Kapitolinische Kapitulation

„Alle Wege führen nach Rom“ – niemand kommt an der Roma aeterna vorbei, und das gilt bereits seit nunmehr rund drei Jahrtausenden. Mit dem Zweizeiler „Sieben-fünf-drei: / Rom kroch aus dem Ei“ erinnert die deutsche lateinpädagogische Spruchweisheit an die beiden Gründungsbrüder Romulus und Remus, die von einer Wölfin aufgezogen wurden. Die entsprechende Freiluftplastik ist auf dem Kapitolshügel zu sehen. Niedersächsische Wolfsberater mögen dies für ihre Arbeit zu vereinnahmen wissen, sofern sie diese Legende noch kennen. Aber seit dem Jahr 753 vor Christi Geburt ist eben in der „Ewigen Stadt“ allerhand Sonstiges passiert. Zum Beispiel wurden im kapitolinischen Senatspalast Anno Domini 1957 (also nach Christi Geburt!) die „Römischen Verträge“ unterzeichnet. Keine sechzig Jahre ist das jetzt her. Rom ist Europa, und deshalb ist es so bedenklich, was sich jüngst dort zutrug.

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Auch den Präsidenten der Islamischen Republik Iran nämlich führte ein Weg nach Rom. Italien sei für die ölreiche und wieder in die internationale Staatengemeinschaft aufgenommene Regionalmacht am Persischen Golf einer der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner der westlichen Welt, hieß es. So machte also der weltliche Repräsentant eines von einem „geistlichen Oberhaupt“ kontrollierten Landes jener mondänen Kapitale seine Aufwartung, wo ebenfalls ein heutzutage säkular-republikanisches System Tür an Tür mit einem religiös-monarchischen Regiment wohnt. Aber – im Gegensatz zum Mullahregime in Teheran – seit 1929 in zwei völlig voneinander unabhängigen Staaten! Weltweit einmalig. Wie unterschiedlich die Repubblica Italiana und die Città del Vaticano agieren, zeigte sich im Umgang mit dem schiitischen Gast.

In Italien mussten es unbedingt die Kapitolinischen Museen sein, den iranischen hohen Herrn zu empfangen. Welch eine Gelegenheit, die dortigen Götterstandbilder aus der griechisch-römischen Antike, gesammelt seit den Zeiten der Renaissancepäpste, zu präsentieren! Jene weiblichen wie männlichen Idealmenschen, die, in Stein gehauen oder in Gips modelliert, vom abendländischen Humanismus so begeistert wiederentdeckt wurden und seitdem der gesamten zivilisierten Menschheit als Maßstab für Schönheit, edle Einfalt und stille Größe gereichen. Aber nun hatte man im Vorfeld des Besuchs gehört, dass Freizügigkeit überhaupt im Orient tabu sei. Die Regierung von Bella Italia sorgte deshalb dafür, dass die Statuen komplett unsichtbar wurden, eingehegt in hölzerne Schrankwandgevierte, anzusehen gleich aufrecht stehenden Särgen. Bloß dass die iranische Delegation nichts sehen müsse von dem, was in normalen Zeiten den Stolz der Stadt und des Erdkreises ausmacht.

Ganz anders die Visite beim römischen Bischof: Papst Franziskus und Präsident Ruhani posierten aufgeräumt vor einem Gemälde, das die Auferstehung Christi zum Thema hat. Wäre das nicht eigentlich die größere und schwerwiegendere Zumutung für den hochgestellten Muslim gewesen? Zwar wird im Islam Jesus als der bedeutendste Prophet vor Muhammed verehrt, man weiß sogar, dass Isa als Sohn der Maria ein Jungfrauenkind ist – aber bei Karfreitag und Ostern scheiden sich die Geister dann doch in höchstem Maß. Und dennoch begab sich der Repräsentant eines Staates, der einmal angetreten war, für alle Muslime dieser Welt zu sprechen, offensichtlich unaufgeregt unter ein Bild, das eben dieses Urereignis der christlichen Botschaft darstellt. Political correctness hätte doch hier eine vollständige Bedeckung des Motivs mit sichtundurchlässigem Stoff einfordern müssen, oder?

Diese unterschiedlichen Umgänge mit ein und demselben Gast lassen sich womöglich allzu rasch erklären. Italien scheint sich, wie so viele europäische Staaten, nun auch völlig unterworfen zu haben – durchaus im Sinne einer sousmission Houellebecq’scher Dimension, mit einer selbstauferlegten „politisch korrekten“ Zurücknahme und Verleugnung, die sowohl den „neuen Rechten“ als auch den Islamisten in die Hände spielt; und die andererseits alle in der Nachfolge der wirklich idealistischen Europäer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Schlagbäume niederrissen, ratlos und traurig zurücklässt. Der Vatikan hingegen steht felsenfest zur abendländischen Tradition. Dieser gehört eben nicht nur Theologie und kirchengeschichtlich Gewordenes zu, sondern alle Kunst und Kultur, die im Christentum irgendwann Geltung erlangt hat, die vorchristlichen Zeiten unbedingt einbeschlossen. Was wir als „europäische Werte“ mittlerweile allzuoft nur noch als inhaltsleere Monstranz vor uns hertragen, aber bei jeder heiklen Situation dann doch ängstlich verstecken, das wirkt – ich als Lutheraner in heutigen Zeitläuften muss das neidlos anerkennen – im römischen Kirchensystem unerschrocken selbstverständlich und daher beeindruckend standhaft einfach weiter.

Wir stehen an einer Wegscheide. Europa, das wird an diesem römischen Vorfall deutlich, darf niemals identisch werden mit dem, was in Brüssel oder ferngelenkt in Amerika vorentschieden wird. Was uns durch die Römischen Verträge einst zugesichert wurde, war ein Kontinent in Frieden und Wohlstand mit Grundlage der christlichen Kultur, einschließlich ihrer Vorboten und Nachwirkungen. Das heißt aber auch, dass wir mit all dem uns selbst ins Abseits befördern, was wir für Vertreter anderer Kulturen aus eigener Initiative heraus, in vorauseilendem Gehorsam,  als „peinlich“ oder „diskriminierend“ oder „nicht wertschätzend“ bloß vermuten und vermeinen. Als eine Kapitulation entlarvt sich solch ein – von geistreichen Zeitgenossen treffend benannt: – „betreutes Denken“, das zum Lachen wäre, wenn es nicht so böse Folgen nach sich zöge. Denn wer sich verkriecht, aus Furcht, er könne anecken, hat schon verloren.

Kenner der nahöstlichen Welt sagen uns jeden Tag, wie sehr die Menschen aus jenen Gefilden sich über die sogenannten Gutmenschen unter uns lustig machen. Und es bleibt dann nicht beim harmlosen Spott, sondern es entwickelt sich eine Respektlosigkeit, die kein Mensch wollen kann, wohnt in ihm noch ein Funke von geistig-energischem Wahrhaftigkeitsstreben in Hinsicht auf gottesfürchtige Barmherzigkeit und weltbürgerliche Humanität. Nur so lassen sich kleinkarierte Ängstlichkeit und brutaler kultureller Ausverkauf stoppen. Es wäre für unseren guten alten Kontinent jammerschade, wenn alle künftigen Wege ins schöne Rom vor dummen hölzernen Verschlägen endeten. Holzwege kennt die Welt schon mehr als genug.