Buchlos glücklich

Mein erster benoteter Deutschaufsatz auf dem Gymnasium war zugleich der letzte seiner Art: Über ein freies Thema sollten wir schreiben, und ich entschied mich für den ersten von drei Vorschlägen: „Mein erster Schultag“. Mir bescherte dieses mein dortiges Erstlingswerk im klassischen Fach gleich die Bestnote, eine uneingeschränkte Eins.

Alle folgenden schriftlichen Klausuren bis hin zur Abiturprüfung bestanden meist aus dem Dreischritt Inhaltsangabe – Interpretation – Stellungnahme. Da waren dann jeweils bereits existierende literarische Werke die Grundlage. Entsprechend referentiell fielen die Aufsätze darüber aus. Textliche Eigenschöpfungen waren nicht mehr gefragt. Man hangelte sich extrem schülerhaft durch, nachvollziehend, verständig, letztlich: brav.

Eine andere Aufsatzgattung hieß „Argumentation“. Hier ging es zunächst noch ein wenig freier zu, indem Realien aus dem Alltag zur Diskussion standen. Allerdings war da bald eine Grenze erreicht: Zur Auswahl in der neunten Klasse stand einmal unter anderem das Thema: „Sollen alle Schüler männlichen Geschlechts in der Oberstufe Bärte tragen?“ – Dazu schrieb niemand etwas. Unser feinsinniger Deutschlehrer war darob ein bisschen erstaunt, ließ diesen Umstand aber im weiteren still auf sich beruhen …

Als wir dann selbst mit Eintritt in die elfte Klasse Oberstufenschüler wurden, differenzierten sich die Argumentationsmethoden noch einmal aus, dergestalt, dass vorgegebene Texte von Lessingschillergoethe über Mannbrechthesse bis zu Grassbölllenz in ihrem gedanklichen Gehalt bitteschön „in eigenen Worten“ auseinandergenommen werden mussten. Im Vordergrund als Forderung stand mithin das Verstehen vom Bestehen(den). In Bayern hätte man leben müssen: Da gab es die Möglichkeit zur Wahl eines freien Themas sogar bis zur Hochschulreife.

So hoch also die Anleitung zum eigenständigen Lernen in meinem niedersächsischen Schuldurchlauf veranschlagt wurde, so wenig Originales konnte daraus erwachsen. Wer nicht nebenher in seiner außerschulischen Freizeit Bücher las, dem kamen die kreativen Fähigkeiten schnell abhanden. Gefühlvolle Sprachgebilde, zu „Gedichten“ hochstilisiert, waren dann das Äußerste, was zu Papier gebracht werden konnte. Wem es gelang, doch auch den einen oder anderen Roman von Anfang bis Ende durchzulesen, mochte sich glücklich schätzen. Für den „Zauberberg“ musste ich erst krank werden, um mich ihm im Bett, ganz ungestört, freifiebernd hinzugeben.

Mit jedem Großwerk, das ich las, wurde ich kleinmütiger in Hinsicht auf meine eigenen literarischen Ambitionen. Den richtigen Überblick bekam ich nie; jedenfalls keineswegs so, dass ich guten Gewissens selber ein ganzes Buch hätte schreiben, geschweige denn zum Druck befördern wollen … Des Büchermachens ist kein Ende, weiß schon der Prediger Salomo. Diese weise Erkenntnis hemmt das bloße Nachplappern. Ich würde mich nur in den Bahnen des allseits Bekannten bewegen – beziehungsweise in ihnen verharren. Merke: Nichts Neues unter der Sonne! Alles darüber Hinausstrebende wäre ganz eitel.

Aus diesem kühlen Grunde habe ich mir für den Hausgebrauch meine eigenen Ausdrucksformen geschaffen, geschult in Rezeption, aber doch schöpferisch im Kleinformat. Ich lese alles, doch soll mich nichts gefangennehmen. Und wenn mir was in Herz und Verstand grünt, dann hat das mit der gleichfarbigen politischen Partei nichts zu tun. Da bin ich meinen Lehrern aus der Schulzeit tief dankbar; denn sie fügten sich zwar ihren lehrplanmäßigen Pflichten, ließen uns aber zugleich die Freiheit ergreifen, darüber hinaus, ohne Bärte oder andere Masken, sinnlich weiterzudenken.

Wenn keine Aussicht besteht, Erstklassiges abzuliefern: dann läßt man’s besser gleich ganz bleiben. Dies gilt nicht nur für die Produktion von Büchern, sondern auch zum Beispiel für eine Bewerbung zum einflussreichsten politischen Amt, das in der Bundesrepublik Deutschland zu vergeben ist. Oder für beides.

Foto: Steinerne Eule im Schrevenpark zu Kiel.

Merkel, Malu, Mali

Wir leben in seltsamen Zeiten. Noch nie war in Deutschland das beamtete Christentum so stark in den oberen Rängen vertreten. Unser Bundespräsident war früher einmal Pfarrer, unsere Bundeskanzlerin ist Pfarrerstochter. Und dennoch ist der christliche Glaube in unserem Gemeinwesen auf dem Rückzug. Von einer Theokratie kann also niemand sprechen. Alle Kirchenkritiker sollten wissen, dass eben trotz Herrn Gauck und Frau Dr. Merkel unser demokratischer Staat weiterhin reibungslos funktioniert. Allenfalls irritieren müsste, dass das christliche Bekenntnis denn doch so wenig in den Köpfen und Herzen der bundesdeutschen Bevölkerung präsent ist. Wie anders ist es zu erklären, dass viele Bürger ehrenamtlich in der Flüchtlingskrise helfen, ohne aber kirchlich affin zu sein? Und was ist von Leuten zu halten, die sich über „Religion“ echauffieren und dennoch ihren Beitrag leisten, um den Migranten zu helfen?

Vielleicht wirkt hier eine Form der Aufklärung nach, die sich dem, wagnerisch gesprochen, „Reinmenschlichen“ verschrieben hat. Ja, richtig gelesen, „wagnerisch“. Ich meine tatsächlich Richard Wagner, von dem ja mittlerweile die Saga umgeht, er sei ein Nazi gewesen. Aber wer im Jahre 1883 das Zeitliche segnete, wird kaum für deutsche Untaten des zwanzigsten Jahrhunderts haftbar gemacht werden können. Und wir müssen uns eben den Wagner denken, der 1849, nach dem Aufruhr in Dresden, steckbrieflich gesucht wurde als ein Anhänger der 48er-Revolution. Dass er ein besonders frommer evangelischer Christ gewesen sei, ist eine andere Frage. Aber er entstammte eben diesem geistigen Milieu, als Thomasschüler in Leipzig, als Komponist des für die Dresdner Frauenkirche bestimmten „Liebesmahls der Apostel“, als Schöpfer des nicht vertonten eigenen Versepos „Jesus von Nazareth“, als „Lohengrin“, „Meistersinger“ und „Parsifal“. Sein „Holländer“ ist ohne Mendelssohns „Elias“ nicht zu denken, einmal abgesehen vom lutherischen Impetus im „Rienzi“ und im „Tannhäuser“ –  oder von der Bachschen Polyphonie im Nürnberger Drama, im „Tristan“ und im gesamten „Ring“. Wenn jemand Aufklärung popularisiert hat in Deutschland, dann waren es Wagner und seine Mitstreiter. Das kirchliche Christentum wurde bei ihnen geweitet in eine Weltanschauung, die sowohl dem wissenschaftlich Zweifelnden als auch dem künstlerisch Begeisterten Heimat verschaffte. Manchmal wird das als „Menschheitsreligion“ bezeichnet.

Goethe, Kant und Mozart waren dafür „Urväter“ und Vermittler, Schleiermacher, Hegel und Beethoven folgten ihnen auf je ihre Weise nach. Lessing, Leibniz und Bach gingen ihnen voran, und niemand von diesen Großen hätte sich nur im entferntesten vorstellen können, dass diese Form von Bildung und Anstand in der Katastrophe des sogenannten „Dritten Reichs“ enden würde. Wäre man doch nur beim „Ersten Reich“ geblieben, jenem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das 1806, einfach so mitten in den Sommerferien, aufgelöst wurde … Aber wir wollen ja nicht klagen. Es ging weiter, und nun haben wir es heute mit einer Kanzlerin zu tun, die, gut evangelisch, Gutes mit Gutgemeintem vermengt, vermischt und am Ende verwechselt.

Es ist die „Alternative für Deutschland“, die nun alles durcheinanderbringt. Diese Partei hatte sich zunächst durch ihre Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung bekanntgemacht. Mittlerweile hat sie sich ihrer finanzpolitischen Elite entledigt und zeigt ihre Pegida-Fratze. Aber in diesem abscheulichen Tun legt sie den Finger in die Wunde eines abgehalfterten Europa, das zwar immer von „Werten“ spricht, zugleich jedoch die eigenen christlichen Errungenschaften in Abrede stellt. Die „politische Korrektheit“ greift derart um sich, dass das Reichsmuseum zu Amsterdam nun beispielsweise meint, alle irgendwie als anstößig empfindbaren Titel unter unsterblichen Rembrandtgemälden verändern zu müssen. Wie doof ist das denn?

Hier im föderalen Deutschland  entblödet sich eine Ministerpräsidentin nicht, einer „Elefantenrunde“ einen Korb zu geben, weil eben unliebsame andere Parteien ihre Vertreter in die Sendung des Südwestrundfunks schicken könnten. Liebe Frau Malu Dreyer, Sie sind einfach nur feige. Wenn Sie schon Böses ausgemacht haben wollen, dann stellen Sie sich doch furchtlos und engagiert und argumentativ super bewaffnet diesen Gegnern! Wahlkampf ist etwas anderes als eine jener schrecklich langweiligen neudeutschen Podiumsdiskussionen, auf denen sich am Anfang wie am Ende alle immer nur liebhaben!

Schließlich, nach Merkel und Malu, ist noch eines geschundenen Landes zu gedenken. Aus ihm kommen meines Wissens kaum Flüchtlinge hierher. Aber sie wären unbedingt willkommen, sollten sie sich aus ihrem Land auf den Weg machen. Dort, in den Bibliotheken, lagert literarisches, philosophisches und musikalisches Weltwissen. Es ist die Tragik unserer Zeit, dass wir vor lauter Islamhasserei diesen kulturellen Schätzen keine Aufmerksamkeit, kein Nachdenken, kein Gehör schenken. Dabei wäre es die Mystik, die alle Religionen versöhnen könnte. Da ist die jüdische Kabbala, die christliche innere Versenkung, die islamische Sufi-Bewegung. Seit Jahrhunderten. Von Mali aus wäre ein neuer Aufbruch doch zumindest denkbar. Oder? Weltmusik ist dort entstanden, die sich mit Psalmodien und Choralmelodien verbinden kann und auch international bereits verbunden hat. Wäre nicht die Musik, als echtes einmaliges Zeugnis des Abendlandes, bereit, sich mit ihren Vorfahren aus Jerusalem und Timbuktu zu vereinigen?

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Alles das ist möglich, wenn wir hier in Deutschland uns der eigenen christlichen Wurzeln bewusst bleiben. Denn man ist immer stark, wenn der eigene Glaube gepflegt wird. Eine „Islamisierung des Abendlandes“ muss niemand befürchten, der sich dem erlernten Christentum widmet und treu zu ihm steht. Pegida und die neuen Nazis halten nichts von den Kirchen – so wenig wie weiland die Machthaber des Dritten Reichs und der „DDR“. Und, meine lieben Kirchenleute, leider muss daran erinnert werden: Das Gutgemeinte ist nicht immer automatisch gut. Flausen im Kopf gehen an der Realität vorbei. Im übrigen gilt allen, die Merkel, Malu und Mali uneingeschränkt toll finden oder sie andererseits total ablehnen, das Wort, das einst auf Willy Wolke gemünzt war und uns immer wieder realpolitisch traurig macht, seitdem sein Urheber – wider Erwarten – dann doch mit 96 Jahren verstarb: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Abbildung: Detail aus „Madonna mit Kind und musizierenden Engeln“, Lombardische Schule um 1500, auf dem Schutzumschlag zu: Musica. Geistliche und weltliche Musik des Mittelalters. Herausgegeben von Vera Minazzi unter Mitarbeit von Cesarino Ruini. Aus dem Italienischen, Englischen und Französischen übersetzt von Yvonne El Saman. Freiburg im Breisgau 2011.