Jesus nahm zu …

… sich die Zwölfe: So lauten die ersten Worte jener Kantate, mit der sich Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Sonntag Estomihi 1723 in Leipzig bewarb. Volle dreihundert Jahre ist dies nun her. Bach bekam den Posten des Thomaskantors und städtischen Musikdirektors – aber nur deshalb, weil zuvor der favorisierte Georg Philipp Telemann (1681-1767) abgesagt und der zweitplazierte Christoph Graupner (1683-1760) von seinem Dienstherrn keine Erlaubnis zum Stellenwechsel bekommen hatte.

Bach trat sein neues Amt zum Ersten Sonntag nach Trinitatis an, das war Ende Mai 1723 – und blieb bis zu seinem Tod auf dieser Stelle, 27 Jahre lang. Jesus nahm zu, und zwar in einer Weise, wie es die Leipziger nicht gedacht hätten – und eigentlich auch nicht wollten. Denn fortan bekamen sie in den Gottesdiensten der Thomas- und der Nicolaikirche regelrechte musikalische Predigten zu hören: kunstvoll gearbeitet und zugleich tief beseelt – in ihren Ohren jedoch unangemessen hochdramatisch, gar opernhaft. Das überforderte so einige, die in der stolzen Bürgerstadt den Ton angaben. Auch die Prediger auf den Kanzeln und die Gemeinden unter ihnen hatten für diese Bachsche gottesdienstliche Musik mit Soli, Chor und Orchester, die auf den Emporen von den Sängern und Instrumentalisten der Thomaner aufgeführt wurde, oftmals nur Stirnrunzeln übrig.

Bach bemerkte bald, dass unter diesen Umständen sein Feuereifer für das musikalisierte Evangelium an der Harthörigkeit der städtischen Bürgerschaft erlöschen musste. Mitten im dritten Jahrgang der Kantaten brach er mit der wöchentlichen Neuproduktion (nur jeweils durch Advents- und Passionszeit unterbrochen) ab. Eine vierte und vielleicht auch fünfte Serie stoppelte er noch zusammen. Aber danach führte er zunehmend eigene ältere Werke oder die von Familienmitgliedern auf, präsentierte Musiken von Kollegen wie zum Beispiel Telemann oder ließ so manches seit Jahrzehnten vergessene Stück aus dem reichhaltigen Archiv der Thomasschule erklingen. Der eigene Fundus diente zudem, wenn er nicht in späteren Kirchenjahren eins zu eins wiederaufgeführt wurde, als Material für Umarbeitungen und Ergänzungen. Nur noch selten komponierte er neue Kantaten, vielfach aber auch dann kompiliert und arrangiert aus bereits vorhandenem Material: zum Beispiel in den 1730er Jahren ein halbes Dutzend, das „Weihnachtsoratorium“.

So oder so aber nahm Jesus zu. Nach der Wiederaufführung der Matthäuspassion durch den gerade zwanzigjährigen Felix Mendelssohn (1809-1847) im Jahre 1829 wurden auch die Bachkantaten neu entdeckt. Es war die Zeit zwischen politischer Restauration, Biedermeier und Vormärz (1815-1848), die insgesamt eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit mit sich brachte. Dass Bach zu den großen historischen Figuren gehören würde, galt nun als ausgemachte Sache. 1850 gründete man die Bachgesellschaft, die eine Gesamtausgabe aller Werke Johann Sebastian Bachs zum Ziel sich setzte. Robert Schumann (1810-1856) und Johannes Brahms (1833-1897) trugen ihren Teil dazu bei. Nachdem im Jahr 1900 diese Großtat vollendet war, folgte die Gründung der Neuen Bachgesellschaft e.V., die bis heute besteht und sich der „Neuen Bach-Ausgabe“ sowie einer zeitgenössischen Bachpflege verschrieben hat.

Im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) von 1950 stehen die Kirchenkantaten ganz am Anfang, BWV 1 bis 199. „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ trägt die Nummer 22. Die erste Leidensankündigung Jesu zu Beginn der vorösterlichen Fastenzeit wird kombiniert mit Anklängen an den weihnachtlichen Letzten Sonntag nach Epiphanias drei Wochen zuvor. Der warmherzig-melancholische Beginn geht in dieser Kantate auf in einer Festmusik, die in der Erinnerung an die Verklärung Jesu bereits Ostern in den Blick nimmt. Eine schöne Aufnahme zum Anhören auf YouTube: J.S.Bach/Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV 22 (Herreweghe).

Bachs Kantaten haben, seitdem sie in der Welt sind, diese eigentlich immer schon geistig-geistlich überwunden durch ihre musikalische Rhetorik. Texte der Lutherbibel, Choräle aus der Reformationszeit bis hin zu Paul-Gerhardt-Liedern, Arien auf Dichtungen der Bachzeit: In dieser Musik wird alles zur Klangrede der biblischen Botschaft. Die Jüngerschar der „Zwölfe“ setzt ihrem Meister in dem Probestück vom 7. Februar 1723 durchaus zu, aber das tut dessen Predigt und Geschick keinen Abbruch. Wo immer Bachs Evangelium erklingt, kann der Glaube im Wachsen begriffen sein, völlig unabhängig von ach so wichtigen heutigen öffentlichkirchlichen Verlautbarungen zu sämtlichen tagespolitischen Themen – wie einst, als der Solist anhub: „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“.

Jesus nahm zu, damals, mit Bachs Kantaten für die Sonn- und Festtage des lutherischen Kirchenjahres. Später, in kulturprotestantischen Zeiten, begegnete man Jesus wieder genau in dieser Musik bei konzertanten Aufführungen, bis man sie erneut auch für die evangelischen Gottesdienste im 20. Jahrhundert gemäß ihrem ursprünglichen Eigenverständnis hin und wieder einsetzte. Dieser Brauch hat sich bis heute erhalten. Freilich bedarf es dazu kirchenmusikalisch-hauptamtlicher Personen, entsprechender Chöre und Vokalsolisten, einer geeigneten instrumentalen Ausstattung sowie des nötigen Kleingelds.

Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom (1866-1931) nannte den von Max Reger (1873-1916) als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichneten Bach den „Fünften Evangelisten“. Und in jedem Fall wird Jesus nie geschmälert, sondern seine Botschaft nimmt zu durch die bis heute staunenerregende Klangwelt jenes Musikers, der sich vor 300 Jahren auf das nach wie vor bedeutendste Kantorenamt im evangelischen Deutschland bewarb. Das musikalische Christentum wirkt seither weit hinaus, international und überkonfessionell. Wohl auch in diesem Sinne hat der argentinisch-deutsche Komponist Mauricio Kagel (1931-2008) einmal gesagt: „An Gott zweifeln – an Bach glauben“.

Rheingold, Scheingold, Maingold

2023 hält wieder einige Fest- und Gedenkgelegenheiten bereit. Dass Grundlagen einbrechen können wie nicht mehr tragfähiges Eis, wäre uns vor fünfzig Jahren, in den ersten goldenen 1973er-Monaten, unvorstellbar erschienen.

Mit der erstmaligen Ausstrahlung der „Sesamstraße“ durch mehrere westdeutsche Fernsehanstalten zog ein unbeschwerter Optimismus auch bei den jüngsten Bundesbürgern ein. Obwohl es sich um eine TV-Serie „für Kinder im Vorschulalter“ handelte, waren auch ABC-Schützen und deren Eltern von Ernie, Bert & Co begeistert. Gern ließen wir, die wohlstandsverwöhnten Deutschen, uns generationsübergreifend auf humorvolle amerikanische Art unterhalten und ehrten das Krümelmonster insgeheim mit dem Orden vom Goldenen Keks.

1973 wurde dann nach trittsicherem Beginn aber auch zum Jahr des Ölpreisschocks. Auf den Jom-Kippur-Krieg im Oktober reagierten die arabischen Staaten mit massiven Preiserhöhungen für das Schwarze Gold, was hierzulande zu Sparappellen, Sonntagsfahrverboten und in der Folge zum Bau vieler neuer Atomkraftwerke führte. Man wollte sich befreien von einseitigen Abhängigkeiten. Die güldne Sonne und der Wind, der weht, wo er will, waren damals noch nicht im Gespräch.

Wer 2023 zurückblickt in die große weite und nur zu oft sehr ernste Weltgeschichte, kommt überhaupt an überraschend zahlreichen Daten nicht vorbei, die irgendwie mit Gold, Geld und also auch mit Macht zu tun haben. Vor 75 Jahren, im Juni 1948, wurde in den deutschen Westzonen die Währungsreform durchgeführt. Damit begann, noch bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war, die Erfolgsgeschichte der Deutschen Mark. Sie war übrigens nicht immer so „hart“, wie wir im nachhinein verklärend meinen. Gerade im Zuge der Ölkrise 1973/74 und nur kurze Zeit nach der Abkoppelung des US-Dollars vom Goldwert kam es zu einer Teuerung, die in einem Anstieg von Löhnen und Gehältern bis zu zehn Prozent gipfelte. Vor allem deswegen (die Affaire um einen DDR-Spitzel war nur Anlass, nicht Ursache) musste Bundeskanzler Willy Brandt dann im Mai 1974 abtreten und dem Finanz- und Wirtschaftsfachmann Helmut Schmidt das Amt überlassen.

Anders als heute gab es damals aber noch die „Vierte Gewalt“ in Gestalt einer Bundesbank, die wirklich gehört und geachtet wurde. Sie bewachte in Frankfurt am Main tatsächlich sozusagen das Staatsgold und wehrte alle Versuche ab, das Geld nachhaltig zu entwerten zugunsten haushalterisch flüchtigen Genusses im bloßen Hier und Jetzt. Sie verstand sich eben nicht als Staatsbank, die willfährig abgenickt hätte, was die Regierenden gerade meinten an Wohltaten ausschütten zu können. Vom Grundsatz einer von tagespolitischen Weisungen unabhängigen Notenbank ist nunmehr in Zeiten der EZB so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben.

Die Bank Deutscher Länder, die spätere Deutsche Bundesbank, war ja mit der Zielsetzung gegründet worden, eine verdeckte Geldentwertung wie im Dritten Reich sowie eine Hyperinflation wie die von 1923 ein für allemal unmöglich zu machen. 1948 war 1923 gerade einmal 25 Jahre her – nun werden es, im Herbst 2023, genau einhundert sein. Wir beobachten diesen Teil unserer deutschen Geschichte und verfolgen aufmerksam, wohin sich die europäische Geldpolitik entwickelt und gestaltet – so sie nicht abdriftet und uns in den gesellschaftlichen Untergang reißt. Lassen wir uns nicht aufs Glatteis führen!

Vor 175 Jahren war die hohe Zeit der „48er“. Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichten ihr „Kommunistisches Manifest“ im Blick auf die revolutionären Bewegungen in halb Europa. Den Forderungen nach der „Diktatur des Proletariats“ stimmten viele laut wie leise bei, unter ihnen ein Anarchist namens Richard Wagner, seines Zeichens Kapellmeister in Dresden. Sein nicht musikalisiertes Libretto „Jesus von Nazareth“ schrieb er 1848, intellektuell-werbewirksam an der Seite der Armen und Entrechteten, in einem Tonfall aber auch von Eigenrechtsanspruch und Neid. Der Streit und Kampf um den aus dem Schatz des Rheingoldes geschmiedeten Ring des Nibelungen ist da schon vorgebildet.

Was Johann Sebastian Bach mit seinem Dienstantritt in Leipzig vor nun 300 Jahren (Mai 1723) in Kantaten und namentlich Passionen von den Untiefen menschlichen Begehrens und Sehnens aus klingend-lutherischem Geist hinauf in die goldenen Hallen des Himmelreiches führte, wurde durch Wagner „geerdet“ und zu einem Menschheitsepos verarbeitet, dessen Protagonisten ihren eigenen Gesetzen folgen und im Streben nach ichbezogener Freiheit sich nur immer mehr verhaken und verheddern. Mit der Götterdämmerung hören Goldrausch und Geldgier mitnichten auf. Wer diesen Punkt erreicht hat und angesichts solcher aussichtslosen Lage beginnt, an Gott zu zweifeln, möge an Bach glauben. So jedenfalls hat es der Komponist Mauricio Kagel gehalten, der dieses goldene Wort prägte und dessen Stück sowie Film „Zwei-Mann-Orchester. Für zwei Ein-Mann-Orchester“ vor nunmehr fünfzig Jahren Aufsehen erregte.

Im Herbst 2023 werden es 375 Jahre her sein, dass in den Rathäusern von Osnabrück und Münster Verträge unterzeichnet wurden, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten. Dieser Westfälische Friede war nur deshalb nach jahrelangen Verhandlungen zustandegekommen, weil man eben, trotz allen Anfeindungen, miteinander geredet hatte. Die Gegner solcher Konferenzen, die vor jedweder Friedensordnung deswegen Angst hatten, weil sie dann ihre eigenen territorialen korrupten Willkürherrschaften drangeben müssten, hatten das Nachsehen. Insofern hat dieser Friedensschluss für 2023 womöglich einige Aktualität. Siegt Gewalt um ihrer selbst willen, ferner Gier nach Gold und Geld? Oder geht es nicht doch eher um deren Einhegung innerhalb einer Ordnung, die das verfasste Recht durchsetzt? Sollen wir auf diese eigentlich schon 375 Jahre alte bewährte Einsicht nun noch jahrzehntelang wie auf etwas ganz neu zu Erfindendes warten? Muss jede Generation erst wieder selber auf die heiße Herdplatte fassen, um zur Vernunft zu kommen?

Unter den vielen Anlässen, die in diesem Jahr gefeiert oder bedacht werden können, sei für heute nur noch die Grundsteinlegung des gotischen Kölner Doms zu nennen. Sie erfolgte 1248, also vor 775 Jahren. Geld hatte sich dort durch das Gold des Dreikönigsschreins unermesslich vermehrt. Die unablässig in die Rheinmetropole strömenden Pilgersleute brachten Reichtum und Wohlstand, so dass man aus dem Vollen schöpfen zu können meinte und sich frohgemut ans Werk machte. Nach etlichen geistigen und materiell-finanziellen Durststrecken kam das Projekt spätestens mit der Zeit der Reformation dann gänzlich zum Erliegen. Noch Heinrich Heine und Robert Schumann ließen sich von einer Bauruine inspirieren: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beziehungsweise der langsame Satz aus der „Rheinischen“ Symphonie sind gewissermaßen im Vorgriff auf das Endprodukt geschaffen. Erst im Oktober 1880 wurde die Kathedrale vollendet.

Vom mittelalterlichen quasi rheingoldfinanzierten Dom über inflationäres Scheingeld ohne Golddeckung bis zum 1948er Maingeld aus „Bankfurt“, das vielen bis heute ganz persönlich „mein Geld“ geblieben ist und erinnerungsweise wie tägliches Gold glänzt, kann also in diesem Jahr vieles bedacht und manches gar gefeiert werden – in eisfreien Zeiten wie diesen umso fester!