Heilige Weisheit?

Jetzt ist es amtlich: In der Hagia Sophia zu Konstantinopel sollen wieder, wie in den Jahren von 1453 bis 1934, islamische Gebete abgehalten werden können. Orthodoxe und römisch-katholische Sprecher äußern Unmut, bis hin zum Zorn. Sie werden bestärkt von den jeweiligen Regierungsvertretern in Athen und Moskau beziehungsweise vom Heiligen Stuhl. Evangelische Repräsentanten machen sich im wesentlichen eine Stellungnahme des Weltkirchenrates zueigen und sprechen in je persönlichen Variationen ihr Bedauern aus. Sie haben allerdings kaum Rückhalt durch entsprechende Verlautbarungen aus der Politik. Interessanterweise kommt aber auch, zumindest in Deutschland, von muslimischer Seite Kritik. In der Türkei selbst sind es naturgemäß die Kemalisten, denen die Gründung der laizistischen Republik 1923 als undiskutable historische Errungenschaft erscheint.

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Die Argumente gegen die Entscheidung des türkischen Obersten Verwaltungsgerichts sind vielfältig: Das Gotteshaus, anno 537 eingeweiht, sei als Kirche erbaut und müsse, wenn es denn schon kein Museum mehr sein solle, umstandslos wieder zu einer solchen werden. Es mangele in Istanbul mitnichten an Moscheen, da brauche man über die jetzt bestehenden hinaus keine weiteren. Auch sollte alles vermieden werden, was den Streit unter den Religionen neu anfachen könne; denn man lebe schließlich im 21. Jahrhundert: Aus überwundenen schlimmen Zeiten von Glaubenskriegen habe man doch hoffentlich gelernt. Toleranz sei das Gebot der Stunde und die Hagia Sophia ihr Wahrzeichen, habe doch Atatürk bei ihrer Neueröffnung als Museum im Februar 1935 von ihr als dem Ort gesprochen, wo sich einst zwei Konfessionen voneinander trennten – im Jahre 1054 die West- und die Ostkirche –  und nunmehr zwei Religionen – Christentum und Islam – zusammenfänden. Das Bauwerk trage gewissermaßen durch ihr langes 1500jähriges bloßes wenngleich wechselvolles Dasein die Botschaft des Friedens in sich.

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Von unbedingten Forderungen über praktische Hinweise bis hin zu idealistischen Träumereien spannt sich also der hüben wie drüben religiöse und mehr oder weniger geistreiche Bogen. Griechenland und Russland erkennen dahinter glasklar die machtpolitischen Dimensionen. Und die Menschenmenge, die vergangenen Freitag, einen Tag nach dem Urteil, sich vor dem bisherigen Museum unter freiem Himmel zum Gebet zusammenfand, war entsprechend lauthals freudig erregt von dieser „zweiten Eroberung“ und der damit verbundenen islamischen „Raumgewinnung“. Damit stand quasi die Wiederholung des 29. Mai 1453 an: Mehmet der Eroberer hatte ja durch seine Heere an diesem Tag die Hauptstadt der morgenländischen christlichen Welt zu Fall gebracht. Er, der Sultan, erklärte sich durch diese militärische Tat zum legitimen Nachfolger der römischen Kaiser und wandelte das östliche römische Reich um in jenes muslimisch-türkisch dominierte Herrschaftsgebiet, das erst rund 470 Jahre später, in der Folge des Ersten Weltkriegs, unterging. Da war also von vornherein ein Machtanspruch wirksam, der die grausamen Türkenkriege hervorrief und Europa in den nächsten drei Jahrhunderten immer wieder in Angst und Schrecken versetzte.

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Die Hagia Sophia aber war während all dieser historischen Ereignisse und weltgeschichtlichen Dramen nie nur ein Gotteshaus. Sie war vielmehr für rund 900 Jahre die Eigenkirche der römischen Kaiser, die von Konstantinopel aus seit dem Jahr 330 ihr christliches Reich regierten. Am „Nabel der Welt“ wurden sie, die irdisch-himmlischen Mittler, im Sinne eines Caesaropapismus gekrönt und später gern als Inhaber sowohl der weltlichen wie der geistlichen Gewalt in kunstvollen Mosaiken verewigt. Übrigens sprach seinerzeit vom „Byzantinischen Reich“ dort niemand, erst recht nicht vom „Oströmischen Reich“; denn man sah sich selbst ja als organische Fortführung des einen römischen Weltkreises, mit dem „Neuen Rom“ als Zentrum, von Konstantin dem Großen eben vom Tiber an den Bosporus verlegt und mit seinem griechischen Namen versehen: Konstantinoupolis, Konstantinopel, Stadt des Konstantin. Erst ein deutscher Bücherwurm des 16. Jahrhunderts hat den heutzutage geläufigen kulturgeschichtlichen Begriff „Byzanz“, „byzantinische Kunst“ etc. erfunden: https://feoeccard.com/2017/06/08/hieronymus-wolf/. Ab 1453 gehörte das Bauwerk dem Sultan persönlich, ganz analog zur vormals kaiserkirchlichen Bestimmung,  und wurde im Rahmen einer Stiftung folgerichtig zur Moschee. Dies legte Mehmet II. „der Eroberer“ in seinem Testament fest.

Es war nun dieses Schriftstück, das den jetzigen Richterspruch sowie die nachfolgende Entscheidung des türkischen Ministerrates begründet. Damit ist faktisch die Staatsgründung vom Oktober 1923 durch Mustafa Kemal Pascha Atatürk übergangen und für im Grunde ungültig erklärt worden. Die Republik hat in ihrem wesentlichen Gehalt aufgehört zu existieren, wenn ein Beschluss des damaligen Ministerrats vom November 1934 als nichtig bezeichnet wird, weil er angeblich gegen die Bestimmungen des Begründers eines untergegangenen Vorgängerstaates, nämlich des Osmanischen Reiches, verstößt. Dass das erste Freitagsgebet in der Hagia Sophia nach dem jüngsten Gerichtsspruch nun ausgerechnet am 24. Juli verrichtet werden wird, ist ebenfalls historisch brisant: Es ist nämlich der Jahrestag des Vertrags von Lausanne 1923. Darin wurden die neuen Grenzen der bis dahin in Besatzungszonen aufgeteilten Rest-Türkei festgelegt, unter anderem aber auch der leidvolle „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Türken und Griechen besiegelt und im übrigen etliche christliche Minderheiten, die seit 1915 Opfer des Völkermordes geworden waren, nicht weiter berücksichtigt. Das grausame Martyrium von Armeniern und Assyrern wird seitdem von offizieller Seite krampfhaft verschwiegen und seine Benennung strafrechtlich geahndet. Da sind sich Kemalisten und Erdoganisten bis heute erschreckend einig.

Das Vermächtnis des Sultans Mehmet II. legte allerdings auch für alle Zeiten fest, dass die vormaligen Kirchengebäude des römischen Staates weder zerstört noch bilderstürmerisch versehrt werden dürften. Der Eroberer von Konstantinopel hatte eine christliche Mutter, und deren Andenken verbot es dem wüsten Heerführer ganz offensichtlich, die geistlichen Kunstwerke der griechischen Orthodoxie hemmungslos zu vernichten. Die Fresken und Mosaiken etlicher byzantinischer Kirchenräume sind demzufolge erhalten geblieben, oft unter Putz oder Stoffbahnen. Mit der Umwandlung der Hagia Sophia von einer Moschee in ein Museum Mitte der 1930er Jahre war also auch die Freilegung von seit rund 480 Jahren verborgenen Bildwerken verbunden. Zugleich konnten Ausgrabungen stattfinden; die Archäologie kam zu ihrem Recht, Kunstgeschichte wurde legitimiert in einem Umfeld, das bis dahin von solchen Dingen kaum etwas wissen wollte. Und weil Atatürk vieles war, nur nicht religiös, konnte unter seiner Ägide das Bauwerk der Heiligen Weisheit zu einem säkularen Museum werden, das die neun Jahrhunderte als christliche Kaiserkirche und die knapp fünf Jahrhunderte als muslimische Sultansmoschee sozusagen gleichberechtigt miteinander zu präsentieren vermochte. Die Republik hielt sich aus Glaubensdingen nach außen hin heraus, während sie allerdings zugleich einseitig das Türkentum förderte, auf Kosten aller anderen Bewohner des neuen Staates. Der „europäische Staat mit islamischer Bevölkerung“, dessen Verfassung sich am französischen Laizismus und am schweizerischen Rechtssystem orientierte, war von Anfang an in einem nationalistischen Widerspruch gefangen; denn der Republikanhänger Parole „Die Türkei den Türken“ legte jegliche Religionsfreiheit in Fesseln, sofern die im Volk verwurzelte sunnitische Religion nicht, wie von Atatürk durch seine rigiden Maßnahmen erwartet, einfach binnen kurzem verschwand.

Ende von Sultanat und Kalifat, Verbot von Kopftuch und Fez, Einführung europäischen Kalenders und lateinischer Schrift sowie Installierung vor allem französisch-republikanischer Staatstugenden sollten die vormaligen „Jungtürken“ voranbringen in eine neue Zeit. Das Ganze entlarvte sich indes irgendwann als eine aufgepfropfte Ideologie, die den Menschen vor Ort mehr nahm als gab. Wer geschichtlich gewachsene Gewohnheiten mit einem Federstrich abschafft, ohne dass das Neue einen nachhaltigen Rückhalt im Volk besitzt, wird irgendwann scheitern. Und dann kommt die Stunde der Spießbürger: „Ach, sieh an, ich dacht‘ es gleich“. Dies ist jetzt der glorreiche Augenblick aller noch verbliebenen Erdoganisten. Die Hagia Sophia wird neuerlich und zum wiederholten Male ein Objekt machtpolitischer Setzung. Unser vormals christlich-politisches Europa, also das, was man mehr oder weniger romantisch mal als das Abendland bezeichnet hat, steht deshalb so fassungslos vor dieser historischen Zäsur, weil es ernstlich nicht mit der Wiederkehr des machtbewehrten Religiösen gerechnet hat. Glaube ist für die westeuropäischen Granden eigentlich nur noch etwas fürs Museum. Daher fand man den bisherigen Status der Hagia Sophia bequem, ausgewogen und in seiner nie beim Namen genannten Zahnlosigkeit touristisch wunderschön. Die Machtkämpfe dahinter wurden geflissentlich ignoriert. 

Im Jahre 2011 gab es schon einen Testlauf: Damals wurde die Hagia Sophia zu Nizäa in eine Moschee umgewandelt. Isnik, wie der Ort heute heißt, südöstlich von Istanbul gelegen, war Schauplatz des ersten sowie des siebten und letzten der Ökumenischen Konzile, also der von allen christlichen Kirchen in ihren Lehrentscheidungen anerkannten Bischofsversammlungen. Im Jahre 325 bejahte man die Frage, ob Jesus als der Christus „wahr Mensch und wahrer Gott“ sei; anno 787 entschied man abschließend, dass Bildnisse mit dem Glauben vereinbar sind. Die Kunst nahm neuen Aufschwung, unsterbliche Ikonen, Fresken und Mosaiken entstanden. Aus dieser Zeit stammen auch die Werke in der Kaiserkrönungskirche zu Konstantinopel. Aber in der vormaligen Kirche, da das Konzil gegen die Ikonoklasten, die Bilderstürmer des achten Jahrhunderts tagte, erinnert an die dort erlaubten Bilder nichts mehr.

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Mehrfach wechselten Konfession und Religion, im Jahr 2000 war es dem Patriarchen von Konstantinopel für einmal durch die türkische Religionsbehörde gestattet, eine Weihnachtsmesse abzuhalten. Das war’s dann. 1920 schon war diese kleine Hagia Sophia zum Museum gemacht worden, mit der Option, dass in der ehemaligen Kirche auch hin und wieder christliche Gottesdienste stattfinden könnten. Der Wind drehte sich recht bald. In Westeuropa, bei uns also, hielt sich über viele Jahrzehnte das Interesse an solchen Vorgängen oder eben Nicht-Ereignissen in überschaubaren Grenzen. So wird es auch jetzt wieder sein, bei der großen Hagia Sophia, der Heiligen Weisheit zu Konstantinopel.

Fotos (alle Aufnahmen aus dem Jahr 2016): (1) Hagia Sophia, Innenraum mit christlichen und islamischen Elementen. (2) In der Hagia Sophia wird immer irgendwo gebaut, erneuert, ausgebessert. (3) Der Nabel der Welt. (4) Kirche des Konzils 787 in Nizäa, erbaut im 4. Jahrhundert, im Laufe der Jahrhunderte mal Kirche, mal Moschee, seit 1920 Museum, seit 2011 Moschee. Die Abschnitte, wo man als Muslim beten kann, sind mit Teppichen ausgelegt. Die für das Gebet gen Mekka nicht benötigten Ecken des Gotteshauses sind weiterhin touristisch zugänglich. Wird so eine Aufteilung auch in der großen Hagia Sophia in Konstantinopel erfolgen? Und was spräche eigentlich gegen die Möglichkeit, dort neben den muslimischen Freitagsgebeten auch christliche Sonntagsgottesdienste abzuhalten?   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hieronymus Wolf

Wenn Martin Luther eine Reise antreten wollte, musste er sich zunächst eines lästigen Brauchtums erwehren: Philipp Melanchthon pflegte seinem Freund nämlich in bester Absicht stets gern ein Horoskop zu erstellen, berechnete sorgsam die Konstellationen der Himmelskörper, um daraus dann einen günstigen Abreisetermin festzusetzen und überhaupt Verlauf wie Ziel der Unternehmung unter einem guten Stern zu wissen. Dem Reformator aber waren solche Künste derart zuwider, dass er sich nicht scheute, des Magisters Bemühungen, bei aller Liebe, heftig zu beschmunzeln.

Humanistische Spökenkiekerei versus biblisches Vertrauen: Für Luther war es vernünftiger, mal im Notfall und ganz spontan mit dem Tintenfass den Widersacher zu beschmeißen, als ausziseliert und methodisch zähflüssig-lebenslänglich sich an eine Wissenschaftlichkeit zu binden, die ja doch nur Stückwerk sein konnte … Wenn Gott will, dann wird es gut. Und wenn nach eigenen Begriffen etwas scheitert, dann mag auch dies für etwas „gut“ sein. Luther verstand seine Humanisten wahrscheinlich besser, als die sich selbst verstanden hatten. Er lebte drauflos, wo ängstliche Gemüter lieber langatmige Sitzungen anberaumten, durchführten und am Ende ebenso nichtsnutzig wie „ergebnisoffen“ auseinanderfließen sahen.

Aber – aufgepasst: Das Luthersche wurde eben längst nicht immer das Lutherische! Die impulsive Persönlichkeit Luthers hat (und in anderen Fällen können wir sagen: glücklicherweise) nicht unmittelbar auf die Kultur der lutherischen Kirche und ihre Traditionsbildung durchgeschlagen. Da war im Zweifel der liebe Magister Philippus vor. Es steht zu hoffen, dass im laufenden 500-Jahres-Jubiläum der Wittenberger Reformation auch einmal diese Dinge zur Sprache kommen … Nicht alles, was unter dem kirchlich „Lutherischen“ firmiert, ist auf Luthersches zurückzuführen, und andersherum gilt: Luther ist der seinen Namen tragenden Kirchenformation immer wieder im Laufe der Geschichte Stein des Anstoßes sowie der anregenden Aufregung geworden. Stromlinienförmig geht – gottlob – anders.

Eine sklavische Gefolgschaft im Sinne eines sozusagen „lutheristischen“ Personenkultes hat es also nie gegeben. Der Begriff „lutherisch“ leitet sich eher von den „Lutheranern“ her und müsste eigentlich „lutheranisch“ heißen, nämlich in Hinsicht auf die theologisch durchgebildeten Anhänger der Wittenberger Kirchenerneuerung. Die vom zwischenzeitlich wartburgerfahrenen Junker Jörg selbst abgelehnte Bezeichnung impliziert gerade nicht individuell Biographisches wie Lutherbier, federkielschwingende Playmobilfigur oder gar Anhängsel vom „Herrn Käthe“ – von Düsseldorfer Luderlümmeltüten ganz zu schweigen. Ob sich und uns die leitenden Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Gefallen getan haben, als sie seinerzeit eine „Lutherdekade“ ausriefen statt ein Jahrzehnt zur Wittenberger Reformation, sei deshalb dahingestellt.

Der Aberglaube eines Melanchthon machte nun aber unabhängig von solchen semantischen Erwägungen buchstäblich Schule oder fiel zumindest bei manchen Studenten auf bereits zuvor familiär verdunkelt bereiteten Boden: Einer der Vorlesungshörer des hochberühmten Gräzisten an der neugegründeten Universität zu Wittenberg war nämlich in den 1530er Jahren ein gewisser Hieronymus Wolf. Wer den Namen hier das erste Mal liest, den sollte kein intellektuelles Mangelempfinden beschleichen: Man muss diesen Herrn nicht kennen; er geht gänzlich in seinem wissenschaftlichen Werk auf. Aber indem er einen kulturgeschichtlichen Begriff erfand, hat er unser speziell abendländisches Bewusstsein vielleicht mehr geprägt, als uns landläufig bewusst ist.

Stubengelehrter entdeckt eine versunkene neue Welt

Vor über fünfhundert Jahren, am 13. August 1516, wurde er in Oettingen am Ries geboren und wuchs in Nürnberg und Nördlingen auf, unter seelisch belastenden Umständen. Seine Mutter verfiel dem Wahnsinn, da war der Sohn noch ein Kleinkind. Der Vater starb infolge eines Unfalls, was den Zwanzigjährigen bewog, pflichtbewusst die Vormundschaft für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Aber immer wieder versuchte er sich auch, schon im Kindesalter auffällig geworden durch außergewöhnliches Interesse an Geschichte, Philologie und Philosophie – dementsprechend gefördert von wohlmeinenden Lehrern – , als Weltbürger: in Paris, Basel und vor allem dann viele Jahre im fuggerischen Augsburg. Im Oktober 1580 ist er in der Reichstagsstadt gestorben, ledig und ohne leibliche Nachkommen.

Keinem der Ausflüge in die große weite Welt war längere Dauer beschieden: Misstrauen und Aberglaube ließen ihn aus allen Orten schnell wieder entweichen; unstet und flüchtig brachte er seine Tage zu, weil er überall Mordanschläge witterte in Form von vergiftetem Essen oder sonstigen tödlichen Verhexungen. Depressionen wechselten ab mit enorm zuversichtlichen Schaffensphasen; dem eben noch niedergeschlagenen Gemüt folgten hochgestimmte Entdeckerfreuden, vor allem in seinem höchstpersönlichen Bereich, dem von ihm überhaupt erst als solchen benannten Kosmos der byzantinischen Geschichte und Kultur.

Wie so viele Experten auf ihrem Gebiet, so hat auch Hieronymus Wolf niemals einen Ort aufsuchen können, der mit seinem Forschungsgegenstand nur annähernd in Verbindung gestanden hätte. Aber das war im humanistischen Selbstverständnis der Zeit auch gar nicht nötig: Von Bildungsreisen wie später im siebzehnten, achtzehnten oder gar neunzehnten Jahrhundert konnte der Normalbürger im Cinquecento nördlich der Alpen nur träumen. Bestenfalls kannte man jemanden, der gereist war und von seinen Erlebnissen erzählte. Vielleicht ließen sich interessierende schriftliche Überlieferungen aufspüren, ausleihen und lesen, gar käuflich erwerben und übersetzen. Wolf war ein ausgesprochener Bücherwurm, und seitdem er beim kunstsinnigen Jakob Fugger als Bibliothekar fungierte, standen ihm entsprechende pekuniäre Mittel zur Verfügung, Literatur anzuschaffen.

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Nun waren Studienreisen gen Anatolien damals sowieso äußerst selten. Noch keine hundert Jahre waren verflossen, dass Konstantinopel am 29. Mai 1453 von den Osmanen erobert worden war. Wahn und Wirklichkeit, Aberglaube und Orthodoxie stritten im Abendland seitdem heftig widereinander, wenn es um die kritische Bewertung und geistesgeschichtliche Einordnung dieses epochalen Ereignisses ging. Hieronymus Wolf hatte indes Bekanntschaft geschlossen mit einem Lebemann, der tatsächlich ins türkische Reich gereist und von dort mit geistlichen Schriften orthodoxer Mönche zurückgekehrt war. Fortan beschäftigte sich Wolf mit deren ihm ungewohnten Kirchen-Küchen-Griechisch, das er als Zeugnis einer eigenständigen „byzantinischen“ Kultur ansah und dementsprechend bezeichnete.

Ein Reich? Zwei Kaiser? Drei Kirchen?

Im Wolfschen Kunstwort „Byzanz“ und seinem Adjektiv steckt für jeden historisch informierten Fürsprecher des christlichen Reiches mit seiner Hauptstadt am Bosporus die befremdliche These, es habe ein „oströmisches“ Reich gegeben im Gegensatz zum im Jahre 476 untergegangenen „weströmischen“. Ein kaisertreuer Bürger hätte stets gesagt, dass seit der Umgestaltung des kleinen Hafenortes Byzantium in die prächtige Stadt Nea Roma (Neu-Rom) durch Kaiser Konstantin (bis zum Jahr 330) ebendort die alleinige Hauptstadt des Orbis Romanus zu suchen und zu finden gewesen sei. Noch nicht einmal kann aus dieser Sicht gesagt werden, dafür sei das bisherige Rom am Tiber durch die sogenannte „Konstantinsche Schenkung“ Besitz des dortigen Bischofs geworden (der sich später als „Papst“ und gar „Stellvertreter Christi auf Erden“ verstand) …; denn ALLES war ja im Neuen Rom beheimatet!

Von der Konstantin-Stadt: Constantinopolis = Konstantinopel: regierte der eine Kaiser weiterhin das eine Römische Imperium, wenngleich die Amtsstubensprache im neunten Jahrhundert vom Lateinischen ins Griechische wechselte und die mentalen Unterschiede zwischen dem lateinischsprachigen Westen und dem griechischsprachigen Osten schon immer groß waren … Doch selbst nach dem Schisma des Jahres 1054, als die kirchlichen Gegner ihre jeweiligen Verfluchungserklärungen auf dem Altar der Hagia Sophia niederlegten, galt doch in weltlicher Hinsicht der Anspruch der einzig verbliebenen Cäsaren auch über die Gebiete im durch die Völkerwanderung verlorenen Westen.

Das Bewusstsein der Reichsbürger war also ein ungebrochen römisches, nicht ein zweit- oder oströmisches. Man hielt sich als echter Römer, gräzisiert zu Rhomäer, zur Metropole und ging „in DIE Stadt“, eis teen polin, aus welcher Redewendung dann später der Name Istanbul wurde. Die griechische Umgangssprache bot die Folie für den heutigen türkischen Namen der neuen urbs, jenes Zentrums, das gleich seinem Vorbild in Latium auf sieben Hügeln und beileibe nicht an einem Tag erbaut wurde. Hony soit, qui mal y pense.

Kompliziert wurde alles erst, als sich am Weihnachtstag des Jahres 800 ein fränkischer König in Rom am Tiber durch den dortigen Bischof zum Imperator krönen ließ. Die seither sogenannte „Zweikaiserproblematik“ ist also aufs engste mit der Person Karls des Großen verbunden. Die Karolingische Renaissance, so segensreich sie für den Aufschwung der Bildung in Westeuropa war, wurde im Osten als Konkurrenzunternehmen angesehen. Erstes Mittel zur Neutralisierung: Konstantinopel schenkte Aachen ein Organum, womit die Orgel als Königin der Instrumente Einzug in die abendländische Kirche hielt.

In der Ottonischen Zeit, also um die erste christliche Jahrtausendwende, suchte man den Unterschied zu überspielen, indem Kaiser Otto II. eine Armenierin heiratete: Mit Kaiserin Theophanu kam das Griechentum nach Germanien, und der gemeinsame Sohn, später Kaiser Otto III., sollte die Verbindung ganz leiblich ins Werk setzen. Mit dessen frühem Tod aber fiel diese Idee der Vergessenheit anheim. Konstantinopel, die größte Stadt der Christenheit, befand sich aus der Sicht der fränkisch-ottonisch geprägten abendländischen und von dort ausgehend mittelalterlichen Gesellschaft am Rande der Zivilisation, während diese selbst sich berechtigterweise am Ort der Kirche zur Heiligen Weisheit durchaus im Zentrum sitzend empfand.

Doppeldeutigkeiten, wohin man blickt: Lange vor der Katastrophe des Jahres 1204, als venezianische Kreuzfahrer Konstantinopel eroberten und ausplünderten, kursierte der Begriff „die Franken“ als Schimpfwort, besonders unter den sich für rechtgläubig – orthodox – haltenden Theologen. Denn bereits im sechsten Jahrhundert hatten spanische Denker das Filioque in die gelehrte kirchliche Debatte geworfen, und die fränkischen Reichssynoden des beginnenden neunten Jahrhunderts machten sich diesen Zusatz im Nicaenoconstantinopolitanum zueigen. Dass der Heilige Geist vom Vater und dem Sohn gleichermaßen ausgehe, wurde im Neuen Rom nicht aus (theo)logischen, sondern aus traditionellen Gründen rundweg bestritten – man wollte sich strikt an den Wortlaut des Zweiten Ökumenischen Konzils aus dem Jahre 381 halten …

In diesem Sinne fanden dann Verzückungen am „Nabel der Welt“ statt: Kaiser Justinian konnte nicht an sich halten, als die von ihm erdachte Sophienkirche, prächtigstes und größtes christliches Gotteshaus für die weiteren über neunhundert Jahre, in seinem Beisein Anno Domini  537 eingeweiht wurde –  aber Kemal Mustafa Pascha konnte es im Jahre 1934 auch nicht lassen, pathetisch zu werden: Hier, wo sich einst zwei Konfessionen trennten, würden nunmehr zwei Religionen zusammengeführt; er meinte zum einen die zerstrittenen Kirchen von 1054 und zum anderen die Christen und Muslime seiner Zeit: Heraus kam bekanntlich ein – Museum: Im gedenkverliebten zwanzigsten Jahrhundert offensichtlich die einzige Option, historische Gegensätze friedlich zu überbrücken.

Innerhalb der Christenheit aber hatte sich mittlerweile eine dritte Kirchenfamilie herausgebildet. Zum 450. Geburtstag Martin Luthers wurden 1933 im gerade nationalsozialistisch machtergriffenen Deutschen Reich etliche diesbezügliche Feiern zelebriert, mehr dem neuen „Führer“ zu Ehren denn dem Jubilar… – während auch das Dritte Rom zur gleichen Zeit sich anschickte, den überlieferten sogenannten Byzantinismus in einen knallharten Personenkult umzufunktionieren. So, wie in San Vitale zu Ravenna das römische Kaiserpaar Justinian und Theodora streng in Form kunstvoller Mosaiken auf die versammelte Gottesdienstgemeinde blickt, ohne dass Charlemagne eine Chance gehabt hätte, auch sich selber musivisch in seiner nach ravennatischen Vorbildern errichteten Öcher Pfalzkapelle zu implementieren, – so falschverstanden und übergriffig wollte der entlaufene georgische Theologiestudent Stalin sich an die Stelle von Christus setzen. Diesen pervertierten Messianismus hat sich Hitler ebenso zueigen gemacht – vollkommen ungermanisch und natürlich auch überhaupt nicht griechisch.

Folgende Stichwörter bleiben hier und heute unbearbeitet, aber anregend weiterwirkend, vielleicht sogar für zukünftig zu Schreibendes: Ikonoklasmus; Nizäa und Bursa; Rom – Konstantinopel – Moskau; Griechen und Türken, Slawen und Araber, Europäer und Asiaten; Hannoversch Münden, Ravenna, Byzanz; Jesus-Moschee, Marien-Kirche, Nikolaus-Basilika; „Lebt im Kemalismus das religiös indifferente Volk der unarabisierten Altai-Türken weiter?“; Islamische Blütezeit – eine Adaption rhomäischer Kultur?

Erhofftes subversives Byzanz

Es gibt ein Dokument, das einen direkten Anbandelungsversuch der lutherischen zur orthodoxen Kirche belegt, und zwar das Augsburger Bekenntnis in griechischer Übersetzung. Kein Geringerer als Philipp Melanchthon hat diese Fassung hergestellt. Die deutsche und lateinische Version, die nebeneinander zum Reichstag 1530 vorlagen, genügten bekanntlich keineswegs, dem deutschen König und römischen Kaiser Karl V. nur irgendein wie auch immer geartetes Verständnis zu entlocken. Papistische Confutatio und wiederum allumfassend-kirchlich („katholisch“) gemeinte evangelische Apologie folgten im nicht endenwollenden Glaubenskonflikt in deutschen Landen.

Da spitzte der Gräzist aus Wittenberg seine feine Feder und schickte eine Confessio Augustana graeca an den Patriarchen von Konstantinopel. Er erhielt niemals eine Antwort. Wahrscheinlich war dem christlichen Bischof in Istanbul der gesamte Streitgegenstand theologisch völlig fremd. Und vor allem wird die Kirchenbehörde in der Hauptstadt des nunmehr muslimischen Kaisers wenig Interesse daran gehabt haben, die ohnehin schwierigen Beziehungen zum Sultan noch mit einem innerkirchlichen und nach außen hin vor Ort völlig unverständlich-unvermittelbaren Streit zu belasten.

Melanchthon mag sich ideelle Unterstützung durch jene Kirche erhofft haben, die den Römerbrief des Apostels Paulus in dessen Originalsprache gottesdienstlich zu verlesen imstande war. Rechtes Schriftverständnis aus biblischem Ursprung heraus hätte dann wundervolle Argumente gegen die Papstkirche liefern können. Und, wer weiß? – Hieronymus Wolf wäre womöglich von seinem bisweilen abergläubischen Professor mental hinübergewechselt zu einem geerdeten lutherischen Mann, ganz ohne Angst vor Spinnen und womöglich auch ohne Respekt vor devotem „Byzantinismus“. Doch DAS ist natürlich reine Spekulation.

Foto: Hagia Sophia in Konstantinopel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Guter Mond

Meine erste richtig große Liebe hieß Aynur und war eine Klassenkameradin im ersten Schuljahr. Ihr Vater arbeitete hart in einem Werk der Automobilbranche, ein sogenannter Gastarbeiter aus der Türkei. Als die Familie wegzog in einen anderen Stadtteil und daher Aynur die Grundschulklasse und somit mein Gesichtsfeld verließ, flossen allseits Tränen über kindliche und erwachsene Wangen.

Einer meiner Urgroßväter wusste aus eigenem Erleben zu erzählen, dass bei der von internationaler Prominenz begleiteten Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der seitdem zwischen Brunsbüttelkoog und Holtenau Nord- und Ostsee miteinander verbindet, der Militärkapelle keine Nationalhymne für das Osmanische Reich  bekannt war, so dass sich die Musiker kurzentschlossen darauf einigten, das Lied „Guter Mond, du gehst so stille“ zu intonieren. Das war im Jahre 1895; mittlerweile, seit 1948, nennt sich die Wasserstraße, gemäß den allerersten Planungen im neunzehnten Jahrhundert, Nord-Ostsee-Kanal.

Mein Großvater mütterlicherseits wurde nach schrecklicher Verwundung vor Verdun – er verlor fast sein gesamtes Augenlicht – Paradeoffizier in Konstantinopel, stationiert an Bord eines der deutschen Kriegsschiffe unter Observanz der Hohen Pforte. Die Marine war des Deutschen Kaisers weithin geachtetes Glanzstück, im übrigen so gar nicht kriegsrelevant – weswegen die Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven im November 1918 die Revolution auslösten: als sie nämlich endlich auslaufen sollten, aber zu einem in den letzten Kriegstagen aussichtslosen und daher unsinnigen Einsatz.

Ay: Mond, nur: Schein; also „Mondschein“ war der Name meiner Freundin – wenn man ihn wortwörtlich aus dem Türkischen übersetzt. Und auch zwischen Brunsbüttel und Kiel scheint der Trabant gern. Mein Opa verabscheute seit dem Ende seiner Soldatenzeit so vehement den Krieg, dass er der Hitlerei von vornherein mit Verachtung begegnete – als mittlerweile Reichsbankbeamter späterhin ab 1933 keine leichte Option; er hat sie durchgezogen, allen Verlockungen des NS-Staates zum Trotz – großartig, dass er nie PG wurde.

Die Jungtürken waren die Hoffnung damaliger Zeiten. Aber sie überspannten den Bogen von Anfang an. Warum mussten die Schrift, der Kalender, die Kleidung so dermaßen verändert werden? War es klug, die Religion derart streng vom Staat zu trennen? Im Zuge der Begeisterung für den seit 1905 in Frankreich herrschenden Laizismus sind die Grundlagen der Türkischen Republik von 1923 gewiss verständlich – doch auf die Dauer haltbar? Wer jemals das Atatürk-Mausoleum besucht hat, weiß, wie befremdlich und brüchig solch ein weltlicher Totenkult ist, bei aller Anerkennung der Verdienste des Kemal Mustafa Pascha.

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Nun also haben wir die Kulmination von Oberhausen. Meine Freundin wäre entweder entsetzt – oder sie ist längst mit einem Mann verheiratet, hat Kinder, deren Meinung darin sich manifestiert, dass sie ein Parlament négligeable und die Todesstrafe super finden. Vernachlässigenswert wäre ja dann auch die korrekte Hymne, weil solche Lieder eher aus Europa kommen und man sich erdoganmäßig ja davon befreien will. Außerdem aber wird sich mein Großvater im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was an Ermächtigung sich gerade in Istanbul und umzu abspielt.

Wo bleibt eigentlich unser bundesdeutscher Verfassungsschutz? Wie kann es möglich sein, dass er einen türkischen Ministerpräsidenten in einem westdeutschen Fußballstadion massiven Änderungen bei sich daheim das Wort reden lässt, hinauslaufend auf eine Abschaffung der Gewaltenteilung? Und dabei noch billigend in Kauf nimmt, dass ein sportliches Spiel – an einem Sonnabendnachmittag! – ausfällt? Die Türkei ist ein schönes Land – aber Galatasaray dann doch schöner als jener Palast in Angora, dessen derzeitiger Hausherr mit seinem Bau einen Park verunstaltete, wo die Wurzeln hochgewachsener Bäume auf den Staatsgründer selbst zurückreichen.

„Guter Mond“, möchte man da einfach sagen. Ach, was muss die Sichel leiden unter den widerstreitenden Interpretationen der rabies theologorum, deretwegen ja bereits ein Philipp Melanchthon, seines Zeichens immerhin „Deutschlands Lehrer“, das Zeitliche durchaus gern segnete. Diese „Wut der Theologen“ hat der praeceptor Germaniae niemals goutiert; an ihr ist er dann nervenaufgerieben gestorben.  Hingegen wurde der zaghaft sich zeigende aufgehende Mond zum Sinnbild islamischer Potenz.

Der derzeitige türkische Staatspräsident hat eine theologische Ausbildung absolviert. Predigen kann er im Prinzip – doch ist das alles, was er sagt und tut, tatsächlich im Sinne des guten Mondes? Freut seine Rede meine Freundin Aynur denn wirklich? Würde mein Opa sagen, jetzt gehe es mit den Osmanen endlich wieder bergauf? Dreimal ist zu antworten: Mitnichten.

Es weinen derzeit viele Menschen wegen der Türkei. Sie sind mental gebunden an ein Land, wo Familie und Freunde wohnen. Möge das Zeichen des guten Mondes allen Rechtleitung geben.

Foto: Atatürk-Portrait in der türkischen Provinz