Meinungsfreiheit

Anekdotische Miszelle zu Artikel 5 GG

Ein häuslicher Bücherbestand bildungsbürgerlichen Anspruchs zeichnet sich aus durch geistige Weite ohne irgendwelche Einschränkungen. Das habe ich von Kindesbeinen an unzählig viel zu gut erfahren – schöne Wirkung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949.

Heute, am 73. Jahrestag seiner Verkündung, denke ich an meine Schulzeit in den frühen Achtzigern: Die besten Lehrer führten uns selbstbewusst ihre bibliophilen Schätze vor, Marx und Engels inbegriffen, um auf unsere erstaunten Nachfragen zu antworten: Ja, sie hätten auch diese Autoren gelesen, müssten aber feststellen, dass selbige etlichen Irrtümern erlegen seien – doch könnten sie das nur deshalb so sicher behaupten wegen eigener aufgewandter Lesebemühungen. Von Dritten wollten sie sich nicht noch einmal etwas sagen lassen – die Nazizeit sei ihnen da eine schreckliche Lehre fürs ganze weitere Leben gewesen. Klasse, dachten wir damals mit unseren siebzehn Jahren nur, das ist ja stark! So souverän wollen wir auch mal sein!

Das gab es tatsächlich einmal: Unbetreutes Denken!

Ein Beispiel von vor nunmehr vierzig Jahren

Waffen nach Saudiarabien? Der Bundeskanzler sprach sich dafür aus. Panzerlieferungen sollten es sein, aber die Frage kam auf, ob die nicht womöglich die Sicherheit des Staates Israel gefährden könnten. Helmut Schmidt hielt dies für unwahrscheinlich, das Königreich mochte also seiner Meinung nach das gewünschte Gerät bekommen. Das war im Jahre 1981. Eine neunte Klasse saß in einem Gymnasium irgendwo in Nordwestdeutschland über einem Deutschaufsatz. Das Interview mit dem Kanzler wurde per Kassettenrekorder eingespielt, und wir sollten uns schriftlich und zeugnisnotenrelevant dazu äußern.

Einige Tage später erhielten wir unsere umfangreich korrigierten Arbeiten vom Lehrer zurück. Der entschuldigte sich ja immer bei uns, wenn er es nicht gleich zur nächsten Deutschstunde geschafft hatte, alles durchgesehen und benotet zu haben. Er war neugierig genug, sofort nachzugucken, wer was gemeint und argumentativ begründet habe. So auch diesmal: Sein Lesepensum bot wieder Anlass zur Bewunderung – und sein Auffassungsvermögen hatte ihn nicht im Stich gelassen. Es gab zwei Einsen. Die so ausgezeichneten Jungs hatten aber mitnichten ähnliche Ansichten zu Papier gebracht. Gelinde gesagt, sie waren zu völlig unterschiedlichen Standpunkten gelangt.

Während der eine pragmatisch das Öl, den Westen an sich mit seinen arabischen Verbündeten und die Möglichkeit, dadurch auch Israel zu schützen, ins Feld der Argumentation brachte, sah der andere, bergpredigtbesoffen, allein den Vers aus Matthäus Kapitel 5 Vers 9 als den Stein der Weisen an. Ich habe danach übrigens nie wieder derart bekennend-biblisch geredet oder geschrieben. Und trotzdem: Unserem Deutschlehrer, noch im letzten Kriegsjahr als Soldat eingesetzt und sogar kurzzeitig in französische Gefangenschaft geraten, galt das starke und überzeugende Wort an sich mehr als die inhaltliche Einzelmeinung. Mein Klassenkamerad war nicht der „Nazi“, und ich war nicht der „linke Spinner“ – sondern wir wurden von diesem Lehrer als besonders sprachfähige, differenziert denkende und redlich argumentierende junge Menschen wahrgenommen.

Mein Deutschlehrer ist vor neun Jahren gestorben. Bei meinem letzten Besuch zeigte er sich ganz angetan von neuerlicher Lektüre ausgerechnet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seines Lieblingsschriftstellers Thomas Mann. Dabei hätten wir ihn immer eher mit Herrn Settembrini aus dem „Zauberberg“ vergleichen wollen. Aber sein Humanismus war eben weiter als das, was uns heutzutage als „alternativlos“ angedient wird. Auch ein Naphta (Gegenpart des weltläufigen heiteren Italieners in dem epochalen Roman) muss seine Rolle spielen dürfen, und sei es, um sich selbst zu läutern … Hans Castorp, Tonio Kröger, Hanno Buddenbrook … – sie haben eigentlich keine festgezurrte Meinung, sie sehen, gleich dem reinen Tor Parsifal, auf das Reinmenschliche …

Vor sechs Jahren dann starb völlig unerwartet im siebenundneunzigsten Lebensjahr jener Weltpolitiker, der nie gleichgeschaltete Meinungen mochte, der sich über Rechtschreibreformen und Rauchverbote hinwegsetzte, der seiner evangelischen Kirche nur noch deshalb die Treue hielt, weil sie Künstler wie Johann Sebastian Bach und Bischöfe wie Eduard Lohse hervorgebracht hatte. Helmut Schmidt starb an jenem 10. November, der zugleich der 256. Geburtstag des geschichtskundigen Dichters Friedrich Schiller war. Ich würde mich gern täuschen, wenn es nicht stimmte, dass seit sechs Jahren die Welt noch einmal kälter, gleichgültiger, ungebildeter und zugleich erregbarer geworden ist.

Wo ist die hohe Kunst des Argumentierens hin? Ich habe sie stets gern gepflegt – solange es noch formidable Mitstreiterinnen und Mitstreiter gab! – und ihre Notwendigkeit darin begründet gesehen, entgegen allen hartherzigen Eindimensionalitäten sowohl von „Rechts“ als auch von „Links“ die urwüchsig-dramatische Schillersche Gedankenfreiheit hochzuhalten. Deren guter Gebrauch schließt nämlich die Fähigkeit ein, sich jederzeit in die Position des Gegenübers einzufinden. Ohne solchen Diskurs aber bricht sich eine Regulierungswut Bahn, deren Gehabe rasch diktatorisch und zuletzt tyrannisch wird. An diesem Punkt regt sich also erstaunlich unerschütterlich mein „westliches“ Herz: in einer bundesdeutsch-grundgesetzlich geprägten Vorstellung von Meinungsfreiheit, die ich mir unbedingt erhalten wissen will für unsere in dieser Hinsicht durchaus gefährdete Gesellschaft.

Dies bin ich nicht dem heutigen saudiarabischen König schuldig (denn der fragt nicht danach), auch nicht anderen Herrschern nah und fern, deren Weisheit derzeit zu wünschen übriglässt – aber durchaus meinem verehrten Deutschlehrer, der weder für noch gegen Schmidts Panzerlieferungen agitierte, sondern vielmehr unserer schönen deutschen Sprache das gelehrte und wunderbar überlegene Wort redete.