Wer sich von den für „zeitgemäß“ erachteten Forderungen, was „Kirche“ alles „muss“, einwickeln lässt, sollte nicht vergessen, wo eigentlich die Basis ist. Besinnt man sich auf diese Frage, dann landet man unweigerlich beim sogenannten Buch der Bücher, bei der Bibel, der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Um überhaupt auf dieses fürs christliche Selbstverständnis grundlegende Faktum bloß erst einmal hinzuweisen (nicht mehr und nicht weniger), gibt es hier nun Abschnitte zu lesen, die vielleicht am treffendsten als Sprechzettel zu bezeichnen wären.
Notizen haben etwas Apodiktisches. Sie sollen zu rhetorischen Höhenflügen führen. Zugleich dienen sie der eigenen Vergewisserung, was lexikalisch immer und jederzeit und überall abrufbar ist. Das gibt jeder Präsentation auch ohne Powerpoint und trotz allem Informationsgehalt zwar etwas Einseitiges und Beschränktes; zugleich kann solch ein Vortrag jedoch anregend wirken und zum Widerspruch reizen. Also:
Gott ist nur aus seinem Wort zu erkennen. Wir sehen ihn nicht, aber wir können ihn hören. Was die Propheten von ihm vernommen haben, ist aufgeschrieben im Alten Testament. „Höre des HERRN Wort“ ist häufig Einleitungsformel für eine prophetische Weisung. Diese Erkenntnis Gottes im biblischen Kanon ist schon in der Schöpfungsgeschichte vorausgesetzt: Auf das Wort Gottes hin wird alles geschaffen: „Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.“
Die Theologie Israels verstärkt nach Landnahme und Tempelbau diese Anschauung. Gott wird gepriesen in Liedern, die vor allem im Buch der Psalmen auf uns gekommen sind. Der singende Mensch im Gottesdienst antwortet in dieser Weise auf den klingenden Anspruch Gottes.

Allmählich werden die prophetischen Aussprüche, die Erzählungen von Schöpfung, Vätergeschichten, Auszug aus Ägypten und Wüstenwanderung, Einzug ins Gelobte Land, Sesshaftwerdung, die Chroniken von Richtern und Königen, dazu Gesetzessammlungen, Weisheitssprüche, Lieder und Gebete zusammengetragen und im Kanon der Hebräischen Bibel geordnet. Die ersten fünf Bücher Mose gelten als „Thora“ („Weisung“); sie sind bis heute im Judentum der wichtigste Teil der Offenbarungen Gottes.
Im späten vorchristlichen Altertum wird der hebräische Text in die damalige Weltsprache Griechisch übersetzt. Dieses griechische Alte Testament wird „Septuaginta“ genannt, weil die Legende von siebzig Übersetzern berichtet, die unabhängig voneinander dem Herrscher in Alexandria wortgleiche griechische Textfassungen abliefern.
Nicht mehr einzelne Zitate gelten als Wort Gottes, sondern die Gesamtheit der schriftlichen Überlieferung vom Glauben an den Gott Israels firmiert als „Wort Gottes“. Damit ist die Heiligkeit des Wortlautes, ja des einzelnen Buchstabens gegeben. Der Gedanke der „Verbalinspiration“, dass also Gottes Geist Wort für Wort den Schreibern diktiert hat, kommt bereits im Judentum vor Christi Geburt auf.
In Ägypten unter den griechischsprechenden Juden sind noch weitere biblische Bücher im Umlauf, die man später „apokryph“ („verborgen“) nennt. Sie werden nicht in den hebräischen Kanon aufgenommen (z. B. Jesus Sirach, Tobias, 1. / 2. Makkabäer, Stücke zu Daniel).
Die ersten Christen leben mit der griechischen „Septuaginta“. Aus dieser Fassung der jüdischen Bibel zitieren die Evangelisten überwiegend. Der Gedanke der Jungfrauengeburt ist zum Beispiel der griechischen Übersetzung entnommen. Aus dem Gottesdienst der Synagoge übernehmen die Christen das Singen und Beten der Psalmen Davids. Im Umgang mit diesen Texten verstehen sie Kreuz und Auferstehung Jesu als „geweissagt durch Mose und die Propheten“.
In Anlehnung an die Messiasverheißungen des Alten Bundes entstehen im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt die Schriften des Neuen Testaments. Die Briefe des Apostels Paulus sind die ältesten erhaltenen schriftlichen Erzeugnisse des Urchristentums, entstanden zwischen 50 und 60 nach Christus. Unter den Evangelisten trägt als erster Markus um 70 n. Chr. Berichte und Worte Jesu im größeren Rahmen zusammen, darauf bauen Matthäus (um 80) und Lukas (um 90) auf. Unabhängig von diesen schreibt Johannes (um 100) sein Evangelium. Der erste Satz „Im Anfang war das Wort“ erinnert an die Schöpfungsgeschichte: Das Wort Gottes hat Gestalt angenommen, es ist „Fleisch“ geworden, sein Name ist Jesus Christus.
Das Neue Testament ist von vornherein in der Umgangs- und Verkehrssprache des östlichen Teils des Römischen Reiches auf griechisch abgefasst. Schon sehr bald gibt es auch Übersetzungen in die koptische, armenische, georgische und lateinische Sprache. Nicht der einzelne Buchstabe ist „heilig“, sondern der Sinn der Worte: Es geht um die Botschaft von Jesus Christus, die bereits seit dem ersten Pfingstfest (Apostelgeschichte 2) vielsprachig und vielgestaltig ist.
Im Laufe des vierten Jahrhunderts entscheidet man endgültig, welche Schriften zum Kanon gehören und welche nicht. Bis dahin ist vieles im Fluss. Das betrifft vor allem die Offenbarung des Johannes, aber auch den Hebräerbrief und andere kleinere neutestamentliche Schriften. Ein Anstoß, überhaupt diese Frage zu klären, geht seit dem zweiten Jahrhundert von den sogenannten „Gnostikern“ aus, die radikal alles Jüdische aus dem Kanon verbannen wollen. Dagegen verwahrt sich die verfasste Kirche schließlich mit Erfolg.
Die Frage, wie die biblischen Texte unter den sich wandelnden Zeitumständen angemessen zu verstehen sind, führt schon in den ersten christlichen Jahrhunderten zu Auslegungen und Kommentaren durch Prediger, Bischöfe und Gelehrte, die sogenannten Apostolischen Väter und die Kirchenväter. Zunächst sind hier die griechischsprachigen Theologen federführend; ab dem dritten und vierten Jahrhundert verschiebt sich der theologische Schwerpunkt nach Westen in die lateinischsprachige Welt hinein.
Sind die griechischen Kirchenväter eher an philosophischen Fragen in ihrer Bibelauslegung interessiert – etwa in Hinsicht auf die Dreieinigkeit oder das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem in der Person Jesu Christi – , so beschäftigen sich lateinische Kirchenväter wie Ambrosius oder Augustinus mit Fragen der praktischen Lebensführung, der Stellung der Kirche in der Welt oder den Aufgaben von Staat und Gesellschaft.
Als Normalausgabe der Bibel gilt im Westen die lateinische Übersetzung des Hieronymus aus dem vierten Jahrhundert, auch wenn dies kirchenamtlich erst auf dem römisch-katholischen Konzil zu Trient (zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) bestätigt wird. Hieronymus ist für die folgenden tausend Jahre der letzte große Theologe, der das Alte Testament unter Zuhilfenahme des hebräischen Urtextes übersetzt.
Die vorreformatorischen deutschen Übersetzungen von Teilen der Bibel fußen auf dieser lateinischen Fassung des Hieronymus, der sogenannten „Vulgata“. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks werden hebräischer und griechischer Urtext wieder zugänglich. Luther hat seine Bibelübersetzung aus den Ursprachen erstellt.
Gegenüber dem amtskirchlichen Bibelverständnis (Schlüssel- und Lehramt des Apostels Petrus, siehe Matthäus 16 und 18) gibt es andere Zugänge. Besonders das Mönchtum der Wüstenväter (Antonius) und die großen Orden des Mittelalters (Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner) versuchen, ihre – andere – Art zu leben mit den „Evangelischen Räten“ bzw. mit der Bergpredigt zu begründen.
In diese Richtung gehen auch verschiedene vorreformatorische Volksbewegungen innerhalb der mittelalterlichen Kirche (so die Waldenser oder die Böhmische Brüder). Hier findet sich teilweise offener Widerspruch zur großkirchlichen Ordnung, hier werden erstmals Forderungen nach der Bibel in den Volkssprachen, nach jeglicher Absage an Waffengewalt (so das Verständnis von Matthäus 5) oder auch nach dem sogenannten Laienkelch („Trinket alle daraus“) laut.
Im Zeitalter der Reformation rückt die Frage nach dem „Kanon im Kanon“ in den Blickpunkt der Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der Bibel. Für Luther und seine Anhänger ist es die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben (Römer 1, 16f; 3, 21-28), die das spezifisch „Evangelische“, nämlich die Rettung vor dem Tod durch Christus den Gekreuzigten und Auferstandenen. Damit wird die Heilsautorität der Kirche radikal abgelehnt. Kirche wird als „Gemeinschaft der Heiligen“ im urchristlichen Sinne verstanden und mit den entsprechenden Bibelstellen begründet.
Gegen das typisch evangelische „Allein die Schrift“ (lateinisch: sola scriptura) setzt das römisch-katholische Konzil von Trient (Tridentinum) die Parole: „Schrift und Tradition“. Das meint: In den dogmatischen Entscheidungen der Konzilien sowie des Bischofs von Rom, also des Papstes, wird eigentlich nur dasjenige weiter ausgeführt und erläutert, was auf der Grundlage der Heiligen Schrift sowieso „von allen zu allen Zeiten an allen Orten“ (Vinzenz von Lerinum, fünftes Jahrhundert) geglaubt worden ist. Dagegen sagen die Protestanten: Auch Konzilien können irren. Die Auslegung der Bibel erfordert eigenes Nachforschen und Nachdenken. Darum ist den reformatorischen Kirchen seit jeher so viel an Bibelübersetzungen in die jeweilige Volkssprache gelegen.
Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts beginnt die historisch-kritische Erforschung der biblischen Bücher. Von relativ einfachen Feststellungen (etwa: Die fünf Bücher Mose können nicht von Mose selbst geschrieben worden sein, weil an deren Ende von seinem Tod berichtet wird) bis hin zu komplizierten Theorien über unterschiedliche Spruch- und Schriftquellen (vor allem in den Evangelien die Frage: Was an Aussprüchen stammt vom „historischen Jesus“ und was ist spätere Gemeindebildung?) spannt sich bis heute der Bogen biblischer Auslegung.
Gegen die Intellektualisierung des Umgangs mit der Bibel in historischer Forschung und in der Dogmatik auch der altprotestantischen Geisteshaltung entstehen seit dem siebzehnten Jahrhundert erweckliche Bewegungen. Für sie ist wichtig, dass das Wort Gottes, wie es im biblischen Wortlaut sich darbietet, direkt zum Herzen des einzelnen spricht. Beispiele: Herrnhuter Brüdergemeine; Täufergemeinden (woraus später die Baptisten hervorgehen); pietistische Hauskreise & cetera. Bei den Methodisten wird das persönliche Bekehrungserlebnis wichtig.
In der heutigen Zeit gibt es im deutschsprachigen Raum keine grundlegenden Unterschiede mehr zwischen evangelischer und katholischer Auslegung der Heiligen Schrift. Einerseits sind die Protestanten vorsichtiger geworden, ob die Rechtfertigungslehre tatsächlich das Herzstück biblischer Verkündigung ist; andererseits haben Katholiken längst akzeptiert, dass die biblischen Erzählungen nicht einfach sagen wollen, wie es damals zur Zeit Jesu war, sondern vieles von ihrer eigenen Gemeindesituation in die Geschichten eintragen. Zudem ist allgemein anerkannt, dass die Menschen zur biblischen Zeit ein ganz anderes Weltbild hatten als wir, die wir im Zeichen der Kopernikanischen Wende seit bald fünf Jahrhunderten leben (müssen).
Dieser exegetische Konsens wird jüngst wieder in Frage gestellt. Nicht nur Ratzingers Jesus-Bücher, sondern auch Anregungen gesellschaftspolitischer, religionskundlicher, archäologischer, historischbesserinformierter, jüdischchristlichdialogischer, feministischer, gendergerechter oder umweltbewusster Zeitgenossen lassen die „Klassiker“ der protestantischen Bibelauslegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, namentlich geprägt durch Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack, Karl Barth und Rudolf Bultmann samt ihren Schülerinnen und Schülern, mittlerweile schon wieder alt aussehen.
Die Frage erneuert sich mit den Zeitläuften, inwiefern dogmatisch-erhabene und zugleich exegetisch-detaillierte Beschäftigung mit der Bibel das Wort Gottes stets bezeugt. Solange diese Welt so unvollkommen daherkommt, wie sie nun einmal ist, wird sie deshalb ohne philologisch und hermeneutisch geschulte Theologieversuche schwerlich auskommen.
Abbildung: Beginn von Psalm 1 in der Hebräischen Bibel.