

Mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 (Märzgefallene in Berlin 1848; DDR-Volkskammerwahl 1990) hat unsere Bundeskanzlerin womöglich unauffällig ihren Gefallen bekundet an historisch bedeutsamen Fällen, Einfällen, Ausfällen. Mir fällt dazu jedoch nichts weiter ein. Unsere Wirtschaftsordnung und das Geldsystem werden voraussichtlich ins Bodenlose fallen. Dass die Regierungschefin in ihrer Rede die Relevanz des Ausfalls von Gottesdiensten und generell kirchlichen Lebens so überhaupt nicht erwähnte, sollte übrigens auch einmal auffallen. Noch nicht einmal Gottes Segen (wie sonst in vielen Neujahrsansprachen) fiel ihr ein zu wünschen. Fallweises schreckliches Fazit: Dem christlichen Abendland geht es innerhalb unserer bisher so wenig anfälligen grundgesetzlichen Ordnung an den Kragen. Aber wem fällt das in dieser ungewissen Zeit groß auf?

Im Blick auf die bewährte föderale, republikanische, demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung wird vieles fallen und neu werden: Meine Trauerweide fällt in leuchtendes unparteiisches Grün. In diesen unsicheren Zeiten ist das ein tröstlicher Zufall. Aber Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht. Dem Märzfall des Diktators Caesar sehen wir nach wie vor zwiespältig ins Auge. Die Märzgefallenen von 1848 verdienen unser herzliches Gedenken. Dem Märzgefallen anno 2020 gilt unsere Aufmerksamkeit.

Foto: Meine Trauerweide in fallenden Zweigen und freundlichem Grün.

Musik der Freiheit

Beethoven – weitaus mehr als nur der Name eines der ganz großen Komponisten inmitten einer stattlichen Anzahl anderer Musiker, die der Tonkunst unseres christlichen Abendlandes ihre Prägung verliehen haben! Beethoven steht für ein Lebensgefühl, das sich an schöpferischer Freiheit von nichts und niemandem überbieten lässt. Darin hat er, vor bald zweihundertfünfzig Jahren, am 16. Dezember 1770 in Bonn am Rhein geboren, in seiner Person „Ludwig van“ sowie in seinem Werk vielen anderen aus seiner Zunft etliches voraus. Und darin ist er all jenen, die ein kreatives Freiheitsverständnis verfechten, zu einem eindrücklichen Vorbild geworden.

Ludwig van Beethoven (1770-1827) gehört einer Generation an, die überall auf eigene Faust neue Welten ausmachen, entdecken, erobern muss. Einige Beispiele: Wilhelm von Humboldt (1767-1835), zusammen mit seinem Bruder Alexander Namensgeber eines bis heute wirksamen Bildungsideals, versucht, hinter den vielen Sprachen der Menschheit die eine Ursprache zu entdecken. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) betont die Bedeutung der Religion für das gesamte Menschsein als „Ahnung des Unendlichen“. Napoleon Bonaparte (1769-1821) zertrümmert die alte europäische Ordnung durch militärische Gewalt im Nachgang und Ausfluss der Französischen Revolution und bringt so deren Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu Weltgeltung. Alexander von Humboldt (1769-1859) reist als Naturforscher in französischen Diensten durch Mittel- und Südamerika und wird als Vorbild einer quasi international gewordenen Wissenschaft geehrt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) kreiert mit seiner dialektischen Philosophie des Weltgeistes ein in sich geschlossenes universales Denksystem. Friedrich Hölderlin (1770-1843) entwickelt in seinen Gedichten einen in sich schlüssigen, hermetischen sprachlichen Kosmos. Friedrich von Hardenberg (1772-1801), bekannt unter seinem Künstlernamen „Novalis“, redet einer mystisch-religiösen Weltschau das Wort.

Im Überblick dieser exemplarisch angeführten Persönlichkeiten zeigt sich ein Zug ins Große und Ganze. Man verabschiedet sich zumindest innerlich sowohl vom traditionellen Kirchenglauben beiderlei Konfession als auch vom Vertrauen in die Institutionen des Ancien Régime. Alles Schöpferische und alles Zerstörerische muss aus sich selbst heraus erwachsen. Die Kunst wird, gleich der Wissenschaft und Politik, in dem Sinne autonom, als sie sich ihre Grundlagen in der jeweils befähigten Einzelperson selbst zu bilden hat. In ihren bedeutendsten Exponenten, zu denen der geborene kurkölnische Bürger und getaufte Katholik Beethoven zweifellos zählt, haben wir es mit subjektiv-voraussetzungslos urtümlicher Phantasie bei gleichzeitig objektiv-meisterhaft traditionsgeschulter Kunstfertigkeit zu tun. Alles zielt auf das Menschsein an sich, in weltbürgerlich-aufklärerischer Absicht oder in individuell-romantischem Anspruch.

Beethoven, der jugendliche Organist und Bratschist am in Bonn ansässigen Hof des kurkölnischen Fürstbischofs, wächst in der geistigen Welt des aufgeklärten Absolutismus auf. Er nutzt die dort gewährte Freiheit, sich einem revolutionär gesinnten Lesezirkel anzuschließen. Zugleich ermöglicht man dem Wunderkind, in allen Bereichen der Musik sich weiterzubilden. „Empfindsamkeit“ und „Mannheimer Schule“ sowie deren „Rakete“ prägen die entsprechende Ausbildung. Christian Gottlob Neefe (1748-1798) unterrichtet seinen begabten Schüler im „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Als Joseph Haydn (1732-1809) von seiner ersten Englandreise zurückkehrt und in Bonn Station macht, stellt man ihm den Einundzwanzigjährigen vor. Aus dieser Begegnung ergibt sich die staatliche Bewilligung eines Stipendiums für die Musikmetropole Wien. So zieht Beethoven im Jahre 1792 auf Geheiß seines Landesherrn Maximilian Franz – eines Bruders der Kaiser Joseph II. und Leopold II. sowie der französischen Königin Marie Antoinette (allesamt Kinder des römisch-deutschen Kaisers Franz I. und seiner Gemahlin, der österreichischen Erzherzogin Maria Theresia) – in die kaiserlich-erzherzogliche Residenz an der Donau. Im „Reisesegen“ schreibt Graf Waldstein, Mitglied der Bonner Lesegesellschaft und später Widmungsträger der Klaviersonate C-Dur Opus 53 (1804), Beethoven werde, so er fleißig arbeite, „Mozarts Geist aus Haydns Händen“ erhalten.

Bereits 1787 ist Beethoven kurz in Wien gewesen, um bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Stunden zu nehmen. Nun, fünf Jahre später, sind Haydn, der Kontrapunktdozent Johann Georg Albrechtsberger (1736-1809) sowie der Chef der italienischen Oper, Antonio Salieri (1750-1825) seine wichtigsten Lehrer. Beethovens erhaltene Übungen im „strengen Satz“ zeigen den Hintergrund für das, was der Student etwa ab seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in erstaunlich phantasievoller Eigenproduktion mit genauer Kenntnis der Tradition in unbändigem Freiheitsdrang durchzuarbeiten und so zu überwinden trachtet. Dabei steht er seit 1794 mittellos da, weil die französischen Revolutionstruppen sich um den aufklärerischen Geist in der Bonner Residenz nicht geschert und das kurkölnische Territorium kurzerhand erobert haben. Die staatliche pekuniäre Unterstützung aus der Heimat bricht dem Dreiundzwanzigjährigen also weg.

Beethoven wird in Wien zunächst und vor allem als ausgezeichneter Pianist bekannt und entsprechend gefeiert. In Konzertveranstaltungen spielt er auf dem Klavier eigene Werke sowie seine weithin bewunderten ad-hoc-Fantasien, die ihm unter den Zuhörern den Titel eines „zweiten Mozart“ bescheren. Beethoven formuliert bereits in seinen ersten drei Wiener Klaviersonaten Opus 2 (komponiert im Jahre 1795) einen intellektuellen Anspruch, den er in den folgenden Werken immer weiter und entschiedener ausbaut, so in der „Pathétique“ Opus 13 (1799), in der „Mondscheinsonate“ Opus 27 Nr. 2 (1800) oder in der „Appassionata“ Opus 57 (1805). In all diesen Werken führt Beethoven die Gattung der Klaviersonate in vollkommener Kenntnis und Anwendung der Tradition endgültig aus dem Genre gehobener Unterhaltungsmusik hinaus in eine von ihren meisterhaften Vorgängern Johann Christian Bach (1735-1782), Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart nie für möglich gehaltene freiheitsbetonte Bekenntnismusik einer völlig unabhängigen Künstlerseele.

Wie wenig Beethoven dabei auf äußere Etikette achtet, zeigt sein distanziertes Verhältnis zu seinem einstigen Lehrer: Überliefert ist ein – übrigens beide Seiten verstörender – kurzer Wortwechsel im Jahre 1801, als Beethovens „Geschöpfe des Prometheus“ Opus 43 uraufgeführt werden und Haydn gegenüber dem Schöpfer dieser Ballettmusik meint, sie mit seiner eigenen „Schöpfung“ vergleichen zu sollen. Und schon fünf Jahre zuvor ist es zu einer Verstimmung beim fast vier Jahrzehnte Älteren gekommen, weil, statt in tiefer Dankbarkeit und Demut dem erhabenen väterlichen Freund und umsichtigen Lehrer seine drei Sonaten Opus 2 zu dedizieren, Beethoven lapidar formuliert hat: „Joseph Haydn gewidmet“.

Ein bedeutendes Zeugnis für Beethovens stetige eigenständige Weiterentwicklung musikalischer Sprache ist auf dem Gebiet der Orchestermusik die Dritte Symphonie in Es-Dur Opus 55 (1804), die sogenannte „Eroica“. Sie markiert, biographisch gesehen, das Ende von Hoffnungen, in Paris eine Stellung im dortigen Musikleben anzutreten. Zusagen auf lebenslange Renten durch österreichische Mäzene aus dem Hochadel lassen den überzeugten Republikaner Beethoven die Widmung seines Werkes an Napoleon leichter auslöschen, nachdem der sich zum Kaiser hat ausrufen lassen. In der „Dritten“ beschreitet der Komponist völlig neue Bahnen, indem er die thematische und motivische Arbeit in einen stark vergrößerten Klangraum stellt und so die Gesamtdimensionen der sinfonischen Form beträchtlich erweitert. Fortan regieren das musikalische Geschehen markante Melodien oder prägnante Signale, während schmückendes Beiwerk entweder zurückweicht oder dem jeweiligen Grundgedanken eines Werkes untergeordnet wird. Besonders radikal hat Beethoven dies im ersten Satz seiner Fünften Symphonie c-Moll Opus 67 (1808), von der Nachwelt „Schicksalssinfonie“ betitelt, durchgeführt. In der zeitgleich entstandenen Sechsten Symphonie F-Dur Opus 68, der sogenannten „Pastorale“, lässt sich Beethoven, bei mitunter ähnlicher Motivik, von der von ihm so geliebten Natur leiten, weswegen die strenge musikalische Faktur auch dieses Werkes beim Hören weniger auffällt.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts komponiert Beethoven neben Sinfonien und Sonaten auch reichlich für sämtliche Sparten des musikalischen Lebens, insbesondere Streichquartette und andere Kammermusik mit unterschiedlicher Besetzung, Lieder (unter anderem auf Psalmnachdichtungen des lutherischen Dichters Gellert, z.B. „Die Himmel rühmen“), Konzerte (besonders die für Klavier und Orchester) und Chorwerke. 1803 wird sein Oratorium „Christus am Ölberge“ Opus 85 uraufgeführt, eine Passionsmusik mit der Fokussierung auf die ins allgemein Menschliche gewendete Szene im Garten Gethsemane. Schwer tut Beethoven sich mit seiner Oper „Leonore“ (1805), die erst nach gründlichen Umarbeitungen und unter dem Namen „Fidelio“ Opus 72 (1806/14) das Thema der Befreiung aus dunklem Kerker zur existienziellen Grunderfahrung der Zeitepoche erhebt. Unter den Bühnenmusiken sind die Ouvertüren zu Goethes Schauspiel „Egmont“ und die zur Shakespeare-Adaption „Coriolan“ bis heute bekannt geblieben. Letztere führt die motivische Arbeit bis zur völligen Auflösung durch. Gleichfalls im Jahre 1807 erscheint die C-Dur-Messe Opus 86, eine Vorstufe zur großangelegten und jeden liturgischen Rahmen sprengenden Missa Solemnis (1819/23).

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Bemerkenswert sind Werke, die gattungsübergreifendes Potenzial in sich tragen: Die Chorfantasie c-Moll Opus 80 (1808) beginnt als Klavierkonzert und endet in einem Chorsatz, der motivisch-melodisch schon auf das Finale der Neunten Symphonie vorausweist. Das Violinkonzert D-Dur Opus 61 arbeitet Beethoven später zu einem Klavierkonzert um. Die frühe Klaviersonate E-Dur Opus 14 Nr. 1 (1799) ist vom Komponisten selbst transkribiert worden in ein Streichquartett F-Dur. Andersherum nehmen viele Sätze in den insgesamt 32 Klaviersonaten Klangstrukturen auf, die den Kirchenmusiker an vierstimmige Choräle erinnern mögen, bei Beethoven aber von der Beschäftigung mit Gattungsmerkmalen des Streichquartetts herrühren.

Ein durch mehrere Gattungen wanderndes Thema ist als Grundlage der sogenannten „Prometheus-Variationen“ Opus 35 berühmt: Es existiert als Klavierwerk, als besagte Ballettmusik und als Sinfoniesatz am Schluss der „Eroica“. Beethoven verändert die sich über einem Bass Stück um Stück heranbildende Musik von Mal zu Mal. So legt er in jedem Fall einen Schaffensprozess offen, gewissermaßen die Modellierungen des Schöpfers an seinen Geschöpfen, in gestalterischer Freiheit doch stets auf den Ursprung bezogen und zugleich die spielerische Freude betonend. Hier ist immer auch mit humorvollen Wendungen zu rechnen. Insgesamt nehmen Variationen übrigens einen Großteil in Beethovens Werk ein. Seine erste gedruckte Komposition ist eine Klaviervariationenfolge über einen populären Marsch (1783). Sein letztes großes Klavierwerk sind die „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli“ (1823).

Je mehr sich ein schon seit 1796 bemerkbares Gehörleiden verschärft, desto stärker wird bei Beethoven die geistige Durchdringung sämtlichen musikalischen Ausdrucks. Kann er wegen seiner Schwerhörigkeit immer seltener öffentlich auftreten und fühlt er sich gesellschaftlich mehr und mehr ins Abseits gedrängt (Heiligenstädter Testament; Brief an die „unsterbliche Geliebte“), so arbeitet er konsequent an seinem Ruf als erstklassiger Komponist. Den Durchbruch erlangt er damit allerdings nicht; erst im Jahre 1813 vermag er mit dem Auftragswerk einer lärmigen Schlachtensymphonie namens „Wellingtons Sieg“ seine Bekanntheit über die adligen musikinteressierten Kreise hinaus in eine allgemeine Popularität auszuweiten. Auch die Gelegenheitskantate „Der glorreiche Augenblick“ zum Wiener Kongress 1814 gereicht Beethoven zu einem steigenden internationalen Ruhm – angesichts der auf Einladung des österreichischen Kanzlers Metternich in der Donaumetropole sich versammelnden gekrönten und ungekrönten Staats- und Regierungschefs, die eine neue nachnapoleonische europäische Ordnung auszuhandeln sich anschicken.

Ein Jahr zuvor, 1813, ist die Siebte Symphonie A-Dur Opus 92 uraufgeführt worden, später von Richard Wagner (1813-1883) als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet. In ihren Ecksätzen blitzt und brodelt es, man könnte eher von einem Tanz auf dem Vulkan sprechen. Der Wille zur grenzenlosen Freiheit ist angestimmt, doch diese selbst scheint zu taumeln und zu straucheln. So hat Beethoven das Scheitern der revolutionären Freiheitsideale seiner eigenen Jugend eindrücklich auskomponiert. Der Allegretto-Satz der „Siebten“ ist als Trauermarsch in Variationen ebenso berühmt geworden wie der langsame Satz aus der „Eroica“ und der dritte Satz aus der Klaviersonate As-Dur Opus 26. Letzteren hat Beethoven, ebenfalls in der Kongresszeit 1814/15, anlässlich einer Schauspielmusik zum Gedenken an eine in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gefallene preußische Soldatin (!) für Streicher und Bläser instrumentiert.

Beethoven sucht zu den herrschenden Gesellschaftsschichten immer ein angemessenes Verhältnis einzunehmen. Seine Klavierstunden öffnen ihm die Türen. Viele seiner Schülerinnen und Schüler entstammen dem österreichischen Hochadel. Mit den musikalisch und insbesondere pianistisch versierten Erzherzögen Johann und Rudolph pflegt er fachlich-freundschaftlichen Umgang und hat dadurch direkten Zugang zu den habsburgischen Regenten in der Wiener Hofburg. In den Klaviersonaten d-Moll Opus 31 Nr. 2 („Sturm“, 1802) und Es-Dur Opus 81a („Les Adieux“, 1810) klingt von diesen persönlichen Beziehungen etwas nach. Vor diesem Hintergrund ist das Ereignis beim Spaziergang Beethovens mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) im Jahre 1812 im böhmischen Kurbad Teplitz weniger dramatisch zu sehen als gemeinhin vermutet. Als die beiden auf Mitglieder der kaiserlichen Familie treffen, bleibt Goethe auf der Stelle stehen, lüftet seinen Hut und verneigt sich tief; Beethoven hingegen stapft weiter und mitten durch die Szenerie hindurch: Er kennt die hohen Herrschaften ja, und die wiederum kennen ihren Beethoven.

Im Metternichschen Zeitalter, als die Meinungs- und Pressefreiheit wieder massiv eingeschränkt ist, gilt Beethoven als ein Unikum, aber durchaus von ideellem Wert; mit einem solchen weiß sich die feine Gesellschaft gern zu schmücken. Hier liegt der Unterschied zu dem fast eine Generation jüngeren Franz Schubert (1797-1828), der in den nach ihm benannten Lese- und Musizierabenden im Freundeskreis („Schubertiaden“) stets mit Denunziation und Verhaftung rechnen muss. Beethoven hingegen gilt der Polizei als bedauernswerter harmloser Einzelfall mit mächtiger Protektion. Er selber ist von seiner politisch unkorrekten künstlerischen Einzigartigkeit überzeugt: „Beethoven gibt’s nur einen“ und sieht sich allenfalls auf einer Stufe mit Händel, Bach, Gluck, Haydn und Mozart. Von seinen komponierenden und nach wie vor lebenden Zeitgenossen achtet er allein Luigi Cherubini (1760-1842).

In diesem Sinne führt er sein kompositorisches Werk immer konsequenter weiter. 1819, im Jahr der Karlsbader Beschlüsse, beendet Beethoven seine „Große Sonate für das Hammerklavier“ B-Dur Opus 106. Im viersätzigen Ablauf bleibt sie der Tradition ganz treu, doch ihre Dimensionen sprengen jeden bisher gewohnten Rahmen, bis hinein in Abschnitte ohne Taktstriche und in eine ausgedehnte dreistimmige Schlussfuge „mit einigen Freiheiten“, wie die Bemerkung des Autors an deren Beginn tiefstapelnd lautet.

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In dieser Zeit ist es um Beethovens familiäre Verhältnisse schlimm bestellt. Sein 1815 verstorbener Bruder Carl Caspar hat einen Sohn hinterlassen, Karl, um den immer wieder ein alle beteiligten Parteien zermürbender Sorgerechtsstreit zwischen der als leichtlebig verschrieenen Mutter und dem Onkel entbrennt. In den Zeiten, da der Neffe mit Ludwig van Beethoven Umgang hat, versucht der wider Willen – nämlich aus unüberwindlichen Standesunterschieden zu den adeligen Geliebten – unverheiratet Gebliebene, seine an den pädagogischen Konzepten der Aufklärungsepoche geschulten Erziehungsgrundsätze strikt anzuwenden. Aber diese Art von Bildung des jungen Mannes gemäß dessen vermuteten Gaben und Fähigkeiten scheitert gründlich. Nach einem Selbstmordversuch des Zwanzigjährigen 1826 willigt ein als neuer Vormund eingesetzter Freund Beethovens schließlich in Karls Berufswunsch ein: Der Neffe schlägt die Offizierslaufbahn ein. Später erst wird er den Onkel ehren, indem er einem seiner Söhne den Namen „Ludwig“ gibt.

Mit den letzten drei Sonaten (1821/22), den Bagatellen Opus 119 und Opus 126 (1824) sowie den Diabelli-Variationen Opus 120 (1819/23) schließt Beethoven sein Schaffen für das Klavier ab, oft mit freien Assoziationen auf die Musikgeschichte. So erinnert der Tonfall im Variationssatz der E-Dur-Sonate Opus 109 an Georg Friedrich Händel (1685-1759), Beethovens Lieblingskomponist der Vergangenheit. Die As-Dur-Sonate Opus 110 gemahnt im ersten Satz an Mozart, im weiteren Verlauf mit Choral, Rezitativ, Arien und Fugen namentlich an die Johannespassion von J.S. Bach („Es ist vollbracht“). Hat der junge Beethoven bei einer Reise 1796, unter anderem nach Berlin und Leipzig, in der Thomasschule Bachsche Handschriften einsehen können? Die c-Moll-Sonate Opus 111 beginnt wie aus dem Nichts mit einem gezackten Thema und fährt zunächst fort im Nachklang einer barocken Ouvertüre, ehe ein leidenschaftliches, teils fugiertes Laufwerk einsetzt. Die anschließende „Arietta“ in C-Dur ist in der durch sie hervorgerufenen Literatur zu einem Abschiedsgesang verklärt worden. Thomas Mann (1875-1955) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) sehen in ihm das gesamte bürgerliche Zeitalter prophetisch-dialektisch durchschaut und überwunden.

Beethoven vollendet 1823/24 seine beiden Großprojekte, die Missa Solemnis D-Dur Opus 123 und die Neunte Symphonie d-Moll Opus 125. 1824 werden sie in St. Petersburg bzw. in Wien uraufgeführt. Außerdem entsteht in den letzten Lebensjahren eine Reihe von rätselhaften Streichquartetten, deren zerklüftete Sätze und polyphone Passagen an Adornos Wort von einer „Philosophie der Musik“ schlechthin denken lassen. Der Partitur der riesenhaft geratenen Messe stellt Beethoven indes ein völlig undogmatisches Motto voran: „Von Herzen – Möge es wieder zu – Herzen gehen“. – Im Finale der letzten vollendeten Sinfonie klingt eine Mischung aus Hoffnung und Wehmut auf: Indem Beethoven Teile aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ vertont und so ein Gedicht aus der vorrevolutionären Welt (1785) ins Bewusstsein rückt, gibt er seiner eigenen restaurativen Zeit eine persönlich entfaltete Freiheitsliebe mit auf den Weg. Ein zeitgenössischer Kritiker, der die Vermengung von absoluter Instrumentalmusik und Chorgesang für missglückt hält, aber doch den Mut zu dieser Grenzüberschreitung bewundert, schreibt nach einer Aufführung der „Neunten“ über Beethoven und sein Werk: „Auch in der Verirrung – groß!“

Insgesamt lässt sich versuchsweise sagen: Beethovens Gesamtwerk ist Ausdruck eines einzigartigen Personalstils. Der hat sich im Laufe eines ungewöhnlichen Lebens herangebildet aufgrund von früher Förderung durch Freunde und Bekannte, aber verfestigt in den allgemeinen unsicheren kriegerischen Zeitumständen und durch einen starken Charakter im Kampf gegen biographische Schicksalsschläge. Die Musik in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist bei Beethoven einem schöpferischen Einzelwillen unterworfen. Das objektiv gegebene musikalische Material bearbeitet er höchst traditionell und zugleich entschieden subjektiv. Eigentümlich für diesen Vorgang sind dynamische, rhythmische, harmonische, metrische und formale Neuerungen, die es in solchem methodischen Ausmaß vor Beethoven nicht gegeben hat und die man getrost als „revolutionär“ bezeichnen kann.

Nicht durch seine von vielen gesellschaftlichen Abhängigkeiten geprägte soziale Stellung im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts, sondern durch die absolute Beherrschung und alles Abgelebte geistesgegenwärtig überwindende, dabei phantasiegeleitete Fortentwicklung seiner Kunst wird Beethoven zum ersten freien Künstler der europäischen Musikgeschichte. Daran haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte viele weitere Vorstellungen und auch Wunschbilder geheftet. Die vermutete pausenlose energische Selbstbestimmtheit im Dienste allein „der Sache“ hat noch in der rebellischen westdeutschen Jugend der sechziger, siebziger und achtziger Jahre bleibenden Eindruck hinterlassen. Bücher, Filme und Plakate zeugen von der Beliebtheit des Protagonisten. Diese hängt wohl damit zusammen, dass Beethoven auf seinem ureigenen Boden von klassisch-romantischer Klangrede in seinem Schaffen durch innere Autorität eine allumfassende Welthaltigkeit ausdrückt, die alle Menschen, die sich darauf einlassen, vor verstiegenem Einzelgängertum oder gar exzessivem Ego-Trip schützt, zugleich aber ihnen in dem, was ihr Humanum wesentlich ausmacht, ein starkes Bewusstsein persönlicher Freiheit sichert.

Abbildungen: a) Beethoven gemeinfrei b) Wie man mit dem Hammer philosophiert – Taktlosigkeiten im Finale von Opus 106.

Quasi una fantasia tedesca

Wie eine deutsche Phantasie (mit dickem ph) – oder eher als feinsinnige Fantasie (mit schlankem f)? Gravitas oder Grazie? Hirngespinst oder Klangereignis? Schwere oder Schwebe? Irden-himmlischer Elfenbeinturm oder himmlisch-irdene Ausdrucksmacht? Ziellose Schwelgerei oder willensstarke Musik?

Irgendwie sind die Attribute austauschbar: Der griechischen Schreibweise ließen sich ebenso zarte wie ungezügelte Eigenschaften gleichermaßen zuordnen wie der lateinisch-italienischen. Das Reich der Ph/F/antasie ist unerschöpflich, widersprüchlich, reichhaltig – aber bisweilen auch sehr blutleer. Dünnes Denken wechselt mit fiebernder Fülle geistlos/geistreich ab.

Eine berühmt-berüchtigte Druckgrafik aus dem Zyklus „Los Caprichos“ des spanischen Künstlers Francisco de Goya nennt sich im Deutschen meist: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Statt „Schlaf“ lässt sich auch „Traum“ sagen. Ob das Ganze satirisch oder todernst aufgefasst werden soll, ist seit Entstehung dieser Radierung, Ende des achtzehnten Jahrhunderts, häufig und gern diskutiert worden. Kann sich in diesem Bild auch der sprichwörtliche deutsche Michel mit seiner Schlafmütze wiederfinden? Sind Träume bloß Schäume – oder alp-hafte (!) Bewältigungen böser Realität?

Die deutsche Romantik, die zeitgleich mit den gesellschaftskritischen Darstellungen des seit Anfang der 1790er Jahre ertaubten Goya entstand, sah das Reich der Gedanken als einzig verbliebene Sphäre, aus der ein Mensch nicht vertrieben werden kann. Während um anno 1800 alle in deutschen Landen seit rund neun Jahrhunderten vertrauten Verhältnisse sich unter dem Druck der vom revolutionären Frankreich ausgehenden Umwälzungen und handfesten Kriege auflösten, begaben sich die Nachdenklichen ins innere Exil.

Wer in bildender Kunst, Literatur und Musik etwas zu sagen hatte, erschuf allein aus eigener Geisteskraft je neue Welten – ohne nach deren Praktikabilität oder gar Zweckmäßigkeit groß zu fragen. Philipp Otto Runge oder Caspar David Friedrich, Novalis oder Friedrich Hölderlin, Ludwig van Beethoven in seinen Opera ab der Jahrhundertwende oder Franz Schubert – und es ließen sich viele andere nennen – haben gewissermaßen Gegenwelten projektiert, um dem offensichtlichen grausamen Wahnsinn zu begegnen. Wer damals in Farben, Worten oder Tönen schwelgte, war ein kritischer Traumtänzer, aber keineswegs unsystematisch oder gar am wirklichen Leben vorbei.

Dass sich die Romantiker und solche, die es werden wollten, vielfach darauf besannen, „wie uns die Alten sungen“, dürfte eigentlich keine Empörung hervorrufen. Noch zu meiner Schulzeit wurde uns eingeprägt, dass man aus der Geschichte lernen möge. Das war in den Siebzigern und Achtzigern im letzten Jahrhundert des seit nunmehr bald vor dem Zeitraum einer Erwachsenenwerdung verflossenen Jahrtausends. Ist es nicht erschreckend-erstaunlich, wie rasch sich in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten die historisch denkende Alltagsmentalität verflüchtigt hat?

Dass arabische Immigranten nicht wissen, wie sehr es hier in Deutschland vor siebzig Jahren flächendeckend sogar trümmerhafter aussah als heutzutage in Syrien – geschenkt. Aber dass eine angehende Religionslehrerin ganz beglückt aus dem Häuschen gerät, als sie zu hören meint, das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ habe ein amerikanischer Bürgerrechtler gedichtet – und es, auf den feinen Unterschied einer Null hingewiesen, nicht weiter schlimm findet, dass der eine vor 500 und der andere vor 50 Jahren gewirkt hat, ihr quasi die Differenz von Martin Luther und Martin Luther King völlig egal ist … sind ja beide längst tot – also hier müsste vielleicht doch eine Abiturnachprüfung angesetzt werden, oder?

Andererseits hat die junge Dame etwas Richtiges gespürt: In Lutherliedern ist Musik drin! Die sagen einem „auch heute noch“ was. Jedem Lapsus liegt ein Zauber inne. Romantik pur. Eine PH hat doch auch ihr Gutes. In strikter PH-Neutralität von Geschichts- und Geschlechtslosigkeit wandeln also die Lehrpläne von Pädagogischen Hochschulen, heutzutage meist im Range von veritablen Universitäten, auf quasi politisch korrekten Wegen, zwar unhistorisch spintisierend und gendergerecht alles von gutem altem Herkommen terrorisierend: aber eben irgendwie doch die Absolvent*inn*en solcher Anstalten in Betroffenheit berührend. Das sollten wir bei allem zum Sarkasmus reizenden Nonsens denn doch nicht vergessen.

Bundesdeutsche Phantasie – gibt es die eigentlich? Zu mehr als zum „Verfassungspatriotismus“ hat es letztlich nie gereicht. Und unser gutes Grundgesetz hatte nur solange Ausstrahlungskraft, als es den Gegenentwurf zur wie auch immer gearteten Verfasstheit der „Deutschen Demokratischen Republik“ darstellte. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 hat sich vieles leider erledigt. Nicht, dass die neu hinzugekommenen Bürger daran irgendeine Schuld träfe, im Gegenteil! Die friedliche Revolution von 1989/90 hatte ja gerade das Ziel, den Inhalt der die Bonner Republik begründenden Ordnung auch für die eigene Lebenswelt fruchtbar zu machen. Und es war großartig, wie sie sich in diesem Bestreben von nichts und niemandem unterkriegen ließ!

Der Schwere des Abschüttelns von Stasi-Diktatur und fehlgeleitetem Wirtschaftssystem folgte leider jedoch nur eine kurze Phase idealistischer Schwebe – übrigens auf beiden Seiten von Mauer und Stacheldraht! Im strahlend schönen Sommer 1990 saßen wir vor Eckkneipen und in Biergärten unter dem hohen sternbeglänzten Himmel über Berlin, Wessis und Ossis treulich beieinander – was bisher „die Mode streng geteilt“ – , in studentischer Verzückung, hier und jetzt im historischen Bewusstsein, einen Zipfel des Mantels der Geschichte tatsächlich erhascht zu haben. Viel war von „Konföderation“ die Rede, auch davon, dass „alle“ „etwas einzubringen haben“, mit „ihren Biographien“ und Erfahrungen und so weiter und so fort.

Berliner Romantik, nunmehr nicht in den Salons einer Henriette Herz oder Rahel Varnhagen, sondern als Schlabberlook-Neuauflage in verwunschenen Abrisshinterhöfen im Prenzlauer Berg oder in den einschlägigen Lokalen in Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln. Die vornehmere Fortsetzung der Debatten aus milden Sommernächten fand tagsüber auf dem Campus statt: je nachdem, wo man studierte, erörterten junge Leute die neue deutsche Frage in Dahlem, Zehlendorf oder in Mitte. Dass anderswo auch andere – entscheidungsstärkere – Personen über uns sprachen, nahmen wir kaum zur Kenntnis. Dass diese Herrschaften Bush, Gorbatschow, Mitterrand und Frau Thatcher hießen, die sich zu viert mit den zwei Deutschen Kohl und de Maizière trafen, störte niemanden unter uns daran, hochfliegende Gedanken etwa über die Vereinbarkeit von Kapitalismus und Sozialismus begeistert zu ventilieren.

Quasi una fantasia tedesca

Viel Gerede zum Mondscheintarif – am 1. Juli 1990 war das alles schlagartig vorbei: Die Deutsche Mark (West) wurde in der Noch-DDR als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt, und von Stund an lief alles seinen marktwirtschaftlichen Gang. Der fruchtbare wie weltfremde Gegensatz von PhantaSie und FantaDu war überwunden. Insbesondere für die Studenten der evangelischen Theologie, die immer besonders lautstark „sich einbringen“ wollten, war das eine harte Nuss. Der reizvolle weltbürgerlich anmutende Traum: ein Bundeskanzler Lafontaine hüben und vis-à-vis ein Ministerpräsident de Maizière drüben, zwei „Ar“s, nämlich Oskar und Lothar samt französischen Nachnamen: – war da bereits ausgeträumt.

Als „Chabis“ entlarvt, schweizerisch im übertragenen Sinne für „Unfug“, wortwörtlich aber: „Kohl“. Der blieb nach der Bundestagswahl im Dezember 1990 denn auch Kanzler, ganz allein: Die DDR gab es da bereits seit zwei Monaten nicht mehr. Was uns „an der Basis“ seinerzeit noch nicht so klar war: Der Preis für die deutsche Einheit war die D-Mark. Da konnte Franz Beckenbauer im schönen Sommer zuvor noch den Pokal der Fußballweltmeisterschaft so freudig in den sternenklaren römischen Nachthimmel gereckt haben: Das eigentliche Symbol bundesdeutschen Erfolgs der Nachkriegszeit war schon längst dem Neid der kleineren Westalliierten geopfert. Eine Weichwährung namens Ecu/Euro brach sich Bahn und frisst sich ganz praktisch, also völlig theoriefrei, sprich: ungebremst bundesbanklos(!) spätestens seit 2002 unersättlich in unsere Ersparnisse hinein.

Damit sind wir beim schnöden Mammon angelangt. Geld regiert die Welt, je einheitlicher die Währung, desto gefahrvoller für den einzelnen Haushalt, wenn makroökonomisch etwas aus dem Ruder läuft. In der Napoleonischen Ära hatte man damit auch schon seine liebe Not. Deutsche Romantik hat seinerzeit mit ihren ganz eigenen Mitteln und Wegen ihr zugetane Menschen bei der Stange gehalten. Wer hingegen keinerlei Phantasie entwickelte, ging zugrunde. Aus genau dieser Situation heraus entstand in den 1810er Jahren ein frisches deutsches Nationalgefühl. Es war zunächst weder völkisch noch monetaristisch noch reaktionär ausgerichtet, sondern vorrangig auf die eigenen bisher unterdrückten kulturellen Traditionen bedacht. Nach der Abschüttelung französischer Kaiserdiktatur bemächtigten sich insbesondere die Studenten der klassischen freiheitlichen Ideale – bis wiederum die nunmehr einheimische, sprich Metternichsche Reaktion (spätestens 1819) unbarmherzig zuschlug.

So wurde die Vernunft gezwungenermaßen in einen Tiefschlaf versetzt, der so manches Ungeheuer hervortreten ließ. Als Schuldigen aber machte man seitdem gern samt und sonders die Romantik in toto aus, obwohl diese phantasievolle und also auch politisch in ihrem Selbstverständnis völlig ungebundene Geistesströmung alles andere als repressiv war. Eher ist – von heute aus – zu fragen, ob es nicht schließlich kaltherzige „Dialektik der Aufklärung“ war, die im gesamten zwanzigsten Jahrhundert zu den in Nachahmung der französischen „Terreur“ bösartig-raffiniert geplanten Massenmorden geführt hat.

Die innerdeutsche gegenwärtige Diskussion ums Selbstverständnis krankt daran, dass alle gegen alle reden und am Ende nur „Stalinisten“ auf der einen und „Nazis“ auf der anderen Seite übrigbleiben. Wer eigentlich die Mitte ausfüllt, bleibt nebulös. Das war mal anders. Noch bis in die Neunziger hinein repräsentierten schöne Tiefdruckbeilagen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter dem Titel „Bilder und Zeiten“ oder die Feuilletons etlicher anderer überregionaler Blätter ein abwägendes und zugleich meinungsstarkes bürgerliches Kulturbewusstsein. Wenn ein Marcel Reich-Ranicki sich mit jemandem befehdete, dann schlugen die Streithähne wohl sprachlich bisweilen über die Stränge, aber das gehörte zum Spiel hinzu. Auch in anderen medialen Formaten wussten sich die an der Auseinandersetzung Beteiligten mit dem deutschen Bildungskanon grundsätzlich einig. Messer wurden nicht gezückt, man enthielt sich auch der Morde durch solche Bestecke. Gezielte Rotweinverschüttungen auf Lieblingsgegner waren die Ausnahme und fanden nur in ausgewählten Fernsehdiskussionen statt.

Unter solchen Vorzeichen war jahrzehntelang zumindest unterschwellig von der deutschen Wiedervereinigung die Rede. Es gab auch Institutionen, die während der gesamten Nachkriegszeit 1945 bis 1990 ohne jeglichen Verdruss Mauer und Stacheldraht ignorierten und gesamtdeutsch weiterarbeiteten: Es sei hier nur die Neue Bachgesellschaft von 1900 e.V. erwähnt. Musik, aber auch Sport und natürlich die gemeinsame Sprache verband vielfältig, wenn auch oftmals organisatorisch zwangsweise getrennt. Dass die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft sich mit steigendem Wohlstand indes proportional dazu weniger für diese Dinge interessierte, ist allerdings nicht zu verschweigen. Unsere Lokalzeitung brachte nur alle vier Wochen eine Seite mit dem Titel „Blick ins andere Deutschland“. Im übrigen schien die deutsche Teilung fest zementiert. Mein Foto weiter oben von der Berliner Mauer am Brandenburger Tor datiert von 1983 – dass sich dort etwas ändern könnte, hätten wir uns damals in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt.

Phantastische Fantasien müssen nicht zügellos sein. Was romantisch daherkommt, ist oftmals von der Faktur her nichts anderes als die Ausweitung dessen, was an Techniken kleinteilig bereits lange vorhanden war. Die Betitelung Quasi una fantasia bedeutet also keine sanktionierte Regellosigkeit; vielmehr wird ein motivischer Kern zur allgemeinen Maxime erhoben. Goldene Regel und Kategorischer Imperativ werden dem romantischen Impuls einverleibt – und so vor dem Einerlei der Tagesmeinung gerettet. Besonders Beethovens cis-Moll-Klaviersonate, komponiert anno 1800, ist so gar nicht willkürlich, geschweige denn wirr oder nach Laune konzipiert. Im Gegenteil, sehr verlässlich bringen alle drei Sätze dieser seit dem neunzehnten Jahrhundert so genannten „Mondscheinsonate“ Motive und Melodien in schönster Regelmäßigkeit wieder und wieder. Dass dennoch gerade dieses Werk die Geister nicht ruhen, sondern höchst anregen lässt, liegt in der nachgerade genialen Verbindung von Schlichtheit und Aufruhr. Aus einem Lehrbuch oder Modul ließe sich für solch subversive Musik kein einziger Götterfunken herausschlagen. Man gut, dass die Romantik niemals schulbuchmäßig kroch, sondern grenzenlos frei dachte!

Beethoven hat sich als Fünfundzwanzigjähriger anno 1796 während einer von einem adligen Gönner ermöglichten Reise in Leipzig und in Berlin aufgehalten. Musikalische Studien in der Thomasschule der sächsischen Messestadt sowie Empfänge am Hof in der preußischen Hauptstadt ermöglichten ihm gründliche Studien, von Bach ausgehend. Zeit seines weiteren Lebens hat der später ertaubte Meister in seinen Kompositionen diese persönlich angeeigneten Überlieferungen einfließen lassen. Dabei ging er nicht als Kopist vor (wie man es, bei allem Respekt, Mozart in einigen seiner Stücke unterstellen könnte; er hatte 1789 ebenfalls eine Reise zu diesen Stätten mit dem gleichen Gönner unternommen), sondern als phantasievoller Schöpfer von schon beim ersten Hören erkennbaren Stücken des einzigen „Beethoven“.

Das vorhandene Material sich zueigen machen: Eine Frage von individueller Kunstfertigkeit! Das romantische Menschenbild setzt auf die eigene freie zu allem fähige starke Persönlichkeit. Jegliche Propaganda ist ihr fremd. Eine Ich-Welt trotzt jeder Art von Diktatur. Das Individuum ist die Keimzelle jeglicher Gesellschaftsordnung. Der international sich gerierende und im Ernstfall stalinistische Sozialismus hat das ebensowenig begriffen wie der in Deutschland zuvor wütende National-Sozialismus. Sofern sich diese Regime auf die Romantik beriefen, lagen sie schlicht und einfach falsch. Das muss betont werden zur Rehabilitation der zu Unrecht Angeklagten.

Deutsche Einheit – ein weites Feld. Handfeste Phantasien und klingende Fantasien bilden ja vielleicht die Grundlage dafür, dass bei uns das Denken in bildender Kunst, in gesprochenem und geschriebenem Wort, in auskomponiertem Klang nicht ausstirbt. Mit Ph oder nur mit F. Also diesen unbescheidenen Wunsch hätte ich dann doch, auch am achtundzwanzigsten Jahrestag der 1990er Deutschen Einheit.