Zwanzig/Einundzwanzig

Es klingt in den Ohren von besonders sensiblen Mitmenschen vielleicht ein wenig nach „Siebzig/Einundsiebzig“, aber das ist durchaus beabsichtigt. Noch war der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 offiziell nicht beendet, Kaiser Napoleon III. jedoch bereits seit Monaten abgesetzt, da begann am Neujahrstag 1871 auf dem Papier die Existenz des Deutschen Reiches. Die Ausrufung des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles erfolgte dann am 18. Januar. Einerlei für Reichskanzler Bismarck: Der nachgereichte und entsprechend hastig improvisierte Pomp bestätigte lediglich nur einmal mehr die schlichte Tatsache, dass es den lange angestrebten deutschen Bundesstaat nun wirklich gab.

Einhundertfünfzig Jahre ist das jetzt her. Der heute regierende französische Staatspräsident sprach im März 2020 von einem „Krieg“, in dem wir uns befänden – gegen das Coronavirus, dem man mit allerlei Maßnahmen denn auch begegnete. In Frankreich, Italien, Spanien und Belgien etwa wurden und werden regelrechte Ausgangssperren verhängt; hier in Deutschland ist es bisher weniger hart, weswegen der Begriff „Lockdown“ (Einschluss, Einsperrung, Polizei und Militär auf den Straßen zur Überwachung) unzutreffend ist: Man sollte besser von „Shutdown“ (Schließung von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen) sprechen. Nun werden viele der verhängten Bestimmungen in unser Neues Jahr 2021 hinein weitergelten. Insofern dauert Macrons rhetorische Positionierung an. Auch „2020/21“ lässt sich demnach in einem Atemzug lesen und sprechen.

Reden wir aber von Dingen abseits jenes mexikanischen Maisbieres, dessen Schöpfer in den 1920er Jahren seine Treue zur spanischen Krone bekräftigen wollte, weswegen er es „Corona“ nannte. Denn das Neue Jahr Anno Domini MMXXI hält viele Jubiläen und Gedenktage bereit. Aus ihnen habe ich pro Monat ein Datum ausgewählt. Es geht im Januar, wie gesagt, los mit der Reichsgründung 1871 (vor 150 Jahren). Sodann: Ab dem 25. Februar 1721 erschien die „Berlinische Priviligierte Zeitung“ (ab 1751 „Vossische Zeitung“) dreimal wöchentlich (vor 300 Jahren). Am 3. März 321 erklärte Kaiser Konstantin den Sonntag zum allgemeinen wöchentlichen Ruhetag im Römischen Reich (vor 1700 Jahren). Am 17. April 1521 sprach Martin Luther in Worms vor Kaiser und Reichsständen (vor 500 Jahren). Am 6. Mai 1871 wurde Christian Morgenstern geboren (vor 150 Jahren). Im Juni 1796 spielte der fünfundzwanzigjährige Ludwig van Beethoven Klavier vor dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. in Berlin (vor 225 Jahren). Am 1. Juli 1696 wurde Gottfried Wilhelm Leibniz fünfzig Jahre alt (vor 325 Jahren, nach dem gregorianischen Kalender; demnach im Juni julianisch/im Juli gregorianisch 1616 geboren, vor 375 Jahren). Am 15. August 1771 kam Sir Walter Scott zur Welt, der „Erfinder“ des historischen Romans (vor 250 Jahren). Am 11. September 2001 war „Nine-Eleven“ (vor 20 Jahren). Am 11. Oktober 1896 starb Anton Bruckner (vor 125 Jahren). Rückwirkend zum 1. November 1946 wurde das Land Niedersachsen gegründet (vor 75 Jahren). Am 10. Dezember 1971 erhielt Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis (vor 50 Jahren).

Wem dies an Fest- und Gedenktagen nicht genügt, dem habe ich noch etwas nachzureichen. Seit drei Jahren ist es in manchen hochgebildeten Kreisen eine Gaudi, besondere Ereignisse durch Schnapszahlen zu ermitteln, vorzugsweise dreistellig. So wurde 2018 der dreihundertdreiunddreißigste Geburtstag von Johann Sebastian Bach feierlich-fröhlich begangen. Dadurch angeregt habe ich mich umgesehen und bin auf überwiegend politische Daten gestoßen: 1910 wurde in Portugal die Erste Republik errichtet (vor 111 Jahren). 1799 erschien anonym das Buch „Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“, rasch identifiziert als ein Werk von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher; außerdem erlebte die Welt den 18. Brumaire des Jahres VIII im französisch-republikanischen Kalender, also den 9. November 1799: Staatsstreich von Napoléon Bonaparte (vor 222 Jahren). Ab Mai 1688 kam es zur „Glorious Revolution“ in England (vor 333 Jahren).


Was Schnapszahlen anbetrifft, so kann ich leider nur zweistellig dienen. Vor 33 Jahren wurde dieser damals 22-Jährige oben im Gebirge gestellt, abgelichtet und also dokumentiert. Die nachgerade zarathustrische Heiterkeit unzeitgemäßer Betrachtungen ist durchaus beachtenswert und kann sich gern überallhin verbreiten. Besser ist immer ein Lachen Nietzsches (vor 150 Jahren, als Professor in Basel, war er noch nicht ganz soweit, das änderte sich in der Folge). Sicher sind wir in jedem Fall bei August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der das „Lied der Deutschen“ 1841 dichtete (vor 180 Jahren; Quersumme 9, also 3×3, insofern auch ein bisschen schnapsig), und der in seinem Spätwerk die Coronaworte fand: „Der größte Lump im ganzen Land, / das ist und bleibt der Denunziant.“ Aber nun hoffen wir mal großzügig, dass solche finsteren Wahrheiten im Jahre 2021 gar niemand aussprechen muss – weil tout le monde freundlich und sachlich bleibt. In diesem Sinne: Frohes Neues Jahr!

Mauerdurchbruch

Als vor dreißig Jahren infolge einer Verkettung glücklicher Umstände – ich sage nur: Schabbi „unverzüglich“ – am Grenzübergang Bornholmer Straße die Berliner Mauer unter dem Druck der versammelten Menschen geöffnet wurde, lag Deutschlands Zukunft in unbekannter Form und Ferne ganz weit weg. Glücksmomente sind reine Gegenwart. Von solch einer Beschaffenheit war der Abend des 9. November 1989.

Der sprichwörtliche Himmel über Berlin, cineastisch bereits zwei Jahre zuvor in aller Munde – ich sage nur: „Kind“ Handke – , strahlte tagsüber prächtig, noch viele Wochen in jener Zeit. Er beschien ausgemusterte Elektrowaren, die nun an begeisterte DDR-Bewohner verkauft werden konnten; er blickte freundlich auf das menschliche Gewimmel am Kurfürstendamm; er sah hell in sich umarmende westöstlich vereinte Deutsche unterschiedlicher Staatsangehörigkeit; und er meinte es offensichtlich gut mit allem, was kommen würde.

Günter Schabowski (auf einer Pressekonferenz zum neuen Reisegesetz der DDR) und Peter Handke (diesjähriger Literaturnobelpreisträger, man lese und höre wieder einmal das „Lied vom Kindsein“ in der Rezeption durch den Filmemacher Wim Wenders) haben auf je ihre Art unwissend Mut gemacht: 1987 dachte nur Präsident Reagan bei seinem Berlinbesuch das Undenkbare – ich sage nur: „Tear down this wall“ – , verlacht von allen Westdeutschen, die es sich in der Zweistaatlichkeit bequem gemacht hatten. Und 1989, am frühen Abend des zweiten Donnerstags im elften Monat, wurde aus der trockenen Ankündigung, dass man eine neue Regelung gedenke einzuführen, derzufolge künftig DDR-Bürger ohne besonders begründeten Antrag in den Westen reisen könnten, durch die Nachfrage eines italienischen Reporters – ich sage nur: „Wann“ tritt die in Kraft? – eine unumkehrbare Abstimmung mit Trabbis und Füßen.

Vom damaligen „Ende der Geschichte“ sind wir nunmehr, trotz 2001-Nine-Eleven und nachfolgenden weltweiten Kriegen wie Flüchtlingsströmen, schlafwandlerisch doch irgendwie im „Kampf der Kulturen“ gelandet, auch wenn das derzeit viele nicht hören wollen – ich sage nur: „Wir schaffen das“. Die Deutschen, 1989/90 „das glücklichste Volk der Welt“ – ich sage nur: Mauerfall, Fußballweltmeister, Wiedervereinigung – sind seit einiger Zeit dabei, alles „Nationale“ über Bord zu werfen. Dabei übersehen sie in ihrem Wunsch nach Buntheit und Vielfalt, dass zum Leben und Lebenlassen die jeweils einzelne, also persönlich-individuelle Geburt gehört, welche in ganz handfeste, klar bestimmbare familiäre, sprachliche, religiöse, traditionelle, kulturelle und – nachgelagert – auch staatliche Zusammenhänge hinein sich ereignet. Was der tiefe herzerschütternde und tränentreibende Grund zur Freude 1989 war – ich sage nur: Willy Brandts Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – , soll in der heutigen multikulturell umgeformten Gesellschaft keine Rolle mehr spielen. Wirklich nicht?

Entsprechend wirr ist die Rückseite der Zwei-Euro-Sonderprägung – ich sage nur: Die D-Mark musste in der Verhandlungsfolge „2 plus 4“ dran glauben – zum Mauerfalljubiläum ausgefallen. Die jubelnd hochgereckten Hände vorm Brandenburger Tor mögen den Glücksmoment ansatzweise einfangen; aber eine deutende Grundierung bleibt in dieser künstlerischen Darstellung weitgehend aus.

mauerfall

Sei’s drum. Wie gut, dass meine Zigarettenbüchse, in welche ich die Tabakwaren stets nach deren Erwerb „sofort“ wegen der mir unerträglichen – ich sage nur: „pädagogisch wertvollen“ – Ekelbilder hineinumsortiere, mit einer unregelmäßig weißgesprenkelten Oberfläche auf blauem Grund eingefärbt ist – ich sage nur „Europa“! Man müsste Latein sprechen können – ich sage nur nati bzw. nasci: geboren werden – , dann wäre gedanklich vieles besser einzuordnen. Denn nicht nur die deutsche Geschichte ist vom 9. November geprägt – ich sage nur: 1848, 1918, 1923, 1938, 1989 – , nein, auch außerhalb unseres Sprachraums ist dieses Datum von Bedeutung.

Am 18. Brumaire VIII, also 9. November 1799 putschten die Gebrüder Buonaparte, Lucien und Napoléon, erfolgreich gegen das Direktorium und erklärten die Französische Revolution offiziell für beendet. Der neue „starke Mann“ – ich sage nur: Konsul, Kaiser, Kriegsherr – hielt das verängstigte restliche Europa noch viele Jahre in blutigem Schach; „das Böseste, was es gibt“ – ich sage nur: Vor dem Sturm (Fontanes erster Roman) – , konnte erst mit dem Wiener Kongress unschädlich gemacht werden. In der politisch bleiernen Restaurationszeit ab 1815 geriet vieles an fraglos positiven, zumindest auf dem Papier existierenden Errungenschaften der Ersten Französischen Republik tragischerweise in Vergessenheit, ja im Lauf des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sogar in Verruf: Die bürgerliche Gleichstellung der Juden gehört dazu …

Der 9. November ist für viele Menschen in aller Welt aber auch ein hoher Festtag, und zwar in der römisch-katholischen Kirche. An jenem Tag im Jahr 324 wurde die Mutter und das Haupt aller Kirchen der Stadt Rom und des Erdkreises feierlich geweiht. Bischof Silvester und Kaiser Konstantin richteten auf dem Baugrundstück der alteingesessenen Familie Laterani ihre Gebete an den Salvator direkt – ich sage nur: Gut evangelisch! – ; die Patrozinien von Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten traten ergänzend hinzu. So kennen wir das Gotteshaus bis heute unter dem Namen San Giovanni in Laterano: Die Lateranbasilika war bis zum Großen Abendländischen Schisma 1309 die Papstkirche. Vom Vatikan war kaum die Rede.

Bau – ich sage nur: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ und Fall – ich sage nur: „O Durchbrecher aller Bande“, unvorstellbar bis zum besagten glorreichen Augenblick – : Beides ist im Blick auf die innerdeutschen tödlichen Grenz- und Sperranlagen gottlob Vergangenheit. Wenn es gegenwärtig so etwas wie zukunftsoffene tatkräftige Ökumene im Sinne einer weltweit und himmelwärts gedachten Ahnung des Unendlichen geben sollte – dann sage ich nur: Seid wachsam und bleibt dankbar.

Foto: Münzfester deutsch-deutscher Freudentaumel. Die Ereignisse am 9. November im deutschsprachigen Raum: 1848 Hinrichtung des Abgeordneten zum Paulskirchenparlament Robert Blum in Wien. 1918 Abdankung des Kaisers Wilhelm II., Ausrufung der Republik in Berlin. 1923: Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle in München. 1938: Judenpogrome in ganz Deutschland – der Staat als Terror- und Mörderbande. 1989: Fall der innerdeutschen Grenzen – Anfang vom Ende der kommunistischen DDR-Diktatur.