Jesus nahm zu …

… sich die Zwölfe: So lauten die ersten Worte jener Kantate, mit der sich Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Sonntag Estomihi 1723 in Leipzig bewarb. Volle dreihundert Jahre ist dies nun her. Bach bekam den Posten des Thomaskantors und städtischen Musikdirektors – aber nur deshalb, weil zuvor der favorisierte Georg Philipp Telemann (1681-1767) abgesagt und der zweitplazierte Christoph Graupner (1683-1760) von seinem Dienstherrn keine Erlaubnis zum Stellenwechsel bekommen hatte.

Bach trat sein neues Amt zum Ersten Sonntag nach Trinitatis an, das war Ende Mai 1723 – und blieb bis zu seinem Tod auf dieser Stelle, 27 Jahre lang. Jesus nahm zu, und zwar in einer Weise, wie es die Leipziger nicht gedacht hätten – und eigentlich auch nicht wollten. Denn fortan bekamen sie in den Gottesdiensten der Thomas- und der Nicolaikirche regelrechte musikalische Predigten zu hören: kunstvoll gearbeitet und zugleich tief beseelt – in ihren Ohren jedoch unangemessen hochdramatisch, gar opernhaft. Das überforderte so einige, die in der stolzen Bürgerstadt den Ton angaben. Auch die Prediger auf den Kanzeln und die Gemeinden unter ihnen hatten für diese Bachsche gottesdienstliche Musik mit Soli, Chor und Orchester, die auf den Emporen von den Sängern und Instrumentalisten der Thomaner aufgeführt wurde, oftmals nur Stirnrunzeln übrig.

Bach bemerkte bald, dass unter diesen Umständen sein Feuereifer für das musikalisierte Evangelium an der Harthörigkeit der städtischen Bürgerschaft erlöschen musste. Mitten im dritten Jahrgang der Kantaten brach er mit der wöchentlichen Neuproduktion (nur jeweils durch Advents- und Passionszeit unterbrochen) ab. Eine vierte und vielleicht auch fünfte Serie stoppelte er noch zusammen. Aber danach führte er zunehmend eigene ältere Werke oder die von Familienmitgliedern auf, präsentierte Musiken von Kollegen wie zum Beispiel Telemann oder ließ so manches seit Jahrzehnten vergessene Stück aus dem reichhaltigen Archiv der Thomasschule erklingen. Der eigene Fundus diente zudem, wenn er nicht in späteren Kirchenjahren eins zu eins wiederaufgeführt wurde, als Material für Umarbeitungen und Ergänzungen. Nur noch selten komponierte er neue Kantaten, vielfach aber auch dann kompiliert und arrangiert aus bereits vorhandenem Material: zum Beispiel in den 1730er Jahren ein halbes Dutzend, das „Weihnachtsoratorium“.

So oder so aber nahm Jesus zu. Nach der Wiederaufführung der Matthäuspassion durch den gerade zwanzigjährigen Felix Mendelssohn (1809-1847) im Jahre 1829 wurden auch die Bachkantaten neu entdeckt. Es war die Zeit zwischen politischer Restauration, Biedermeier und Vormärz (1815-1848), die insgesamt eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit mit sich brachte. Dass Bach zu den großen historischen Figuren gehören würde, galt nun als ausgemachte Sache. 1850 gründete man die Bachgesellschaft, die eine Gesamtausgabe aller Werke Johann Sebastian Bachs zum Ziel sich setzte. Robert Schumann (1810-1856) und Johannes Brahms (1833-1897) trugen ihren Teil dazu bei. Nachdem im Jahr 1900 diese Großtat vollendet war, folgte die Gründung der Neuen Bachgesellschaft e.V., die bis heute besteht und sich der „Neuen Bach-Ausgabe“ sowie einer zeitgenössischen Bachpflege verschrieben hat.

Im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) von 1950 stehen die Kirchenkantaten ganz am Anfang, BWV 1 bis 199. „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ trägt die Nummer 22. Die erste Leidensankündigung Jesu zu Beginn der vorösterlichen Fastenzeit wird kombiniert mit Anklängen an den weihnachtlichen Letzten Sonntag nach Epiphanias drei Wochen zuvor. Der warmherzig-melancholische Beginn geht in dieser Kantate auf in einer Festmusik, die in der Erinnerung an die Verklärung Jesu bereits Ostern in den Blick nimmt. Eine schöne Aufnahme zum Anhören auf YouTube: J.S.Bach/Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV 22 (Herreweghe).

Bachs Kantaten haben, seitdem sie in der Welt sind, diese eigentlich immer schon geistig-geistlich überwunden durch ihre musikalische Rhetorik. Texte der Lutherbibel, Choräle aus der Reformationszeit bis hin zu Paul-Gerhardt-Liedern, Arien auf Dichtungen der Bachzeit: In dieser Musik wird alles zur Klangrede der biblischen Botschaft. Die Jüngerschar der „Zwölfe“ setzt ihrem Meister in dem Probestück vom 7. Februar 1723 durchaus zu, aber das tut dessen Predigt und Geschick keinen Abbruch. Wo immer Bachs Evangelium erklingt, kann der Glaube im Wachsen begriffen sein, völlig unabhängig von ach so wichtigen heutigen öffentlichkirchlichen Verlautbarungen zu sämtlichen tagespolitischen Themen – wie einst, als der Solist anhub: „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“.

Jesus nahm zu, damals, mit Bachs Kantaten für die Sonn- und Festtage des lutherischen Kirchenjahres. Später, in kulturprotestantischen Zeiten, begegnete man Jesus wieder genau in dieser Musik bei konzertanten Aufführungen, bis man sie erneut auch für die evangelischen Gottesdienste im 20. Jahrhundert gemäß ihrem ursprünglichen Eigenverständnis hin und wieder einsetzte. Dieser Brauch hat sich bis heute erhalten. Freilich bedarf es dazu kirchenmusikalisch-hauptamtlicher Personen, entsprechender Chöre und Vokalsolisten, einer geeigneten instrumentalen Ausstattung sowie des nötigen Kleingelds.

Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom (1866-1931) nannte den von Max Reger (1873-1916) als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichneten Bach den „Fünften Evangelisten“. Und in jedem Fall wird Jesus nie geschmälert, sondern seine Botschaft nimmt zu durch die bis heute staunenerregende Klangwelt jenes Musikers, der sich vor 300 Jahren auf das nach wie vor bedeutendste Kantorenamt im evangelischen Deutschland bewarb. Das musikalische Christentum wirkt seither weit hinaus, international und überkonfessionell. Wohl auch in diesem Sinne hat der argentinisch-deutsche Komponist Mauricio Kagel (1931-2008) einmal gesagt: „An Gott zweifeln – an Bach glauben“.

Rheingold, Scheingold, Maingold

2023 hält wieder einige Fest- und Gedenkgelegenheiten bereit. Dass Grundlagen einbrechen können wie nicht mehr tragfähiges Eis, wäre uns vor fünfzig Jahren, in den ersten goldenen 1973er-Monaten, unvorstellbar erschienen.

Mit der erstmaligen Ausstrahlung der „Sesamstraße“ durch mehrere westdeutsche Fernsehanstalten zog ein unbeschwerter Optimismus auch bei den jüngsten Bundesbürgern ein. Obwohl es sich um eine TV-Serie „für Kinder im Vorschulalter“ handelte, waren auch ABC-Schützen und deren Eltern von Ernie, Bert & Co begeistert. Gern ließen wir, die wohlstandsverwöhnten Deutschen, uns generationsübergreifend auf humorvolle amerikanische Art unterhalten und ehrten das Krümelmonster insgeheim mit dem Orden vom Goldenen Keks.

1973 wurde dann nach trittsicherem Beginn aber auch zum Jahr des Ölpreisschocks. Auf den Jom-Kippur-Krieg im Oktober reagierten die arabischen Staaten mit massiven Preiserhöhungen für das Schwarze Gold, was hierzulande zu Sparappellen, Sonntagsfahrverboten und in der Folge zum Bau vieler neuer Atomkraftwerke führte. Man wollte sich befreien von einseitigen Abhängigkeiten. Die güldne Sonne und der Wind, der weht, wo er will, waren damals noch nicht im Gespräch.

Wer 2023 zurückblickt in die große weite und nur zu oft sehr ernste Weltgeschichte, kommt überhaupt an überraschend zahlreichen Daten nicht vorbei, die irgendwie mit Gold, Geld und also auch mit Macht zu tun haben. Vor 75 Jahren, im Juni 1948, wurde in den deutschen Westzonen die Währungsreform durchgeführt. Damit begann, noch bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war, die Erfolgsgeschichte der Deutschen Mark. Sie war übrigens nicht immer so „hart“, wie wir im nachhinein verklärend meinen. Gerade im Zuge der Ölkrise 1973/74 und nur kurze Zeit nach der Abkoppelung des US-Dollars vom Goldwert kam es zu einer Teuerung, die in einem Anstieg von Löhnen und Gehältern bis zu zehn Prozent gipfelte. Vor allem deswegen (die Affaire um einen DDR-Spitzel war nur Anlass, nicht Ursache) musste Bundeskanzler Willy Brandt dann im Mai 1974 abtreten und dem Finanz- und Wirtschaftsfachmann Helmut Schmidt das Amt überlassen.

Anders als heute gab es damals aber noch die „Vierte Gewalt“ in Gestalt einer Bundesbank, die wirklich gehört und geachtet wurde. Sie bewachte in Frankfurt am Main tatsächlich sozusagen das Staatsgold und wehrte alle Versuche ab, das Geld nachhaltig zu entwerten zugunsten haushalterisch flüchtigen Genusses im bloßen Hier und Jetzt. Sie verstand sich eben nicht als Staatsbank, die willfährig abgenickt hätte, was die Regierenden gerade meinten an Wohltaten ausschütten zu können. Vom Grundsatz einer von tagespolitischen Weisungen unabhängigen Notenbank ist nunmehr in Zeiten der EZB so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben.

Die Bank Deutscher Länder, die spätere Deutsche Bundesbank, war ja mit der Zielsetzung gegründet worden, eine verdeckte Geldentwertung wie im Dritten Reich sowie eine Hyperinflation wie die von 1923 ein für allemal unmöglich zu machen. 1948 war 1923 gerade einmal 25 Jahre her – nun werden es, im Herbst 2023, genau einhundert sein. Wir beobachten diesen Teil unserer deutschen Geschichte und verfolgen aufmerksam, wohin sich die europäische Geldpolitik entwickelt und gestaltet – so sie nicht abdriftet und uns in den gesellschaftlichen Untergang reißt. Lassen wir uns nicht aufs Glatteis führen!

Vor 175 Jahren war die hohe Zeit der „48er“. Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichten ihr „Kommunistisches Manifest“ im Blick auf die revolutionären Bewegungen in halb Europa. Den Forderungen nach der „Diktatur des Proletariats“ stimmten viele laut wie leise bei, unter ihnen ein Anarchist namens Richard Wagner, seines Zeichens Kapellmeister in Dresden. Sein nicht musikalisiertes Libretto „Jesus von Nazareth“ schrieb er 1848, intellektuell-werbewirksam an der Seite der Armen und Entrechteten, in einem Tonfall aber auch von Eigenrechtsanspruch und Neid. Der Streit und Kampf um den aus dem Schatz des Rheingoldes geschmiedeten Ring des Nibelungen ist da schon vorgebildet.

Was Johann Sebastian Bach mit seinem Dienstantritt in Leipzig vor nun 300 Jahren (Mai 1723) in Kantaten und namentlich Passionen von den Untiefen menschlichen Begehrens und Sehnens aus klingend-lutherischem Geist hinauf in die goldenen Hallen des Himmelreiches führte, wurde durch Wagner „geerdet“ und zu einem Menschheitsepos verarbeitet, dessen Protagonisten ihren eigenen Gesetzen folgen und im Streben nach ichbezogener Freiheit sich nur immer mehr verhaken und verheddern. Mit der Götterdämmerung hören Goldrausch und Geldgier mitnichten auf. Wer diesen Punkt erreicht hat und angesichts solcher aussichtslosen Lage beginnt, an Gott zu zweifeln, möge an Bach glauben. So jedenfalls hat es der Komponist Mauricio Kagel gehalten, der dieses goldene Wort prägte und dessen Stück sowie Film „Zwei-Mann-Orchester. Für zwei Ein-Mann-Orchester“ vor nunmehr fünfzig Jahren Aufsehen erregte.

Im Herbst 2023 werden es 375 Jahre her sein, dass in den Rathäusern von Osnabrück und Münster Verträge unterzeichnet wurden, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten. Dieser Westfälische Friede war nur deshalb nach jahrelangen Verhandlungen zustandegekommen, weil man eben, trotz allen Anfeindungen, miteinander geredet hatte. Die Gegner solcher Konferenzen, die vor jedweder Friedensordnung deswegen Angst hatten, weil sie dann ihre eigenen territorialen korrupten Willkürherrschaften drangeben müssten, hatten das Nachsehen. Insofern hat dieser Friedensschluss für 2023 womöglich einige Aktualität. Siegt Gewalt um ihrer selbst willen, ferner Gier nach Gold und Geld? Oder geht es nicht doch eher um deren Einhegung innerhalb einer Ordnung, die das verfasste Recht durchsetzt? Sollen wir auf diese eigentlich schon 375 Jahre alte bewährte Einsicht nun noch jahrzehntelang wie auf etwas ganz neu zu Erfindendes warten? Muss jede Generation erst wieder selber auf die heiße Herdplatte fassen, um zur Vernunft zu kommen?

Unter den vielen Anlässen, die in diesem Jahr gefeiert oder bedacht werden können, sei für heute nur noch die Grundsteinlegung des gotischen Kölner Doms zu nennen. Sie erfolgte 1248, also vor 775 Jahren. Geld hatte sich dort durch das Gold des Dreikönigsschreins unermesslich vermehrt. Die unablässig in die Rheinmetropole strömenden Pilgersleute brachten Reichtum und Wohlstand, so dass man aus dem Vollen schöpfen zu können meinte und sich frohgemut ans Werk machte. Nach etlichen geistigen und materiell-finanziellen Durststrecken kam das Projekt spätestens mit der Zeit der Reformation dann gänzlich zum Erliegen. Noch Heinrich Heine und Robert Schumann ließen sich von einer Bauruine inspirieren: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beziehungsweise der langsame Satz aus der „Rheinischen“ Symphonie sind gewissermaßen im Vorgriff auf das Endprodukt geschaffen. Erst im Oktober 1880 wurde die Kathedrale vollendet.

Vom mittelalterlichen quasi rheingoldfinanzierten Dom über inflationäres Scheingeld ohne Golddeckung bis zum 1948er Maingeld aus „Bankfurt“, das vielen bis heute ganz persönlich „mein Geld“ geblieben ist und erinnerungsweise wie tägliches Gold glänzt, kann also in diesem Jahr vieles bedacht und manches gar gefeiert werden – in eisfreien Zeiten wie diesen umso fester!

Haare auf den Szenen

Er/sie/es setzt sich in Szene. Eine haarige Angelegenheit. Die eigenhändige Kopfrasur als öffentlicher Akt. Und das Publikum klatscht hemmungslos Beifall. So geschehen im Frankfurter Römer während der Buchmesse in diesem Herbst 2022. Die schriftstellernd sich betätigt habende Nonbinärperson vorn am Redepult sagt Danke für den Erhalt des Deutschen Buchpreises und zieht obenrum blank, um ein Zeichen zu setzen in Solidarität mit Frauen im Iran. Ob denen das was hilft?

Bipolare Störung ganz neuer Art. Die Sprache als kulturelle Errungenschaft wird zur Nebensache, wenn Gendersprech um die Ecke biegt und jeglichen Ausdruck in textueller Form zunächst sexuell auflädt, um ihn anschließend dafür und deswegen anzuklagen, zu kriminalisieren sowie im finalen Verdammungsurteil Genugtuung zu erhoffen, indem man geschlechtliche Indifferenz propagiert.

Wer Juror*inn*en zu solch einer Bepreisung kommen und den Saal darob jubeln lässt, hat eindeutig zu tief in den Taumelbecher geguckt. Dieser Schluck war – mal wieder – einer zuviel. Unsere Kultur ist der spätrömischen Dekadenz ja bereits seit längerem gefährlich nahe, wie in anderem Zusammenhang der allzu früh verstorbene Guido Westerwelle einst bissig feststellte – vor nunmehr gut zwölf Jahren.

Friedrich Nietzsche (1844-1900), dessen Geburtstag am 15. Oktober auch in diesem Jahr wieder vergessen wurde, hat sich bereits zu seiner Zeit mit den Verfallserscheinungen des bürgerlichen Kulturbetriebs geisteswach befasst. Er sah jedoch – freilich von unerreichbar hoher Warte aus – zugleich die Morgenröte einer neuen heiteren Welt. Sein vielgescholtener und grob fahrlässig missverstandener Begriff des „Übermenschen“ meint genau dies.

Wir Heutigen hingegen pflegen keine phantasiebegabten Kräfte, die uns zu rundum geistigen Inszenierungen befähigen könnten. Die dazu nötigen künstlerischen Grundkenntnisse sind ja nicht mehr gefragt. Im Bereich des Sprachlichen wären dies, noch vor aller literarischen Formgebung, etwa der Sinn für Klang und Schrift, die Liebe zu reichem Wortschatz und eigenes Zutrauen in Hinsicht auf Orthographie und Grammatik. Des Büchermachens ist kein Ende, aber das richtige Leben muss davon nicht zwangsläufig belästigt werden. Erst dort, wo „Haltungzeigen“ das gute Buch quasi ersetzt, ist der Wurm drin. Wir folgern einigermaßen frech: Das jüngst preisgekrönte Werk ist keinesfalls das beste auf der diesherbstlichen Frankfurter Bücherschau.

Vor genau fünfhundert Jahren ging es entschieden besser mit der Umwertung aller Werte: Auf der Leipziger Buchmesse im Herbst des Jahres 1522 gab es das erste gedruckte Neue Testament in deutscher Übersetzung von Martin Luther. Wir nennen es nach dem Erscheinungsmonat „Septembertestament“. Im Nu war dieses Buch vergriffen. Die zweite durchgesehene Auflage – „Dezembertestament“ – erschien nur drei Monate später und wurde ebenfalls ein Verkaufsschlager. Die lesende Gesellschaft dürstete nach frischem Wasser aus geistig-geistlich verlässlichem Quellgrund.

Die Umstände, die zur Entstehung dieser bahnbrechenden philologisch-literarisch-musikalisch inspirierten Arbeit führten, waren haarig genug: Luther fand sich nach seiner Rückkehr vom Wormser Reichstag Anfang Mai 1521 als Entführter auf der Wartburg wieder. Die, wie sich rasch herausstellte, gutartigen, von Kurfürst Friedrich dem Weisen beauftragten Häscher befahlen dem verängstigten Mönchsprofessor, seine Tonsur unsichtbar zu machen, sprich: sich Haupthaar und Vollbart wachsen zu lassen, um unerkannt als „Junker Jörg“ zu überleben. Seine Gegner in ganz Deutschland sollten glauben, der geächtete und gebannte Rebell Martin Luther sei tot; sein Fall könne zu den Akten gelegt werden.

Der einsame und von Anfechtungen heimgesuchte Burginsasse stürzte sich in Arbeit: Deren zuverlässige Grundlage bildete die wenige Jahre zuvor gedruckte griechische Urtextausgabe des Humanisten Erasmus von Rotterdam. In wenigen Wochen war die Rohfassung dieser deutschen Übersetzung vollendet. Im März 1522 verließ Luther heimlich sein Verlies und kehrte in die Residenzstadt seines ihn schützenden Landesherrn zurück. Durch die „Invocavit-Predigten“ beendete er den Wittenberger Bildersturm, den fanatisierte Kommilitonen unter Professoren und Studenten entfacht hatten. Dann sprach er mit Philipp Melanchthon und anderen Mitstreitern seine Übersetzung Wort für Wort durch, beförderte das Ergebnis zum Druck und brachte so das erste hochdeutsche Buch der Weltgeschichte unter die Leute.

Haare wachsen, Haare fallen. Herren kommen und gehen. Kulturen gehen unter und entstehen neu. In Szene setzen sich alle: die einen, weil sie sich selber total wichtig finden – die anderen, indem sie einfach ihre eigenen Gaben und Fähigkeiten in den Dienst dessen stellen, was sachlich in dem, was Karl Jaspers die geistige Situation der Zeit genannt hat, gerade dran ist und ohne Ansehen der Person/Allgemeinheit/Mehrheitsmeinung gesagt/gelesen/beherzigt werden muss. Merke: Nicht überall, wo man/frau/divers Rasuren/Verzichte/Zeichenhandlungen inszeniert, werden auch tatsächlich alte Zöpfe abgeschnitten.

Felix Mendelssohn

Eine Skizze zu seinem Geburtstag

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren und wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Sein Großvater war der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Fanny und weiteren Geschwistern wurde der junge Felix nach der durch die napoleonische Besetzung erzwungenen Übersiedlung zu Verwandten nach Berlin dort ab 1811 sorgfältig erzogen. Die mozarthaften Wunderkinder erregten bald Aufsehen. 1816 ließen die Eltern sie evangelisch taufen. Reformatorisches Bekenntnis hat Mendelssohns tiefe Frömmigkeit zeit seines Lebens geprägt, bis zu seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren in Leipzig am 4. November 1847.

Abraham Mendelssohn hatte das nötige Kleingeld, seinen begabten Kindern viele Bildungs- und Konzertreisen durch halb Europa zu ermöglichen: in die Schweiz, nach Frankreich und Italien sowie nach England und Schottland. Felix Mendelssohn hat auch als Erwachsener auf den britischen Inseln seine größten künstlerischen Triumphe vor einer riesigen dankbaren Zuhörerschaft gefeiert. Die Reiseeindrücke flossen in Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ (darin unter vielen anderen Hits der weltberühmte „Hochzeitsmarsch“), die Hebriden-Ouvertüre oder die Schottische Sinfonie ein.

Die eigene musikaliensammelnde Verwandtschaft und der Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, machten Mendelssohn mit Bachs Matthäuspassion bekannt. Auch sonst ist allenthalben schon beim ganz jungen Komponisten eine intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel zu erkennen. Seine Wiederaufführung der „großen Passion“ des alten Thomaskantors im Jahre 1829 ist ein Meilenstein der musikalischen Wirkungsgeschichte. Mendelssohn hat damit, als gerade Zwanzigjähriger, etwas mehr als hundert Jahre, nachdem dieses Hauptwerk abendländischer Passionsmusik 1727 erstmals erklungen war, die öffentliche umfassende Bach-Renaissance eingeleitet; sie dauert an bis in unsere Tage.

Mendelssohn hat sich zeit seines kurzen glanzvollen Lebens stets für Kollegen seiner Zunft eingesetzt, indem er ihre Werke aufführte, nachempfand oder anderweitig bekanntmachte: Dazu zählten Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und auch Richard Wagner. Vergleichen wir etwa dessen Holländer-Ouvertüre mit der Einleitung zum Oratorium „Elias“, so merken wir, wie nahe sich der Leipziger Gewandhauskonzertdirektor und sein neidischer musikdramatischer Nachbar in Dresden manchmal waren.

Ganz bewusst komponierte Mendelssohn ein ausgesprochen musikhistorisches Moment in seine Werke ein. So klingt im Oratorium „Paulus“ Bachs Johannespassion nach. Der erste Satz seiner „Italienischen“ atmet Mozarts lichten Geist. Im „Lobgesang“, gezählt als zweite Symphonie, treten Chor und Vokalsolisten hinzu, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter.

Eigene unverwechselbare Zeichen hat Mendelssohn in der Klavier- und Orgelmusik gesetzt: Die „Lieder ohne Worte“ sind quasi seine Erfindung. Und die sechs Orgelsonaten markieren den Beginn einer romantischen Tradition, die vor allem im französischen Sprachraum bei César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne zu hoher Blüte gelangte.

Es gibt so gut wie keine musikalische Gattung, die von Mendelssohn unbeachtet blieb. Er ist einer der letzten Komponisten, die ganz universell dachten und schufen, in der Kirchenmusik wie im Opernfach, in Liedern wie in Solokonzerten, in Motetten, Kantaten, Oratorien, Chören (z.B. „O Täler weit, o Höhen“ oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“) Sinfonien, Schauspielmusiken, Streichquartetten und sonstigen kammermusikalischen Werken.

Die Fülle seines Schaffens erwuchs, ähnlich wie bei Mozart, aus einer gediegenen Allgemeinbildung, die vor allem einen entschiedenen Sinn für die jeweilige Form ausbildete. Was Kritiker meinten, als allzu „glatt“ bemängeln zu müssen, war tatsächlich immer neu hart erarbeitet. Mendelssohn strich, verwarf und korrigierte stets bis zur Drucklegung seiner Kompositionen – und oft noch darüber hinaus, sehr zum Leidwesen der Verleger.  Hierin ähnelte er seinem Kollegen Frédéric Chopin: Nie war er zufrieden.

Felix Mendelssohn, glücklich verheiratet mit der Tochter eines Hugenottenpredigers aus Frankfurt am Main und Vater vieler Kinder, galt zu Lebzeiten und noch viele Jahrzehnte danach als ein geniales Glückskind, das den öffentlichen Musikbetrieb im biedermeierlichen Deutschland schöpferisch und organisatorisch ungemein bereichert hatte. Kein Männerchor im wilhelminischen Zeitalter, der nicht seine Lieder sang; kein Bachverein, der nicht seine kirchenmusikalischen Werke aufführen wollte; kein Konzertpublikum, das nicht nach seinen Ouvertüren und Sinfonien verlangte.

Dass er kein Titan wie Beethoven, kein Grübler wie Brahms, kein Neutöner wie Liszt war – geschenkt. Verhängnisvoll sollte sich im Fortgang seiner Rezeptionsgeschichte allein der Umstand erweisen, dass er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Nazis kannten ja selbst dann keine Gnade, wenn die von ihnen Geächteten längst zum Christentum konvertiert waren – weil bei ihnen überhaupt gar kein Glaube zählte, sondern bloß dumpf das Blut. Das Mendelssohn-Fenster in der Leipziger Thomaskirche verarbeitet diese böse Fama sehr eindrücklich.

So wurde das beliebte e-Moll-Violinkonzert aus dem öffentlichen Musikbetrieb verdrängt, indem man Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert zu etablieren suchte: 1937 wurde dieses Stück, das im 19. Jahrhundert niemand aufführen wollte, erstmals dem Publikum dargeboten. Die Perfidie, noch post mortem Keile zu treiben zwischen Kollegen, die sich im wirklichen Leben geschätzt und unterstützt hatten, ist vielleicht nur ein kleiner Aspekt in dem sich damals schon manifestierenden Grauen der 1940er Jahre – aber eben einer unter unzähligen Schritten, die den aufrichtigen Geist einer zwar unpolitisch-vormärzlichen, aber in sich selbst zutiefst humanen Kultur niedergetrampelt und zertreten haben.

Mendelssohn hat es auch im Nachkriegsdeutschland schwer gehabt. Man traute dem stilistischen Alleskönner nicht recht über den Weg. Wer jedoch die feinsinnige Klangwelt mit durchaus aufbegehrenden Momenten etwa in der „Walpurgisnacht“ oder im c-Moll-„Sinfoniesatz“ zusammenhört, wird nicht umhinkönnen, in ihm einen europäischen Weltbürger zu entdecken, der die heutzutage so gern vollmundig betonte „Vielfalt“ nicht als propagandistisch aufgemotztes Neusprech übergriffig missbraucht, sondern leise und unausdrücklich, schlicht und einfach, gebildet und kunstreich: wirklich GELEBT hat.

Nietzsches Geburtstag wurde mal wieder vergessen

Vor zwei Jahren konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (*15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen / + 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Erst recht gilt dies für eine diesjährige Ehrung zum Hundertsiebenundsiebzigsten!

Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute immer noch oftmals jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie „Herrenmoral“ und „Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit („… vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen („Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch jedem politisch selbstverorteten dezidiert Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als – sagen wir: – Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren: – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass habe ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus all dem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen … Allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (*1813 in Leipzig / +1883 in Venedig), der ihm da auf die Schliche kam. Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein „Fall Wagner“ ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat der zutiefst gekränkte Nietzsche sich intellektuell nie wieder richtig erholt.

Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der Schüler in Schulpforta (Naumburg a.S.) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen.

Unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. „Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitschuf, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon und dachte bei mir: Dann kann er ja gar nicht so deutschtümelnd-herrisch sein! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik macht wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie nun einmal ist! Mich begeistert diese schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bedient: Das steigert den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Hier bricht sich ein fröhlich enthemmter Freigeist seine Bahn, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere. „Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch „Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser „Anklage“ ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen „Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche trotz aller Widersprüche dankbar anerkennt.

Wer sich auch heute in tumben Coronazeiten für unkonventionelle Wahrheiten und unzeitgemäße Betrachtungen interessiert, darf seinen Denkstil zuversichtlich durch Friedrich Nietzsche anregen lassen, völlig fern von ideologischer Überfrachtung links wie rechts – dafür unaussprechlich heiter und immer eigenständig!

Gekürzte und leicht aktualisierte Fassung des Beitrags https://feoeccard.com/2019/10/16/die-ehre-nietzsches-aus-der-natur/

Felix Mendelssohn zum Geburtstag

Eine Skizze

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde vor zweihundert und einem Dutzend Jahren am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren und wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Sein Großvater war der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Fanny und weiteren Geschwistern wurde der junge Felix nach der durch die napoleonische Besetzung erzwungenen Übersiedlung zu Verwandten nach Berlin dort ab 1811 sorgfältig erzogen. Die mozarthaften Wunderkinder erregten bald Aufsehen. 1816 ließen die Eltern sie evangelisch taufen. Reformatorisches Bekenntnis hat Mendelssohns tiefe Frömmigkeit zeit seines Lebens geprägt, bis zu seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren in Leipzig am 4. November 1847.

Abraham Mendelssohn hatte das nötige Kleingeld, seinen begabten Kindern viele Bildungs- und Konzertreisen durch halb Europa zu ermöglichen: in die Schweiz, nach Frankreich und Italien sowie nach England und Schottland. Felix Mendelssohn hat auch als Erwachsener auf den britischen Inseln seine größten künstlerischen Triumphe vor einer riesigen dankbaren Zuhörerschaft gefeiert. Die Reiseeindrücke flossen in Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ (darin unter vielen anderen Hits der weltberühmte „Hochzeitsmarsch“), die Hebriden-Ouvertüre oder die Schottische Sinfonie ein.

Die eigene musikaliensammelnde Verwandtschaft und der Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, machten Mendelssohn mit Bachs Matthäuspassion bekannt. Auch sonst ist allenthalben schon beim ganz jungen Komponisten eine intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel zu erkennen. Seine Wiederaufführung der „großen Passion“ des alten Thomaskantors im Jahre 1829 ist ein Meilenstein der musikalischen Wirkungsgeschichte. Mendelssohn hat damit, als gerade Zwanzigjähriger, etwas mehr als hundert Jahre, nachdem dieses Hauptwerk abendländischer Passionsmusik 1727 erstmals erklungen war, die öffentliche umfassende Bach-Renaissance eingeleitet; sie dauert an bis in unsere Tage.

Mendelssohn hat sich zeit seines kurzen glanzvollen Lebens stets für Kollegen seiner Zunft eingesetzt, indem er ihre Werke aufführte, nachempfand oder anderweitig bekanntmachte: Dazu zählten Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und auch Richard Wagner. Vergleichen wir etwa dessen Holländer-Ouvertüre mit der Einleitung zum Oratorium „Elias“, so merken wir, wie nahe sich der Leipziger Gewandhauskonzertdirektor und sein neidischer musikdramatischer Nachbar in Dresden manchmal waren.

Ganz bewusst komponierte Mendelssohn ein ausgesprochen musikhistorisches Moment in seine Werke ein. So klingt im Oratorium „Paulus“ Bachs Johannespassion nach. Der erste Satz seiner „Italienischen“ atmet Mozarts lichten Geist. Im „Lobgesang“, gezählt als zweite Symphonie, treten Chor und Vokalsolisten hinzu, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter.

Eigene unverwechselbare Zeichen hat Mendelssohn in der Klavier- und Orgelmusik gesetzt: Die „Lieder ohne Worte“ sind quasi seine Erfindung. Und die sechs Orgelsonaten markieren den Beginn einer romantischen Tradition, die vor allem im französischen Sprachraum bei César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne zu hoher Blüte gelangte.

Es gibt so gut wie keine musikalische Gattung, die von Mendelssohn unbeachtet blieb. Er ist einer der letzten Komponisten, die ganz universell dachten und schufen, in der Kirchenmusik wie im Opernfach, in Liedern wie in Solokonzerten, in Motetten, Kantaten, Oratorien, Chören (z.B. „O Täler weit, o Höhen“ oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“) Sinfonien, Schauspielmusiken, Streichquartetten und sonstigen kammermusikalischen Werken.

Die Fülle seines Schaffens erwuchs, ähnlich wie bei Mozart, aus einer gediegenen Allgemeinbildung, die vor allem einen entschiedenen Sinn für die jeweilige Form ausbildete. Was Kritiker meinten, als allzu „glatt“ bemängeln zu müssen, war tatsächlich immer neu hart erarbeitet. Mendelssohn strich, verwarf und korrigierte stets bis zur Drucklegung seiner Kompositionen – und oft noch darüber hinaus, sehr zum Leidwesen der Verleger.  Hierin ähnelte er seinem Kollegen Frédéric Chopin: Nie war er zufrieden.

Felix Mendelssohn, glücklich verheiratet mit der Tochter eines Hugenottenpredigers aus Frankfurt am Main und Vater vieler Kinder, galt zu Lebzeiten und noch viele Jahrzehnte danach als ein geniales Glückskind, das den öffentlichen Musikbetrieb im biedermeierlichen Deutschland schöpferisch und organisatorisch ungemein bereichert hatte. Kein Männerchor im wilhelminischen Zeitalter, der nicht seine Lieder sang; kein Bachverein, der nicht seine kirchenmusikalischen Werke aufführen wollte; kein Konzertpublikum, das nicht nach seinen Ouvertüren und Sinfonien verlangte.

Dass er kein Titan wie Beethoven, kein Grübler wie Brahms, kein Neutöner wie Liszt war – geschenkt. Verhängnisvoll sollte sich im Fortgang seiner Rezeptionsgeschichte allein der Umstand erweisen, dass er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Nazis kannten ja selbst dann keine Gnade, wenn die von ihnen Geächteten längst zum Christentum konvertiert waren – weil bei ihnen überhaupt gar kein Glaube zählte, sondern bloß dumpf das Blut. Das Mendelssohn-Fenster in der Leipziger Thomaskirche verarbeitet diese böse Fama sehr eindrücklich.

So wurde das beliebte e-Moll-Violinkonzert aus dem öffentlichen Musikbetrieb verdrängt, indem man Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert zu etablieren suchte: 1937 wurde dieses Stück, das im 19. Jahrhundert niemand aufführen wollte, erstmals dem Publikum dargeboten. Die Perfidie, noch post mortem Keile zu treiben zwischen Kollegen, die sich im wirklichen Leben geschätzt und unterstützt hatten, ist vielleicht nur ein kleiner Aspekt in dem sich damals schon manifestierenden Grauen der 1940er Jahre – aber eben einer unter unzähligen Schritten, die den aufrichtigen Geist einer zwar unpolitisch-vormärzlichen, aber in sich selbst zutiefst humanen Kultur niedergetrampelt und zertreten haben.

Mendelssohn hat es auch im Nachkriegsdeutschland schwer gehabt. Man traute dem stilistischen Alleskönner nicht recht über den Weg. Wer jedoch die feinsinnige Klangwelt mit durchaus aufbegehrenden Momenten etwa in der „Walpurgisnacht“ oder im c-Moll-„Sinfoniesatz“ zusammenhört, wird nicht umhinkönnen, in ihm einen europäischen Weltbürger zu entdecken, der die heutzutage so gern vollmundig betonte „Vielfalt“ nicht als propagandistisch aufgemotztes Neusprech übergriffig missbraucht, sondern leise und unausdrücklich, schlicht und einfach, gebildet und kunstreich: wirklich GELEBT hat.

Foto: Felix Mendelssohn: aus den „Sieben Charakterstücken“ Opus 7 (1827-1829)

Die Ehre Nietzsches aus der Natur

Jüngst konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (*15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen / + 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute wiederum jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing  des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie „Herrenmoral“ und „Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit („… vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen („Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch jedem politisch selbstverorteten dezidiert Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als – sagen wir: – Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren: – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass hatte ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus all dem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen … Allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (*1813 in Leipzig / +1883 in Venedig), der ihm da auf die Schliche kam.  Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein „Fall Wagner“ ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat der zutiefst gekränkte Nietzsche sich intellektuell nie wieder richtig erholt. – Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Die Ehre Nietzsches aus der Natur

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der Schüler in Schulpforta (Naumburg a.S.) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen. Aber unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. „Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitschuf, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon: Dann war er demnach gar nicht so deutschtümelnd-herrisch, wie man sonst hörte! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik machte wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie war! Besonders begeisterte mich die schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bediente: Das steigerte den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Konnte es nicht sein, dass sich hier ein fröhlich enthemmter Freigeist Bahn brach, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere? „Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch „Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser „Anklage“ ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen „Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche trotz aller Widersprüche dankbar anerkennt.

Die Entdeckung der Heiterkeit als ursprünglich und unmittelbar kulturell notwendig ließ mich in jungen Jahren nicht ruhen. Und so schrieb ich eines Tages folgende Verse, von den weisen Worten Zarathustras inspiriert, aber dann doch wieder verunsichert durch Nietzsches Eigensinn. Hier und heute lege ich offen, was ich seit dem Jahre 1992 der geneigten Öffentlichkeit verschwiegen habe, egal, ob es sie jemals interessiert hat. Die sächsische Bischofskrise verhilft also zu staunenswerten Schritten unfreiwilliger Selbstanzeige. Wie in meinem letzten Beitrag angekündigt, gehe ich dabei indes äußerst scheibchenweise vor. Ich bilde mir ein, dafür Zeit zu haben, zumal ich bisher kein Amt anstrebe, das ein kleinkariertes Durchwühlen meiner gesamten bisherigen Vita zur Voraussetzung von dessen Annahme hätte. Aber man weiß ja nie. Das gegenwärtige Kesseltreiben im aktuellen Dresdner Aufstand gestaltet sich erbärmlich, da ist vielleicht eine Erinnerung an das Bonn-Berlin-Gesetz und überhaupt die Imaginierung der damaligen Situation der Zeit nicht völlig abwegig. In diesem augenzwinkernden Sinne: Viel Spaß!

 

Der Nietzsche saß auf einem Baum,

Derhalben lustig anzuschaun,

Was ihn jedoch nur mehr verdross:

Gar giftig wirkte sein Geschoss:

„Du seist gebannt, gebrannt, gebongt,

Willst tiefe, tiefe Ewigkongt,

Es bongt, es bonnt, berlint sodann:

Dies sei der auferlegte Bann!“

Und Spinnen krochen auch empor,

Verliehn ihm einen Trauerflor,

Ich meinesteils war ganz von Socken,

Wie ich ihn fluchend sah dort hocken,

Gleich einer Eule, die nachts ruft

Aus dunkler tiefer Ewiggruft.

Mein Lieber, sind wir nicht verwandt?

Warum hast du mich so gebannt?

Und noch dazu gebrannt, gelocht,

Zerhackt, wie wenn ich dich nicht mocht’?

Ich hab gelacht, weil du saß’st lustig,

Schon ging das Lachen mir verlustig ….

So schnell kann’s gehn mit Heiterkeit,

Die doch nichts will als – Ewigkeit!

 

Zur Abrundung der Stimmung zeigt das Foto den Friedhof einer nordwestdeutschen Kreisstadt.

Musik der Freiheit

Beethoven – weitaus mehr als nur der Name eines der ganz großen Komponisten inmitten einer stattlichen Anzahl anderer Musiker, die der Tonkunst unseres christlichen Abendlandes ihre Prägung verliehen haben! Beethoven steht für ein Lebensgefühl, das sich an schöpferischer Freiheit von nichts und niemandem überbieten lässt. Darin hat er, vor bald zweihundertfünfzig Jahren, am 16. Dezember 1770 in Bonn am Rhein geboren, in seiner Person „Ludwig van“ sowie in seinem Werk vielen anderen aus seiner Zunft etliches voraus. Und darin ist er all jenen, die ein kreatives Freiheitsverständnis verfechten, zu einem eindrücklichen Vorbild geworden.

Ludwig van Beethoven (1770-1827) gehört einer Generation an, die überall auf eigene Faust neue Welten ausmachen, entdecken, erobern muss. Einige Beispiele: Wilhelm von Humboldt (1767-1835), zusammen mit seinem Bruder Alexander Namensgeber eines bis heute wirksamen Bildungsideals, versucht, hinter den vielen Sprachen der Menschheit die eine Ursprache zu entdecken. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) betont die Bedeutung der Religion für das gesamte Menschsein als „Ahnung des Unendlichen“. Napoleon Bonaparte (1769-1821) zertrümmert die alte europäische Ordnung durch militärische Gewalt im Nachgang und Ausfluss der Französischen Revolution und bringt so deren Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu Weltgeltung. Alexander von Humboldt (1769-1859) reist als Naturforscher in französischen Diensten durch Mittel- und Südamerika und wird als Vorbild einer quasi international gewordenen Wissenschaft geehrt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) kreiert mit seiner dialektischen Philosophie des Weltgeistes ein in sich geschlossenes universales Denksystem. Friedrich Hölderlin (1770-1843) entwickelt in seinen Gedichten einen in sich schlüssigen, hermetischen sprachlichen Kosmos. Friedrich von Hardenberg (1772-1801), bekannt unter seinem Künstlernamen „Novalis“, redet einer mystisch-religiösen Weltschau das Wort.

Im Überblick dieser exemplarisch angeführten Persönlichkeiten zeigt sich ein Zug ins Große und Ganze. Man verabschiedet sich zumindest innerlich sowohl vom traditionellen Kirchenglauben beiderlei Konfession als auch vom Vertrauen in die Institutionen des Ancien Régime. Alles Schöpferische und alles Zerstörerische muss aus sich selbst heraus erwachsen. Die Kunst wird, gleich der Wissenschaft und Politik, in dem Sinne autonom, als sie sich ihre Grundlagen in der jeweils befähigten Einzelperson selbst zu bilden hat. In ihren bedeutendsten Exponenten, zu denen der geborene kurkölnische Bürger und getaufte Katholik Beethoven zweifellos zählt, haben wir es mit subjektiv-voraussetzungslos urtümlicher Phantasie bei gleichzeitig objektiv-meisterhaft traditionsgeschulter Kunstfertigkeit zu tun. Alles zielt auf das Menschsein an sich, in weltbürgerlich-aufklärerischer Absicht oder in individuell-romantischem Anspruch.

Beethoven, der jugendliche Organist und Bratschist am in Bonn ansässigen Hof des kurkölnischen Fürstbischofs, wächst in der geistigen Welt des aufgeklärten Absolutismus auf. Er nutzt die dort gewährte Freiheit, sich einem revolutionär gesinnten Lesezirkel anzuschließen. Zugleich ermöglicht man dem Wunderkind, in allen Bereichen der Musik sich weiterzubilden. „Empfindsamkeit“ und „Mannheimer Schule“ sowie deren „Rakete“ prägen die entsprechende Ausbildung. Christian Gottlob Neefe (1748-1798) unterrichtet seinen begabten Schüler im „Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Als Joseph Haydn (1732-1809) von seiner ersten Englandreise zurückkehrt und in Bonn Station macht, stellt man ihm den Einundzwanzigjährigen vor. Aus dieser Begegnung ergibt sich die staatliche Bewilligung eines Stipendiums für die Musikmetropole Wien. So zieht Beethoven im Jahre 1792 auf Geheiß seines Landesherrn Maximilian Franz – eines Bruders der Kaiser Joseph II. und Leopold II. sowie der französischen Königin Marie Antoinette (allesamt Kinder des römisch-deutschen Kaisers Franz I. und seiner Gemahlin, der österreichischen Erzherzogin Maria Theresia) – in die kaiserlich-erzherzogliche Residenz an der Donau. Im „Reisesegen“ schreibt Graf Waldstein, Mitglied der Bonner Lesegesellschaft und später Widmungsträger der Klaviersonate C-Dur Opus 53 (1804), Beethoven werde, so er fleißig arbeite, „Mozarts Geist aus Haydns Händen“ erhalten.

Bereits 1787 ist Beethoven kurz in Wien gewesen, um bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Stunden zu nehmen. Nun, fünf Jahre später, sind Haydn, der Kontrapunktdozent Johann Georg Albrechtsberger (1736-1809) sowie der Chef der italienischen Oper, Antonio Salieri (1750-1825) seine wichtigsten Lehrer. Beethovens erhaltene Übungen im „strengen Satz“ zeigen den Hintergrund für das, was der Student etwa ab seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in erstaunlich phantasievoller Eigenproduktion mit genauer Kenntnis der Tradition in unbändigem Freiheitsdrang durchzuarbeiten und so zu überwinden trachtet. Dabei steht er seit 1794 mittellos da, weil die französischen Revolutionstruppen sich um den aufklärerischen Geist in der Bonner Residenz nicht geschert und das kurkölnische Territorium kurzerhand erobert haben. Die staatliche pekuniäre Unterstützung aus der Heimat bricht dem Dreiundzwanzigjährigen also weg.

Beethoven wird in Wien zunächst und vor allem als ausgezeichneter Pianist bekannt und entsprechend gefeiert. In Konzertveranstaltungen spielt er auf dem Klavier eigene Werke sowie seine weithin bewunderten ad-hoc-Fantasien, die ihm unter den Zuhörern den Titel eines „zweiten Mozart“ bescheren. Beethoven formuliert bereits in seinen ersten drei Wiener Klaviersonaten Opus 2 (komponiert im Jahre 1795) einen intellektuellen Anspruch, den er in den folgenden Werken immer weiter und entschiedener ausbaut, so in der „Pathétique“ Opus 13 (1799), in der „Mondscheinsonate“ Opus 27 Nr. 2 (1800) oder in der „Appassionata“ Opus 57 (1805). In all diesen Werken führt Beethoven die Gattung der Klaviersonate in vollkommener Kenntnis und Anwendung der Tradition endgültig aus dem Genre gehobener Unterhaltungsmusik hinaus in eine von ihren meisterhaften Vorgängern Johann Christian Bach (1735-1782), Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart nie für möglich gehaltene freiheitsbetonte Bekenntnismusik einer völlig unabhängigen Künstlerseele.

Wie wenig Beethoven dabei auf äußere Etikette achtet, zeigt sein distanziertes Verhältnis zu seinem einstigen Lehrer: Überliefert ist ein – übrigens beide Seiten verstörender – kurzer Wortwechsel im Jahre 1801, als Beethovens „Geschöpfe des Prometheus“ Opus 43 uraufgeführt werden und Haydn gegenüber dem Schöpfer dieser Ballettmusik meint, sie mit seiner eigenen „Schöpfung“ vergleichen zu sollen. Und schon fünf Jahre zuvor ist es zu einer Verstimmung beim fast vier Jahrzehnte Älteren gekommen, weil, statt in tiefer Dankbarkeit und Demut dem erhabenen väterlichen Freund und umsichtigen Lehrer seine drei Sonaten Opus 2 zu dedizieren, Beethoven lapidar formuliert hat: „Joseph Haydn gewidmet“.

Ein bedeutendes Zeugnis für Beethovens stetige eigenständige Weiterentwicklung musikalischer Sprache ist auf dem Gebiet der Orchestermusik die Dritte Symphonie in Es-Dur Opus 55 (1804), die sogenannte „Eroica“. Sie markiert, biographisch gesehen, das Ende von Hoffnungen, in Paris eine Stellung im dortigen Musikleben anzutreten. Zusagen auf lebenslange Renten durch österreichische Mäzene aus dem Hochadel lassen den überzeugten Republikaner Beethoven die Widmung seines Werkes an Napoleon leichter auslöschen, nachdem der sich zum Kaiser hat ausrufen lassen. In der „Dritten“ beschreitet der Komponist völlig neue Bahnen, indem er die thematische und motivische Arbeit in einen stark vergrößerten Klangraum stellt und so die Gesamtdimensionen der sinfonischen Form beträchtlich erweitert. Fortan regieren das musikalische Geschehen markante Melodien oder prägnante Signale, während schmückendes Beiwerk entweder zurückweicht oder dem jeweiligen Grundgedanken eines Werkes untergeordnet wird. Besonders radikal hat Beethoven dies im ersten Satz seiner Fünften Symphonie c-Moll Opus 67 (1808), von der Nachwelt „Schicksalssinfonie“ betitelt, durchgeführt. In der zeitgleich entstandenen Sechsten Symphonie F-Dur Opus 68, der sogenannten „Pastorale“, lässt sich Beethoven, bei mitunter ähnlicher Motivik, von der von ihm so geliebten Natur leiten, weswegen die strenge musikalische Faktur auch dieses Werkes beim Hören weniger auffällt.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts komponiert Beethoven neben Sinfonien und Sonaten auch reichlich für sämtliche Sparten des musikalischen Lebens, insbesondere Streichquartette und andere Kammermusik mit unterschiedlicher Besetzung, Lieder (unter anderem auf Psalmnachdichtungen des lutherischen Dichters Gellert, z.B. „Die Himmel rühmen“), Konzerte (besonders die für Klavier und Orchester) und Chorwerke. 1803 wird sein Oratorium „Christus am Ölberge“ Opus 85 uraufgeführt, eine Passionsmusik mit der Fokussierung auf die ins allgemein Menschliche gewendete Szene im Garten Gethsemane. Schwer tut Beethoven sich mit seiner Oper „Leonore“ (1805), die erst nach gründlichen Umarbeitungen und unter dem Namen „Fidelio“ Opus 72 (1806/14) das Thema der Befreiung aus dunklem Kerker zur existienziellen Grunderfahrung der Zeitepoche erhebt. Unter den Bühnenmusiken sind die Ouvertüren zu Goethes Schauspiel „Egmont“ und die zur Shakespeare-Adaption „Coriolan“ bis heute bekannt geblieben. Letztere führt die motivische Arbeit bis zur völligen Auflösung durch. Gleichfalls im Jahre 1807 erscheint die C-Dur-Messe Opus 86, eine Vorstufe zur großangelegten und jeden liturgischen Rahmen sprengenden Missa Solemnis (1819/23).

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Bemerkenswert sind Werke, die gattungsübergreifendes Potenzial in sich tragen: Die Chorfantasie c-Moll Opus 80 (1808) beginnt als Klavierkonzert und endet in einem Chorsatz, der motivisch-melodisch schon auf das Finale der Neunten Symphonie vorausweist. Das Violinkonzert D-Dur Opus 61 arbeitet Beethoven später zu einem Klavierkonzert um. Die frühe Klaviersonate E-Dur Opus 14 Nr. 1 (1799) ist vom Komponisten selbst transkribiert worden in ein Streichquartett F-Dur. Andersherum nehmen viele Sätze in den insgesamt 32 Klaviersonaten Klangstrukturen auf, die den Kirchenmusiker an vierstimmige Choräle erinnern mögen, bei Beethoven aber von der Beschäftigung mit Gattungsmerkmalen des Streichquartetts herrühren.

Ein durch mehrere Gattungen wanderndes Thema ist als Grundlage der sogenannten „Prometheus-Variationen“ Opus 35 berühmt: Es existiert als Klavierwerk, als besagte Ballettmusik und als Sinfoniesatz am Schluss der „Eroica“. Beethoven verändert die sich über einem Bass Stück um Stück heranbildende Musik von Mal zu Mal. So legt er in jedem Fall einen Schaffensprozess offen, gewissermaßen die Modellierungen des Schöpfers an seinen Geschöpfen, in gestalterischer Freiheit doch stets auf den Ursprung bezogen und zugleich die spielerische Freude betonend. Hier ist immer auch mit humorvollen Wendungen zu rechnen. Insgesamt nehmen Variationen übrigens einen Großteil in Beethovens Werk ein. Seine erste gedruckte Komposition ist eine Klaviervariationenfolge über einen populären Marsch (1783). Sein letztes großes Klavierwerk sind die „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli“ (1823).

Je mehr sich ein schon seit 1796 bemerkbares Gehörleiden verschärft, desto stärker wird bei Beethoven die geistige Durchdringung sämtlichen musikalischen Ausdrucks. Kann er wegen seiner Schwerhörigkeit immer seltener öffentlich auftreten und fühlt er sich gesellschaftlich mehr und mehr ins Abseits gedrängt (Heiligenstädter Testament; Brief an die „unsterbliche Geliebte“), so arbeitet er konsequent an seinem Ruf als erstklassiger Komponist. Den Durchbruch erlangt er damit allerdings nicht; erst im Jahre 1813 vermag er mit dem Auftragswerk einer lärmigen Schlachtensymphonie namens „Wellingtons Sieg“ seine Bekanntheit über die adligen musikinteressierten Kreise hinaus in eine allgemeine Popularität auszuweiten. Auch die Gelegenheitskantate „Der glorreiche Augenblick“ zum Wiener Kongress 1814 gereicht Beethoven zu einem steigenden internationalen Ruhm – angesichts der auf Einladung des österreichischen Kanzlers Metternich in der Donaumetropole sich versammelnden gekrönten und ungekrönten Staats- und Regierungschefs, die eine neue nachnapoleonische europäische Ordnung auszuhandeln sich anschicken.

Ein Jahr zuvor, 1813, ist die Siebte Symphonie A-Dur Opus 92 uraufgeführt worden, später von Richard Wagner (1813-1883) als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet. In ihren Ecksätzen blitzt und brodelt es, man könnte eher von einem Tanz auf dem Vulkan sprechen. Der Wille zur grenzenlosen Freiheit ist angestimmt, doch diese selbst scheint zu taumeln und zu straucheln. So hat Beethoven das Scheitern der revolutionären Freiheitsideale seiner eigenen Jugend eindrücklich auskomponiert. Der Allegretto-Satz der „Siebten“ ist als Trauermarsch in Variationen ebenso berühmt geworden wie der langsame Satz aus der „Eroica“ und der dritte Satz aus der Klaviersonate As-Dur Opus 26. Letzteren hat Beethoven, ebenfalls in der Kongresszeit 1814/15, anlässlich einer Schauspielmusik zum Gedenken an eine in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gefallene preußische Soldatin (!) für Streicher und Bläser instrumentiert.

Beethoven sucht zu den herrschenden Gesellschaftsschichten immer ein angemessenes Verhältnis einzunehmen. Seine Klavierstunden öffnen ihm die Türen. Viele seiner Schülerinnen und Schüler entstammen dem österreichischen Hochadel. Mit den musikalisch und insbesondere pianistisch versierten Erzherzögen Johann und Rudolph pflegt er fachlich-freundschaftlichen Umgang und hat dadurch direkten Zugang zu den habsburgischen Regenten in der Wiener Hofburg. In den Klaviersonaten d-Moll Opus 31 Nr. 2 („Sturm“, 1802) und Es-Dur Opus 81a („Les Adieux“, 1810) klingt von diesen persönlichen Beziehungen etwas nach. Vor diesem Hintergrund ist das Ereignis beim Spaziergang Beethovens mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) im Jahre 1812 im böhmischen Kurbad Teplitz weniger dramatisch zu sehen als gemeinhin vermutet. Als die beiden auf Mitglieder der kaiserlichen Familie treffen, bleibt Goethe auf der Stelle stehen, lüftet seinen Hut und verneigt sich tief; Beethoven hingegen stapft weiter und mitten durch die Szenerie hindurch: Er kennt die hohen Herrschaften ja, und die wiederum kennen ihren Beethoven.

Im Metternichschen Zeitalter, als die Meinungs- und Pressefreiheit wieder massiv eingeschränkt ist, gilt Beethoven als ein Unikum, aber durchaus von ideellem Wert; mit einem solchen weiß sich die feine Gesellschaft gern zu schmücken. Hier liegt der Unterschied zu dem fast eine Generation jüngeren Franz Schubert (1797-1828), der in den nach ihm benannten Lese- und Musizierabenden im Freundeskreis („Schubertiaden“) stets mit Denunziation und Verhaftung rechnen muss. Beethoven hingegen gilt der Polizei als bedauernswerter harmloser Einzelfall mit mächtiger Protektion. Er selber ist von seiner politisch unkorrekten künstlerischen Einzigartigkeit überzeugt: „Beethoven gibt’s nur einen“ und sieht sich allenfalls auf einer Stufe mit Händel, Bach, Gluck, Haydn und Mozart. Von seinen komponierenden und nach wie vor lebenden Zeitgenossen achtet er allein Luigi Cherubini (1760-1842).

In diesem Sinne führt er sein kompositorisches Werk immer konsequenter weiter. 1819, im Jahr der Karlsbader Beschlüsse, beendet Beethoven seine „Große Sonate für das Hammerklavier“ B-Dur Opus 106. Im viersätzigen Ablauf bleibt sie der Tradition ganz treu, doch ihre Dimensionen sprengen jeden bisher gewohnten Rahmen, bis hinein in Abschnitte ohne Taktstriche und in eine ausgedehnte dreistimmige Schlussfuge „mit einigen Freiheiten“, wie die Bemerkung des Autors an deren Beginn tiefstapelnd lautet.

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In dieser Zeit ist es um Beethovens familiäre Verhältnisse schlimm bestellt. Sein 1815 verstorbener Bruder Carl Caspar hat einen Sohn hinterlassen, Karl, um den immer wieder ein alle beteiligten Parteien zermürbender Sorgerechtsstreit zwischen der als leichtlebig verschrieenen Mutter und dem Onkel entbrennt. In den Zeiten, da der Neffe mit Ludwig van Beethoven Umgang hat, versucht der wider Willen – nämlich aus unüberwindlichen Standesunterschieden zu den adeligen Geliebten – unverheiratet Gebliebene, seine an den pädagogischen Konzepten der Aufklärungsepoche geschulten Erziehungsgrundsätze strikt anzuwenden. Aber diese Art von Bildung des jungen Mannes gemäß dessen vermuteten Gaben und Fähigkeiten scheitert gründlich. Nach einem Selbstmordversuch des Zwanzigjährigen 1826 willigt ein als neuer Vormund eingesetzter Freund Beethovens schließlich in Karls Berufswunsch ein: Der Neffe schlägt die Offizierslaufbahn ein. Später erst wird er den Onkel ehren, indem er einem seiner Söhne den Namen „Ludwig“ gibt.

Mit den letzten drei Sonaten (1821/22), den Bagatellen Opus 119 und Opus 126 (1824) sowie den Diabelli-Variationen Opus 120 (1819/23) schließt Beethoven sein Schaffen für das Klavier ab, oft mit freien Assoziationen auf die Musikgeschichte. So erinnert der Tonfall im Variationssatz der E-Dur-Sonate Opus 109 an Georg Friedrich Händel (1685-1759), Beethovens Lieblingskomponist der Vergangenheit. Die As-Dur-Sonate Opus 110 gemahnt im ersten Satz an Mozart, im weiteren Verlauf mit Choral, Rezitativ, Arien und Fugen namentlich an die Johannespassion von J.S. Bach („Es ist vollbracht“). Hat der junge Beethoven bei einer Reise 1796, unter anderem nach Berlin und Leipzig, in der Thomasschule Bachsche Handschriften einsehen können? Die c-Moll-Sonate Opus 111 beginnt wie aus dem Nichts mit einem gezackten Thema und fährt zunächst fort im Nachklang einer barocken Ouvertüre, ehe ein leidenschaftliches, teils fugiertes Laufwerk einsetzt. Die anschließende „Arietta“ in C-Dur ist in der durch sie hervorgerufenen Literatur zu einem Abschiedsgesang verklärt worden. Thomas Mann (1875-1955) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) sehen in ihm das gesamte bürgerliche Zeitalter prophetisch-dialektisch durchschaut und überwunden.

Beethoven vollendet 1823/24 seine beiden Großprojekte, die Missa Solemnis D-Dur Opus 123 und die Neunte Symphonie d-Moll Opus 125. 1824 werden sie in St. Petersburg bzw. in Wien uraufgeführt. Außerdem entsteht in den letzten Lebensjahren eine Reihe von rätselhaften Streichquartetten, deren zerklüftete Sätze und polyphone Passagen an Adornos Wort von einer „Philosophie der Musik“ schlechthin denken lassen. Der Partitur der riesenhaft geratenen Messe stellt Beethoven indes ein völlig undogmatisches Motto voran: „Von Herzen – Möge es wieder zu – Herzen gehen“. – Im Finale der letzten vollendeten Sinfonie klingt eine Mischung aus Hoffnung und Wehmut auf: Indem Beethoven Teile aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ vertont und so ein Gedicht aus der vorrevolutionären Welt (1785) ins Bewusstsein rückt, gibt er seiner eigenen restaurativen Zeit eine persönlich entfaltete Freiheitsliebe mit auf den Weg. Ein zeitgenössischer Kritiker, der die Vermengung von absoluter Instrumentalmusik und Chorgesang für missglückt hält, aber doch den Mut zu dieser Grenzüberschreitung bewundert, schreibt nach einer Aufführung der „Neunten“ über Beethoven und sein Werk: „Auch in der Verirrung – groß!“

Insgesamt lässt sich versuchsweise sagen: Beethovens Gesamtwerk ist Ausdruck eines einzigartigen Personalstils. Der hat sich im Laufe eines ungewöhnlichen Lebens herangebildet aufgrund von früher Förderung durch Freunde und Bekannte, aber verfestigt in den allgemeinen unsicheren kriegerischen Zeitumständen und durch einen starken Charakter im Kampf gegen biographische Schicksalsschläge. Die Musik in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist bei Beethoven einem schöpferischen Einzelwillen unterworfen. Das objektiv gegebene musikalische Material bearbeitet er höchst traditionell und zugleich entschieden subjektiv. Eigentümlich für diesen Vorgang sind dynamische, rhythmische, harmonische, metrische und formale Neuerungen, die es in solchem methodischen Ausmaß vor Beethoven nicht gegeben hat und die man getrost als „revolutionär“ bezeichnen kann.

Nicht durch seine von vielen gesellschaftlichen Abhängigkeiten geprägte soziale Stellung im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts, sondern durch die absolute Beherrschung und alles Abgelebte geistesgegenwärtig überwindende, dabei phantasiegeleitete Fortentwicklung seiner Kunst wird Beethoven zum ersten freien Künstler der europäischen Musikgeschichte. Daran haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte viele weitere Vorstellungen und auch Wunschbilder geheftet. Die vermutete pausenlose energische Selbstbestimmtheit im Dienste allein „der Sache“ hat noch in der rebellischen westdeutschen Jugend der sechziger, siebziger und achtziger Jahre bleibenden Eindruck hinterlassen. Bücher, Filme und Plakate zeugen von der Beliebtheit des Protagonisten. Diese hängt wohl damit zusammen, dass Beethoven auf seinem ureigenen Boden von klassisch-romantischer Klangrede in seinem Schaffen durch innere Autorität eine allumfassende Welthaltigkeit ausdrückt, die alle Menschen, die sich darauf einlassen, vor verstiegenem Einzelgängertum oder gar exzessivem Ego-Trip schützt, zugleich aber ihnen in dem, was ihr Humanum wesentlich ausmacht, ein starkes Bewusstsein persönlicher Freiheit sichert.

Abbildungen: a) Beethoven gemeinfrei b) Wie man mit dem Hammer philosophiert – Taktlosigkeiten im Finale von Opus 106.

Bach

Am 21. März 1685 wird in Eisenach der laut Neuem Brockhaus (1960) „größte Tonmeister aller Zeiten“ geboren, Johann Sebastian Bach. Er ist das jüngste von acht Kindern des Stadtpfeifers Ambrosius Bach und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Lämmerhirt. Die Musikerfamilie Bach ist in mehreren Zweigen im ganzen thüringischen Raum verbreitet – seit der Einwanderung des „Stammvaters“ Veit Bach Anfang des 17. Jahrhunderts als protestantischer Glaubensflüchtling aus Ungarn.

Der kleine Johann Sebastian besucht die Lateinschule in Eisenach, wo fast 200 Jahre vorher auch Martin Luther die Schulbank gedrückt hat. Eisenach liegt unterhalb der Wartburg, wo der Reformator einst als „Junker Jörg“ lebte; hier hatte er die Arbeit an seiner bahnbrechenden hochdeutschen Bibelübersetzung begonnen, die auch in der Bach-Familie als Hausbuch Grundlage allen Lebens ist.

Aus dem vertrauten Urort evangelischer Kultur wird Bach jedoch allzubald herausgerissen: Als er acht Jahre alt ist, stirbt seine Mutter; mit zehn Jahren, nach dem Tod auch des Vaters, ist er Vollwaise. Vielleicht liegt in dieser frühen Lebenstodeserfahrung der Keim für die Ernsthaftigkeit und Vollkommenheit seiner Musik als einer in sich abgeschlossenen tröstenden Welt gegen den untröstlichen nur-irdischen Alltag.

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Sein älterer, schon erwachsener Bruder Christoph nimmt ihn zu sich nach Ohrdruf. Dann, von 1700 bis 1702, in der Michaelisschule zu Lüneburg, eignet sich der aufgeweckte Junge alle damals gängigen musikalischen Fertigkeiten an der Orgel, am Cembalo und auf der Violine an. Von der alten Hansestadt aus unternimmt er Fußreisen nach Hamburg, um die dortigen Organisten zu hören und ihre Werke zu studieren. Besonders inspirieren ihn die Choralfantasien des Johann Adam Reinken. In Lüneburg selbst bildet sich Bach im Umfeld des weithin berühmten Orgelmeisters Georg Böhm weiter. Manchmal kommt auch die fürstliche Kapelle aus Celle in die traditionsreiche Salinenstadt und bringt französisch geprägte höfische Musik zu Gehör.

Erste Anstellungen führen Bach nach Weimar, Arnstadt und Mühlhausen, also wieder nach Thüringen. Von Arnstadt aus wandert er Anfang Oktober 1705 nach Lübeck; dafür hat er einen dreiwöchigen Urlaub gewährt bekommen. An der dortigen Marienkirche hört er den Kirchenmusikdirektor Dietrich Buxtehude, vertieft sich in dessen Werke und besucht die weitbekannten adventlichen „Abendmusiken“ – da hat er den Urlaub bereits kräftig überschritten: Erst im Januar 1706 kehrt er nach Arnstadt zurück – aus den drei Wochen sind gut drei Monate geworden. – 1707 heiratet er seine entfernte Verwandte Maria Barbara Bach.

Von Mühlhausen geht Bach als Hoforganist und Kammermusiker wiederum nach Weimar. Hier kommen sechs seiner Kinder zur Welt, unter anderem Wilhelm Friedemann (*1710) und Carl Philipp Emanuel (*1714, dessen Taufpate: Georg Philipp Telemann). Viele Orgelwerke entstehen, unter vielen anderen die berühmte Toccata und Fuge d-moll mit der signalhaften Wechselnote zu Beginn. Überdies legt er ein „Orgelbüchlein“ an, in dem er eigene Liedbearbeitungen nach der Ordnung des Kirchenjahres beispielhaft zusammenstellt.

Bach wendet sich 1716 an den Hof des Fürsten von Anhalt-Köthen. Der Weimarer Dienstherr will seinen Konzertmeister jedoch nicht gehen lassen und steckt ihn in eine Arrestzelle. So ist Johann Sebastian Bach wohl der einzige unter den ganz großen abendländischen Komponisten, der einen Gefängnisaufenthalt erlebt – wenn auch nur für einen Monat: dann gibt der Herzog seinen Widerstand auf und lässt Bach ziehen.

In Köthen findet der nunmehrige Kapellmeister und „Director derer Cammer-Musiquen“ völlig andere gesellschaftliche Verhältnisse vor als an seinen bisherigen Dienststellen. Für ihn gibt es hier keine unmittelbaren kirchenmusikalischen Betätigungsfelder; denn die Fürstenfamilie gehört dem evangelisch-reformierten Bekenntnis an. Bach hält sich in Köthen zur kleinen lutherischen Gemeinde; dort ist er als regelmäßiger Abendmahlsgast verzeichnet.

Der Komponist widmet sich der Haus- und Hofmusik. Das „Wohltemperierte Klavier“ und andere bedeutende Werke für Tasteninstrumente entstehen, außerdem die „Brandenburgischen Konzerte“. Mit dem Fürsten ist Bach freundschaftlich verbunden. Aber die Wirksamkeit in Köthen wird schicksalhaft überschattet, als 1720 seine Ehefrau stirbt. Nach Ablauf der Trauerzeit heiratet Bach 1721 die Sängerin Anna Magdalena geb. Wülken, mit der er insgesamt 13 Kinder hat, unter den das Säuglings-und Kindesalter überlebenden die späteren Musiker Johann Christoph Friedrich (*1732) und Johann Christian (*1735).

Im Jahr 1722, nach dem Tod des Leipziger Thomaskantors Johann Kuhnau, bewirbt sich Bach auf die freigewordene Stelle. Er sucht seit längerem städtische Umgebung, um seinen ältesten Söhnen ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Zum 1. Sonntag nach Trinitatis 1723 tritt er das Amt des Kantors an der Thomasschule und des städtischen Musikdirektors über die Hauptkirchen in Leipzig an. Hier eröffnet sich dem nunmehr 38jährigen Künstler ein reiches, aber auch mühsames Betätigungsfeld. Den Thomanern hat er nicht nur Musikstunden, sondern auch Unterricht in den Fächern Latein und Religion zu erteilen. Um zu letzterem befähigt zu sein, hat er sich vor Amtsantritt einem theologischen Examen unterzogen, im Sinne der ihm vertrauten lutherisch-orthodoxen Glaubenslehre.

Musikalisch-kompositorisch gehört fortan zu Bachs Aufgaben, an jedem Sonn- und Feiertag – ausgenommen nur die Zeiten vom 2. bis 4. Advent und die Sonntage in der vorösterlichen Fastenzeit – Kantaten aufzuführen. Die kann man heutzutage regelmäßig in den Sendungen mit geistlicher Musik im Radio hören; Bachs Werke sind frei zugänglich, fernab von jeglichem Spezialistentum. Sie gehören zum allgemeinen Bildungsgut zumal im protestantischen Deutschland.

Bach verschreibt sich der Anforderung, Kantaten zu komponieren, mit Herzblut – er legt in bezug auf diese gottesdienstlichen Stücke für Soli, Chor und Orchester zunächst mit Feuereifer los, sieht er doch die faszinierende Möglichkeit, mittels seiner eigenen Musik zu predigen, also Sonntagsevangelium, Hauptlied oder verwandte Texte in Klangrede so darzustellen, dass der Gemeinde sich der geistliche Reichtum der biblischen Botschaft erschließen möge.

Doch bald erlahmt sein Ehrgeiz, das Kirchenjahr vollständig und vielgestaltig musikalisch darzustellen. Er muss erkennen, auf wie wenig Verständnis seine Musik beim Rat der Stadt und in den Gottesdienstgemeinden stößt. Die Leipziger haben solch starken musikalischen Ausdruck nicht erwartet – und auf Dauer wünschen sie ihn auch nicht. Bachs Musik siedelt an der Grenze dessen, was man unter bürgerlich-anständiger Kirchlichkeit versteht – und überhaupt: Man empfindet seine Kompositionen als zu schwer.

Das meint man auch von den großen Passionsmusiken, die der Kantor im Wechsel für die Thomas- und Nikolaikirche einzurichten hat: Statt jedes Jahr eine neue Passion für den Karfreitagsabendgottesdienst zu komponieren, wiederholt er ab dem vierten oder fünften Amtsjahr seine bis dahin entstandenen Werke oder führt Musiken älterer Meister aus dem Archiv auf. Wie weit die Zeitgenossen die auf uns heute so ergreifend wirkenden Großwerke „Johannespassion“ (1724) und „Matthäuspassion“ (1727) aufgenommen und verstanden haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Hier und da wird der Vorwurf einer „opernhaften“ Musik laut.

Bachs Leipziger Zeit währt 27 Dienstjahre lang, bis zum Tod am 28. Juli 1750. Es sind nicht allein die Kantaten, Oratorien, Passionen und Orgelwerke, die später seinen weltweiten Ruhm begründen – hinzu kommen als Gelegenheitswerke die Motetten und die ganze weltliche Musik, welch letztere er vielfach für das von Telemann im Jahre 1701 gegründete Studentenorchester „Collegium musicum“ erschafft. Auch Bearbeitungen von Werken zeitgenössischer italienischer Komponistenkollegen entstehen, so zum Beispiel von Albinoni, Pergolesi oder Vivaldi.

Vier Großwerke gehen außerdem weit über den Leipziger Rahmen hinaus: Im Jahre 1736 widmet Bach zwei Sätze, „Kyrie“ und „Gloria“, dem römisch-katholisch gewordenen sächsischen Hof in Dresden: Beginn seiner spät vollendeten und im 19. Jahrhundert so betitelten „Hohen Messe in h-Moll“. Damit hat der Meister seinen „ökumenischen“ Beitrag geleistet. 1747 wird Bach in eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft aufgenommen, die „Mizlersche Societät“. Für sie schreibt er die „Kanonischen Veränderungen“ über Luthers Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, das „Musikalische Opfer“, nach einem Besuch am Hof in Potsdam Friedrich dem Großen gewidmet, und zuletzt die „Kunst der Fuge“, deren letzter Kontrapunkt, wo das Thema B-A-C-H mit den anderen Subjekten verknüpft werden soll, unvollendet bleibt.

Bachs Musik wirkt bis heute umfassend in ihrer Ausgeglichenheit zwischen einfachem Melodie-und-Begleitung-Satz und höchster harmonischer bis kühner Mehrstimmigkeit. Einige Stücke sind regelrecht populär geworden: Aus den Kantaten hat es „Jesus bleibet meine Freude“ bis hin zur Titelmusik einer Fernsehsendung gebracht; ein Satz aus den Orchestersuiten hat es in die Charts der Klingeltöne fürs Mobiltelefon geschafft – und ein anderer Suitensatz ist als die „Air von Bach“ gleichermaßen bekannt und beliebt.

All dies sind aber nur äußere Blüten, die in einer konsequent gepflegten Tradition wurzeln. Bachs Musik erwächst aus dem evangelischen Gottesdienst. Viele Liedstrophen, die wir bis heute gern singen, haben in den Passionen und im Orgelwerk ihr jeweiliges Gewicht. Bach hat die Choräle derart „authentisch“ harmonisiert oder sonst bearbeitet und sich dadurch so zueigen gemacht, dass ein französischer Komponist des 19. Jahrhunderts meint, er habe auch die Melodien selber geschaffen. Tatsächlich haben wir in unserem Gesangbuch aber nur eine einzige Weise, die von Bach stammt, nämlich die zum Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“.

Ansonsten deutet Bach aus, was an Texten und Melodien in Gebrauch ist – vor allem Verse von Martin Luther und Paul Gerhardt. Seine Lieblingsmelodie: „Herzlich tut mich verlangen“, heute vor allem bekannt durch das Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“. Das Leiden Christi sich zueigen machen, weil darin das eigene Leben in aller Tiefe aufgehoben ist: Es ist dieses innige Verständnis der Passionsgeschichte, das durch das Dunkel des Todes ins neue Leben führt. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst.“ Wer diese schwarzgefärbte Musik aus der Matthäuspassion je mit geradezu mystischer Hingabe verinnerlicht hat, wird diesen starken Eindruck im Glauben nie wieder vergessen.

Neben Bachs häufig vor seine Kompositionen gesetztem Motto S.D.G, „Soli Deo Gloria“ – allein Gott die Ehre!, lautet ein anderes: J.J., „Jesu juva“ – Jesu, hilf! Das ist ein Gebetsruf an den, der alles verwandelt. Die Grenze des Todes wird zum Leben hin überschritten. Inmitten aller Dunkelheiten der Passion Jesu werden die eigenen Finsternisse klar – das ist der erste Schritt zum Heil, durch klingendes musikalisch-bewegtes Geheimnis hinein ins ewige Leben, in Töne gebracht von ihm, den wir fromm mit dem schwedischen lutherischen Bischof Söderblom den „Fünften Evangelisten“ nennen oder abstrakt mit dem von Haus aus katholischen Komponisten Max Reger als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichnen – vielleicht ihn aber auch gleich ins ganz Große einer ozeanisch-rauschhaft-tiefen unauslotbaren Erfahrungswelt befördern mit dem universal und überkonfessionell denkenden Ludwig van Beethoven: „Nicht Bach sollte er heißen, sondern Meer.“

Foto: Bach-Denkmal in Eisenach.

Du machst es lang

Wie die Welt sein wird am Jüngsten Tag, weiß ja niemand. Dass alles einigermaßen plötzlich zu Ende geht, ist aber ausgemacht: Chopin hat das entsprechend auskomponiert. Ex nihilo, aus dem Nichts, das einst die Schöpfung entbarg, kommt unerwartet und radikal rückwärtsgewandt das Chaos wieder zum Vorschein. Es bricht herein, ohne die Sicherheitssysteme vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Das ist so inkommensurabel, dass niemand positiv darauf ansprechbar wäre.

In früheren Zeiten sah man das vielfach anders. Der lutherische Pfarrer Bartholomäus Ringwaldt scheint sich sehr auf das kosmische Ende gefreut zu haben, dessen Termin er für das Jahr 1584 berechnete. Als seine Vorhersage nicht eintraf und er sozusagen seinen eigenen Weltuntergang unfallfrei überlebt hatte, dichtete er seinem Sequenzlied „Es ist gewisslich an der Zeit“ einen Vorwurf und eine dringliche Bitte an den Heiland höchstpersönlich hinzu: „O Jesu Christ, du machst es lang / mit deinem Jüngsten Tage; / den Menschen wird auf Erden bang / von wegen vieler Plage. / Komm doch, komm doch, du Richter groß, / und mach uns bald in Gnaden los / von allem Übel. Amen.“

Rund zweihundertfünfzig Jahre später stand die Erde immer noch, sogar in Paris, wo Fryderyk Chopin als Emigrant eine zweite Heimat gefunden hatte, nachdem der polnische Aufstand 1830ff. niedergeschlagen worden war und somit „Kongresspolen“ weitgehend der Geschichte angehörte. Der Traum vom eigenen Staat schien für alle Zeiten ausgeträumt, und die Intellektuellen pflegten fortan ihr nationales Erbe im Geist, vor allem im literarischen und musikalischen Schaffen, zumeist im französischen Ausland.

Für Chopin war allerdings diese Entwurzelung zugleich Bekanntschaft mit dem Land seiner Vorfahren; denn die Familie seines französischen Vaters Nicolas Chopin, der als Sechzehnjähriger nach Polen ausgewandert war, hatte in Lothringen einen Weinberg bewirtschaftet, just an jenem Ort, wo sich ein Schloss befand, das zeitweilig Adligen aus dem Tross des vorletzten polnischen Königs gehörte, – nachdem dieser ins Exil gezwungen und von seinem Schwiegersohn, dem König von Frankreich, in diese Gegend eingeladen worden war. Die Reise in eine ungewisse Zukunft und das Bleiben zeitlebens in ihr hatte also für den jungen Pianisten und Komponisten eine kleine Tradition, und der Enddreißiger starb schließlich, 1849, im gespaltenen Bewusstsein eines expatriierten Polen: Es gab zwei Bestattungen ein und desselben Mannes; die äußere leibliche Hülle ruht auf dem Père-Lachèse-Friedhof zu Paris, sein Herz in einer Säule der Heilig-Kreuz-Kirche zu Warschau.

Frédéric Chopin befand sich als Wahlfranzose geistig in offener Gesellschaft, war doch 1830 ein gesamteuropäisches Revolutionsjahr. Das berühmte Gemälde von Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ ist ein Werk der Julimonarchie des sogenannten „Bürgerkönigs“ Louis Philippe d’Orléans. Dass in dessen Herrschaftszeit dann aber alles eher weniger gedankenfrei denn gnadenlos wirtschaftliberal sich gestaltete, weiß jeder, der so herrliche Schmöker wie Dumas‘ Roman „Der Graf von Monte Cristo“ gelesen hat. Aber immerhin wuchs durch die Geschehnisse in Frankreich – einmal mehr – anderswo die Hoffnung auf Abschüttelung größeren Jochs: Der belgische Staat entstand ebenso wie der Anfang des modernen Griechenlands. Und auch in verschiedenen italienischen Gegenden rumorte es im Blick auf eine hellere Zukunft.

Nur in der Musik nahm die Weltuntergangsstimmung ab 1830 peu à peu zu. Beethoven war drei Jahre zuvor gestorben, auch Schubert seit 1828 nicht mehr unter den Lebenden, Hoffmann bereits 1822 verschieden; die sich selbst als maßgeblich dünkende Szenerie bevölkerten aufstrebende Künstler wie Schumann, Mendelssohn und eben – Chopin. Die gebührende Hochachtung vor ihrem Schaffen muss in der Erkenntnis der jeweiligen Wurzeln liegen: Mit diesen drei Ausnahmemusikern setzt ein retrospektives Moment ein, das sich schöner Literatur als Ideengeber bedient (Schumann), lodernder Bachbegeisterung hingibt (Mendelssohn) oder wehmütiger Nationalmusik befleißigt (Chopin).

„Ich bin nicht alt, sondern retro“, sagen heute manch kulturell ambitionierte Zeitgenossen, die immer noch nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit des bürgerlichen Kulturbetriebs abläuft. Auch ich gehöre zu dieser Generation der nach 1960 Geborenen, außerordentlich, ja: rasend traurig, dass uns nun das passieren muss. Solange ich auf dieser Erde bin, werde ich die musikalisch-abendländische Kultur leben und sie verteidigen gegen die Anschläge wüster saudiarabisch verhetzter Mörder. Und es bricht mir das Herz, dass die eigene Regierung weder dem Salafismus noch dem Erdoganismus etwas Substantielles entgegensetzt. Als neulich der türkische Ministerpräsident in Oberhausen ein Stadion mit demneuensultanzubrüllenden Fans gegen Montesquieusche Gewaltenteilung füllen durfte, wäre ich ob dieser bloßen Nachricht fast eskaliert, ganz intransitiv und unfein.

„Alla turca“ ist als musikalischer Ausdruck in dem Augenblick passé, da die Türkennot obsolet wird. Mozart konnte noch von ihr zehren, siehe die „Entführung aus dem Serail“ oder das Rondo aus seiner A-Dur-Klaviersonate. Beethoven hat der Turkmode Beistand gezollt in seinen D-Dur-Variationen, aber allein deren Thema ist schon derart spaßhaft ersonnen, dass alles andere Ernsthafte dahinter verschwindet. Nach dem Ende realer Bedrohung übernahm die humoristische Sparte. Auch dies ist eine Form von Geschichtsbewältigung.

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Schumann, Mendelssohn und Chopin sind da von anderem Holz geschnitzt. Sie kennen kaum solchen spezifisch wienerischen Humor, sind zu sehr eingesponnen in die Metternichschen alleuropäischen retrospektiven Umstände ihrer im weitesten Sinne romantischen Verhältnisse. Alle drei sind sich persönlich begegnet, und besonders das tête-à-tête von Chopin und Schumann 1836 in Leipzig ist folgenreich geworden.

Heraus kam vom polnischen Exulanten aus Paris seine dem deutschen Verehrer – und Schöpfer der zuvor ihm zugedachten hoffmannesken „Kreisleriana“ – gewidmete zweite Ballade für Klavier, fertiggeschrieben auf Mallorca im Winter 1838/39 unter innerlich wie äußerlich schlimmsten Bedingungen. Seine Lebensgefährtin mitsamt ihren Kindern war nicht d’accord, auch senkte sich Leid ob kaltwasserrieselnder Wände in der Unterkunft über den empfindlichen Künstler. Und: Das Stück beginnt völlig harmlos in F-Dur und endigt in erst unbändigem, später fahlem a-moll. Es ist eine auskomponierte agogische Katastrophe, die sich hier für kommende unheilvolle Zeiten manifestiert.

(Pogorelich)Chopin Ballade No.2 – YouTube

Das werkimmanente Unglück setzte sich fort, als beim Warschauer Chopinwettbewerb 1980 der kroatische Jungstar Ivo Pogorelich nicht in die Endrunden zugelassen wurde. Aus Protest gegen die Mehrheitsmeinung verließ die renommierte Pianistin Martha Argerich wütend die Jury und rief aus: „Alle Töne waren falsch. Er ist ein Genie!“ – Dem damals 22jährigen jugoslawischen Nachwuchskünstler hat dieser Skandal keineswegs geschadet; denn Charakter und Sound des Stückes sind seitdem – trotz einiger Patzer – für Ewigkeiten getroffen.

Wer die Musik Chopins verstehen will, kommt an Mozart nicht vorbei und kann Schumann nicht außer acht lassen. Der polnische Jüngling hatte reüssiert mit Variationen zur Arie „Reich mir die Hand, mein Leben“ aus Wolfgang Amadé Mozarts „Don Giovanni“, begeistert besprochen von Robert Schumann. Und bei der Trauerfeier für den längst von der schriftstellernden Mannfrau George Sand verlassenen Künstler wurde, seinem letzten Wunsch gemäß, Mozarts Requiem aufgeführt. Dessen Sequenzvertonung „Dies irae“ gehört zu den großen Schockern des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Aber noch heftigeren Schrecken verursacht bis heute das Opernfinale mit dem steinernen Gast: Nie hat sich Mozart harmonisch kühner und todesgewisser ausgedrückt als vor der Höllenfahrt seines Alter Ego, des in der Welt des Ancien Régime wesenden adligen Lebemannes Dom Juan.

„Plötzlich, in einem Augenblick“, im Deutschen Requiem des von Schumann bis zum Wahnsinn geliebten Johannes Brahms lutherisch mit den Worten aus dem ersten Korintherbrief des Apostels Paulus zum Klang gebracht knapp eine Generation nach Chopin: Da wird besungen, was tatsächlich im Jüngsten Gericht geschieht. Und doch sind alle diese musikalischen Werke inhaltlich nicht so beklemmend, was tremor und furor angeht, wie jener Bruch in der zweiten Klavierballade des polnischfranzösischen Kompo*Pia*nisten.

Chopin, Opus 38, Übergang von Takt 45 zu Takt 46 (Minute 3; Sekunde 9): Im Gegensatz zu Mozarts Komptur-Szene, wo, wenngleich schlagartig düster, dann doch letztlich (aus der Ouvertüre und aus der Friedhofsszene) vertraute Motive aus vorangegegangenen Nummern ertönen, weiß man hier im vorhinein so rein gar nicht, was einen erwartet. Wenn es klaviermusikalisch überhaupt ein Vorbild für diesen choc gibt, dann fällt mir nur der langsame Satz aus der späten A-Dur-Sonate von Franz Schubert ein, diese irre Explosion aus einer zwar traurigen, aber immerhin melodiösen und keinesfalls terrorverdächtigen fis-moll-Landschaft heraus.

Zurück zu Chopin: Da rastet also jemand aus, titelgebendes F-Dur hin oder her. Der erste a-moll-Ausbruch ist nur kurz, man könnte meinen, da sei die Musik lediglich mal eben für ein paar Takte aus der Spur geraten. Doch weit gefehlt! Der Furor kehrt wieder, zunächst nicht ganz so schlimm scheinend, weil etwas vorzeitiger sich in aufstrebend-vollakkordischen Motivgruppen ankündigend: Aber der Tremor verstärkt sich dann doch, geht trillerzürnend und untiefenwankend über in ein Schreckensfinale, das chromatisch wie diatonisch seinesgleichen sucht, was Faktur und Ausdruck anbelangt … Wo in Konzerten eine Kadenz folgen würde, ist eine Generalpause, dann erklingt der klagend matte Abgesang aus Motiven des Eingangsthemas, traurig ohne bisherige Raserei, vielmehr beklemmend aussichtslos sich ins Schicksal fügend. Doch sage keiner, da habe jemand vorher nicht bis zuletzt gekämpft!

Manchmal denke ich, es wäre gut, wenn Chopins Klavierkosmos zur Pflichtlektüre erhoben würde – gleich dem Liederschatz der Kirchen. Man muss da natürlich aufpassen: Der polnisch-französische nachlässige Normkatholik Chopin wurde ja von den Mallorquinern auch deshalb tratschend verworfen, weil er mit seiner Nichtehefrau und deren – in den Augen der Spießer – irgendwie entstandenen Kindern niemals in die Messe ging; und Choralbearbeitungen waren unter solchen Umständen kaum zu erwarten, wenn man von religioso-Abschnitten und polyphonen Takten in seinem übrigens höchst diffizilen und differenzierten kompositorischen Werk einmal absieht.

Wenn es denn zutrifft, dass Bachs Wohltemperiertes Klavier das Alte und Beethovens Sonaten das Neue Testament der Klaviermusik darstellen (Hans von Bülow), dann sind Chopins Werke die Quintessenz aus beiden. Nicht der Pariser Salonlöwe ist maßgebend, sondern der seelische Gehalt einer musikalischen Sprache, die gewisslich an der Zeit das Ihre einfach frei heraus sagt. Ringwaldt hätte vielleicht sogar seine Freude daran gehabt. Und, wer weiß, was am Jüngsten Tag, erstaunt und womöglich benommen, von all diesen Vorgriffen aufrichtig bedacht und milde beurteilt wird.

Statt auf die Fülle der Chopin-Literatur hinzuweisen, gebe ich für Interessierte einen einzigen Lesetipp – Tadeusz A. Zielinski: Chopin. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Aus dem Polnischen von Martina Homma und Monika Brockmann. Mainz 2008.