Hymnische Coronaweihnacht

(Melodie: Vom Himmel hoch, da komm ich her):

Das Wort zu sagen ist erschwert,

drum wird Musik noch viel mehr wert,

als sonst schon – Seuche hin und her – :

Es klinge rein die Weihnachts-Mär.

(Melodie: Brich an, du schönes Morgenlicht):

Geborn ist Christus, Gottes Sohn.

Der Heiland bringt uns Freud und Wonn

aus Bethlehem, der Davids-Stadt:

Wie gut, wer dies im Herzen hat.

Des Engels Botschaft leuchtet klar:

Nur, was vom Himmel kommt, ist wahr!

Wir Schwachen richten gar nichts aus,

es komme denn aus Gottes Haus!

(Melodie: O Heiland, reiß die Himmel auf):

In diesen Tagen ist viel Leid

und mancherorts auch großer Streit.

Wer sehnt sich nicht nach Besserung

in starkem Heil und neuem Schwung?

(Melodie: Brich an, du schönes Morgenlicht):

Allmächtig ist „Corona“ nicht.

Mariens Kind führt uns zum Licht.

Hier liegt’s im harten Krippelein:

Derhalben lasst uns dankbar sein

und öffnen unsre Herzen weit,

bewegen dort, was uns erfreut:

Der Engel und der Hirten Klang

bewahr uns unser Leben lang!

(Der ganze Text kann auch zu je vier Zeilen auf die Melodie der ersten Strophe gesungen werden: Vom Himmel hoch, da komm ich her)

Nietzsches Geburtstag wurde mal wieder vergessen

Vor zwei Jahren konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (*15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen / + 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Erst recht gilt dies für eine diesjährige Ehrung zum Hundertsiebenundsiebzigsten!

Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute immer noch oftmals jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie „Herrenmoral“ und „Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit („… vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen („Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch jedem politisch selbstverorteten dezidiert Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als – sagen wir: – Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren: – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass habe ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus all dem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen … Allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (*1813 in Leipzig / +1883 in Venedig), der ihm da auf die Schliche kam. Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein „Fall Wagner“ ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat der zutiefst gekränkte Nietzsche sich intellektuell nie wieder richtig erholt.

Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der Schüler in Schulpforta (Naumburg a.S.) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen.

Unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. „Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitschuf, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon und dachte bei mir: Dann kann er ja gar nicht so deutschtümelnd-herrisch sein! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik macht wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie nun einmal ist! Mich begeistert diese schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bedient: Das steigert den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Hier bricht sich ein fröhlich enthemmter Freigeist seine Bahn, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere. „Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch „Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser „Anklage“ ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen „Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche trotz aller Widersprüche dankbar anerkennt.

Wer sich auch heute in tumben Coronazeiten für unkonventionelle Wahrheiten und unzeitgemäße Betrachtungen interessiert, darf seinen Denkstil zuversichtlich durch Friedrich Nietzsche anregen lassen, völlig fern von ideologischer Überfrachtung links wie rechts – dafür unaussprechlich heiter und immer eigenständig!

Gekürzte und leicht aktualisierte Fassung des Beitrags https://feoeccard.com/2019/10/16/die-ehre-nietzsches-aus-der-natur/

Auf den Orgelpunkt

Mit dem Begriff „Orgelpunkt“ bezeichnen wir in der Musik einen durch mehrere Takte gehaltenen Ton, über dem sich ein Thema entfaltet oder ausgesponnen wird. Gern erscheint er am Anfang, in der durchführenden Mitte oder gegen Ende eines Stückes. Oft liegt er in den tiefen Lagen des Pedals, vorzugsweise eingangs auf der Tonika oder im späteren Verlauf auf der Dominante.

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Ein Orgelpunkt wirkt vor allem dann beständig, wenn er etlichen Modulationen zum Trotz sich durchhält. Stark und ruhig zugleich bleibt er einfach liegen, hält vorübergehende Missklänge ebenso aus wie die „Fülle des Wohllauts“, lässt sich von „großer Gereiztheit“ nicht aus dem Konzept bringen und dringt auf ein gutes Ende. Daher sind polyphone Wortgefechte, andere Meinungen, unterschiedliche Ansichten für ihn kein Grund zur Aufregung. Stoische Gleichmut und christliche Hoffnung finden hier zu klarer Einheit und stimmiger Kraft.

Solch latent vielfältig gedachte Eintönigkeit wurde im Laufe der Zeit zu einem kompositorischen Prinzip ausgebaut und hat auch die weitere instrumentale und vokale Musik erfasst, liefert der Orgelpunkt doch zu jedem Motiv oder gar zu jeglicher bestimmten Melodie ganz elementar einerseits das schöpferische Rohmaterial, andererseits die nachschaffende Bestätigung von bewegt-bewegender Klangrede im fortgeschrittenen Stadium. Zu Beginn, im Verlauf und am Ziel erweist er sich als ein Lebenselixier allererster Güte.

Wo liegt derzeit ein tief vertrauenswürdiger Grundton oder ein angenehm ausgelotet dominierender Laut? Das leise Rascheln von Zeitungen mit frakturgesetzen Namen wird seltener; denn die klugen Köpfe wollen auch entsprechende geistreiche Kost. Den Sensationen hinterherzuhecheln gelingt ja selbst dem Fernsehen nicht mehr. So redet man nicht Fraktur. Und was wir in den sogenannten „sozialen Medien“ schrill und verzerrt häppchenweise mitbekommen, füllt nicht annähernd die abgründige Lücke aus, die sich zum unüberbrückbaren Graben verbreitert und einen „Donnerschlag“ hervorrufen könnte. Daher fordere ich: Weniger Zuckerberg! Mehr Zauberberg! Auf den Orgelpunkt!

 

 

 

Zwölf berückende Buchumschläge

Vom Brexit hört man derzeit wenig,

doch was man sieht, stimmt melancholisch:

1

 

So geht man denn zur Apotheke,

auf dass man sich schön lyrisch stärke:

VI

 

Dort, feuilletonverdorben, liest wer

das Mozart-Buch von Hildesheimer:

2

 

Wenn einer der Musik die Stirn böte,

dann könnte das noch immer Goethe:

5

 

„Amerika, du hast es besser“,

trotz vieler wahnhafter Obsesser:

7

 

„Ach“, ruft man aus,

„Bach soll ins Haus!“ -:

4

 

Das Bücherregal biegt sich tiefer,

wenn ich den dicken „Wagner“ liefer:

VII

 

Solch Roman vrai kommt nicht allein,

ganz primig zwiefach muss es sein:

III

 

Die Günderrode und Heinrich von Kleist

Ringen que(e)r tödlich um den großen Geist:

IV

 

Dann treten Gauß und Humboldt auf,

vermessen unabhängig aller Welten Lauf:

3

 

Beschäftigen wir uns mit Robert Gernhardt,

so merken wir, dass er uns richtig gern hat:

V

 

Grundiert ist viel davon in Sang und Klang durch Ohren,

die einer spitzte, kunstgesinnt erkoren:

II

 

Was sollen wir nun hierzu sagen?

Es gibt vielleicht was gegen unsre Plagen!

Indes, man müsste das, was hülfe zu genesen,

auch wieder einmal tief und gründlich lesen!

Chopin libre

Am 17. Oktober 1849 starb in Paris der Pianist und Komponist Frédéric Chopin im Alter von neununddreißig Jahren. Siebzehn Dezennien sind seither verstrichen, ohne dass wir seine einzigartige Musik vergessen hätten. Weil aber die „runde“ Wiederkehr eines Sterbetages längst nicht mehr den Glanz entfaltet, der ihm in urchristlichen Zeiten als Geburtstag für die Ewigkeit sicher gewesen wäre, begnügen wir uns hier und heute mit der Wiederentdeckung eines rhapsodisch gewirkten Beitrags aus eigener Herstellung. Der entsprechende Link befindet sich unter der Büste des Verewigten.

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https://feoeccard.com/2017/03/11/du-machst-es-lang/

Unscharfes Foto: Chopin auf einem alten Klavier, gesehen im Gemeinschaftsraum eines Wohnheims irgendwo in Norddeutschland.

Die Ehre Nietzsches aus der Natur

Jüngst konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (*15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen / + 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute wiederum jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing  des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie „Herrenmoral“ und „Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit („… vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen („Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch jedem politisch selbstverorteten dezidiert Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als – sagen wir: – Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren: – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass hatte ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus all dem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen … Allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (*1813 in Leipzig / +1883 in Venedig), der ihm da auf die Schliche kam.  Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein „Fall Wagner“ ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat der zutiefst gekränkte Nietzsche sich intellektuell nie wieder richtig erholt. – Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Die Ehre Nietzsches aus der Natur

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der Schüler in Schulpforta (Naumburg a.S.) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen. Aber unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. „Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitschuf, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon: Dann war er demnach gar nicht so deutschtümelnd-herrisch, wie man sonst hörte! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik machte wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie war! Besonders begeisterte mich die schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bediente: Das steigerte den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Konnte es nicht sein, dass sich hier ein fröhlich enthemmter Freigeist Bahn brach, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere? „Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch „Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser „Anklage“ ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen „Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche trotz aller Widersprüche dankbar anerkennt.

Die Entdeckung der Heiterkeit als ursprünglich und unmittelbar kulturell notwendig ließ mich in jungen Jahren nicht ruhen. Und so schrieb ich eines Tages folgende Verse, von den weisen Worten Zarathustras inspiriert, aber dann doch wieder verunsichert durch Nietzsches Eigensinn. Hier und heute lege ich offen, was ich seit dem Jahre 1992 der geneigten Öffentlichkeit verschwiegen habe, egal, ob es sie jemals interessiert hat. Die sächsische Bischofskrise verhilft also zu staunenswerten Schritten unfreiwilliger Selbstanzeige. Wie in meinem letzten Beitrag angekündigt, gehe ich dabei indes äußerst scheibchenweise vor. Ich bilde mir ein, dafür Zeit zu haben, zumal ich bisher kein Amt anstrebe, das ein kleinkariertes Durchwühlen meiner gesamten bisherigen Vita zur Voraussetzung von dessen Annahme hätte. Aber man weiß ja nie. Das gegenwärtige Kesseltreiben im aktuellen Dresdner Aufstand gestaltet sich erbärmlich, da ist vielleicht eine Erinnerung an das Bonn-Berlin-Gesetz und überhaupt die Imaginierung der damaligen Situation der Zeit nicht völlig abwegig. In diesem augenzwinkernden Sinne: Viel Spaß!

 

Der Nietzsche saß auf einem Baum,

Derhalben lustig anzuschaun,

Was ihn jedoch nur mehr verdross:

Gar giftig wirkte sein Geschoss:

„Du seist gebannt, gebrannt, gebongt,

Willst tiefe, tiefe Ewigkongt,

Es bongt, es bonnt, berlint sodann:

Dies sei der auferlegte Bann!“

Und Spinnen krochen auch empor,

Verliehn ihm einen Trauerflor,

Ich meinesteils war ganz von Socken,

Wie ich ihn fluchend sah dort hocken,

Gleich einer Eule, die nachts ruft

Aus dunkler tiefer Ewiggruft.

Mein Lieber, sind wir nicht verwandt?

Warum hast du mich so gebannt?

Und noch dazu gebrannt, gelocht,

Zerhackt, wie wenn ich dich nicht mocht’?

Ich hab gelacht, weil du saß’st lustig,

Schon ging das Lachen mir verlustig ….

So schnell kann’s gehn mit Heiterkeit,

Die doch nichts will als – Ewigkeit!

 

Zur Abrundung der Stimmung zeigt das Foto den Friedhof einer nordwestdeutschen Kreisstadt.

Wer früher schläft, kann länger träumen

Aufgeweckte Menschen haben gut geschlafen, lassen den Tag langsam angehen, machen alles schön bedächtig, freuen sich entweder am sonnigen Morgen oder stören sich jedenfalls nicht, wenn es wider Erwarten regnet, stürmt oder schneit. Unter solchen Voraussetzungen lesen sie Losung, Lehrtext sowie mindestens zwei Zeitungen fast im Fluge. Alles geht derartig leicht von der Hand, dass sich sogar manche ihrer dero zweiten entsinnen und ganz frei harmonisierend einen vierstimmigen Choral am Klavier zuwege bringen.

„Wach auf, mein Herz, und singe“, recht passabel intoniert, später mit Schleifchen versehen, einen Moment weiter schon mithilfe von oktavierten Bässen oder gebrochenen Dreiklangsgirlanden romantisierend aufgemotzt, einmündend in ein Fugato, das – selbst wenn es ausdrücklich ja keinen Anspruch erhebt, eine Fuge zu sein, auch so nicht hält, was es verspricht – irgendwann ebenso extemporiert feierlich wie züchtig im Plagalschluss unter vorheriger Aufbietung sämtlicher Finessen des Organistenzwirns schließlich doch keineswegs schnöde endet, sondern vielmehr hochfein „endigt“.

Solche gut ausgeschlafenen geistes- und musikbeflissenen Leute haben ihrem bevorstehenden Tag bereits einen #tag eingeprägt. Historische Vorbilder könnten dafür etwa diese hier sein: Immanuel Kant (1724-1804), der jeden Morgen ein Gesangbuchlied auf seinem Harmonium spielte; Joseph Haydn (1732-1809), der seine eigene Komposition „Gott erhalte Franz den Kaiser“ am Clavichord variierend intonierte; Frédéric Chopin (1810-1849) und Richard Wagner (1813-1883), die beide sich selbst tagtäglich und richtig buchstäblich „beflügelten“ mit Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier.

Bei so reichlich ausströmender Wachheit sei den Normalsterblichen unter uns spätestens um die Mittagszeit ein erquickendes Nickerchen gegönnt. Mittlerweile wird dies sogar von etlichen Chefs den eigenen Mitarbeitern nachhaltig im Format power-napping freundlichst anempfohlen. Nützlichkeitserwägungen mögen da eine nicht unerhebliche Rolle spielen, soll doch der Untergebene möglichst lange funktionieren. Dennoch wäre es falsch, von gewerkschaftlicher Seite aus diese unterstellt paternalistische Geste bekämpfen zu wollen; denn jede Schlafmöglichkeit bringt ja auch Träumereien mit sich. Wer die Augen schließt und subversiv zugedeckt ruht, sieht innerlich eine andere Welt.

museumsschlaf

Da schlummert Potenzial. Es regt sich Utopia. Das Nirgendwo, der Sehnsuchtsort, die ideale Stadt meldet sich bei jenen, die so frei sind. Und was genau sehen diese Menschen?

Wer früher schläft, kann länger träumen

Tief in ihrem Inneren rumort es gehörig. Zwar imaginieren sie augenscheinlich lauter Harmlosigkeiten wie zum Beispiel hochgebaute mittelalterliche Städte mit gotischen Kirchen und buntgeschäftig erfüllten gewölbten Laubengängen unter milder Aufsicht einer im prächtigen Rathaus ebenso selbstbewusst wie verantwortungsvoll regierenden Bürgerschaft. Handel und Wandel sind geprägt durch zünftig produktives Geschick und phantasievoll schöpferisches Künstlertum, einhergehend mit kulturellem Schwung, der seinerseits in frommer Dankbarkeit wurzelt.

Doch ehe unsere gedachten Schöngeister vollends dem Mythos und der Mystik frönen, nur weil sie im Wachzustand allzuviel Musik inhaliert haben, machen sie schon wieder ihre Äuglein auf, erinnern sich allerdings nachhaltig ihrer inneren Bilder und nehmen diese mit in die Fortsetzung ihres real existierenden Alltags. Dort können die sich zu kritischen Begleitern entwickeln. Vielleicht verhindern sie in bester Weise, der bisweilen drängende Versuchung eines vorzeitigen Ausstiegs nachzugeben; denn solche Tagträume rufen freie Assoziationen hervor wie die schenkelklopfend-krachlederne Aufforderung „Freut euch des Lebens!“ – oder die aus Hörspielen und Filmen bekannte perspektivisch-umgekehrte Memento-mori-Mahnung „Wer früher stirbt, ist länger tot.“

Frohsinn und Furchtsamkeit gleichermaßen bewahren vor unnötig panisch inszeniertem Exodus und Exitus. Wer Traumbilder mit sich trägt, lässt sich auch selber tragen, vielleicht gar besser ertragen: von ihnen und den mit selbigen verbundenen Gedanken und Gefühlen. Wenn irgendwann tatsächlich der Tod von sich aus kommt, dann als des Schlafes Bruder. Eigenartigerweise sind in dieser Weisheit altgewordenes Heidentum und junggebliebenes Christentum in- , mit- und untereinander tief verbunden. Hier treffen sich Athen, Rom und Jerusalem. Raffael-Stanzen und Nazarener-Malereien machen sich die Antike beziehungsweise das Mittelalter idealtypisch zueigen und bezeugen in ihren Aktualisierungen wie Historisierungen eine traumwandlerische Wahrhaftigkeit. Renaissance und Romantik müssen, so gesehen, keineswegs nur als Gegensätze aufgefasst werden.

Hier wie dort, bunt aber passgenau wie in einem Saal mit durch Petersburger Hängung präsentierten Gemälden, ist schlicht Geduld innen und außen angesagt. Human und religiös lässt sich womöglich doch das Leben meistern, allen widerstreitenden kurzatmig-tagespolitischen Einreden zum Trotz. Idealbilder auf der Höhe des Tages formen eine innere Kunsthalle, Gesänge der Frühe untermalen die Eindrücke weit und breit bis hinein in die Dimensionen sphärischen Tonhalls. Und was sich schön ausformt und darin kräftig nachhallt, verschafft nicht nur Form und Inhalt (!) neue Bahnen, sondern stärkt hallend-haltgebend auch genau jenes nachdenkliche Publikum, das aus Leuten sich zusammensetzt, denen Kunst und Kultur nicht bloßes und notfalls verzichtbares Beiwerk ist, sondern stets anregendes Lebenselixier.

Des Abends gehen unsere solcherart erweckten Menschen dann auch flugs und fröhlich schlafen. Unverwüstliche Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ und „Guten Abend, gute Nacht“ beschließen ihr Tagewerk, wie auch immer dieses sich im einzelnen gestaltet haben mag. Beim Abschied vom Tag mag als Losung und Lehrtext der Satz gelten: Wer früher schläft, kann länger träumen. Dieses Motto begrenzt unter Umständen einigermaßen vernünftig abrundend die Bettlektüre – zu deren und eigenem Gewinn … Frau Luna glänzt und bereitet zugleich leise sehnend die bald wiederkehrende Zeit der Aurora vor: So hält sie Erinnerung und Erwartung wach, unwiderstehlich bis zum nächsten Morgen, ganz frisch und neu.

Fotos: Schlummerstündchen nach Besichtigung einer Ausstellung in der Kunsthalle zu Emden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joseph Haydn unvergessen

Einer genuin christlichen Geisteseshaltung haben die ganz großen Gelehrten und Künstler der europäischen Kultur Ausdruck verliehen. Einer von ihnen starb hochgeehrt und geachtet heute genau vor zweihundertzehn Jahren in Wien, am 31. Mai 1809: Joseph Haydn. Er gilt als Begründer jener Musiktradition, die wir die „Wiener Klassik“ nennen. In Sonaten, Streichquartetten und Symphonien, in Opern, Oratorien und Messen hat er, 1732 im niederösterreichischen Rohrau geboren, wahrhaft geistreiche Musik geschaffen.

Zu seinen persönlichen Freunden zählten Mozart und Beethoven. Seinen Stil fand er unter anderem im Studium der Werke Georg Friedrich Händels und der Söhne Johann Sebastian Bachs. In seinen über tausend Werken vereinigt er einfache Liedformen mit hochkomplizierten Stimmgeflechten: darin fängt er alle Befindlichkeiten des menschlichen Gemüts ein, von tiefer Trauer bis zu heiterer lichter Gelassenheit, von klagendem Schmerz bis zum überschwenglichen Jubel. Zumindest eine Melodie ist uns allen vertraut: Aus einem seiner Streichquartette stammt die Weise zu unserer Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

chor

Man wird nicht sagen können, dass sich in Haydns Schaffen der Heilige Geist direkt äußert – dazu ist selbst Musik doch letztlich zu sehr irdenes Stückwerk, auch in einem so großartigen Oratorium wie der „Schöpfung“, das die biblische Schöpfungsgeschichte vertont. Aber diese Musik enthält Momente, die vom Zeitgeist heilsam wegführen und dem bösen Ungeist ganz klar wehren, weil Trost darin ist, Kraft, Mut, Ausdauer, Zuversicht und grenzenlose Hoffnung.

Rechte Lehre und befreiende Erinnerung – daraus entsteht ein neuer gewisser Geist, eine gute Ordnung, die nach vorn hin offen ist. Ganz optimistisch setzt Haydn am Anfang seiner „Schöpfung“ folgende Worte in erst dunkle, dann helle leichte Musik: „Nun schwanden vor dem heiligen Strahle / des schwarzen Dunkels gräuliche Schatten; / der erste Tag entstand. / Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor. / Erstarrt entflieht der Höllengeister Schaar, / in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht. / Verzweiflung, Wuth und Schrecken / begleiten ihren Sturz. / Und eine neue Welt entspringt auf Gottes Wort.“

Bach

Am 21. März 1685 wird in Eisenach der laut Neuem Brockhaus (1960) „größte Tonmeister aller Zeiten“ geboren, Johann Sebastian Bach. Er ist das jüngste von acht Kindern des Stadtpfeifers Ambrosius Bach und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Lämmerhirt. Die Musikerfamilie Bach ist in mehreren Zweigen im ganzen thüringischen Raum verbreitet – seit der Einwanderung des „Stammvaters“ Veit Bach Anfang des 17. Jahrhunderts als protestantischer Glaubensflüchtling aus Ungarn.

Der kleine Johann Sebastian besucht die Lateinschule in Eisenach, wo fast 200 Jahre vorher auch Martin Luther die Schulbank gedrückt hat. Eisenach liegt unterhalb der Wartburg, wo der Reformator einst als „Junker Jörg“ lebte; hier hatte er die Arbeit an seiner bahnbrechenden hochdeutschen Bibelübersetzung begonnen, die auch in der Bach-Familie als Hausbuch Grundlage allen Lebens ist.

Aus dem vertrauten Urort evangelischer Kultur wird Bach jedoch allzubald herausgerissen: Als er acht Jahre alt ist, stirbt seine Mutter; mit zehn Jahren, nach dem Tod auch des Vaters, ist er Vollwaise. Vielleicht liegt in dieser frühen Lebenstodeserfahrung der Keim für die Ernsthaftigkeit und Vollkommenheit seiner Musik als einer in sich abgeschlossenen tröstenden Welt gegen den untröstlichen nur-irdischen Alltag.

bach

Sein älterer, schon erwachsener Bruder Christoph nimmt ihn zu sich nach Ohrdruf. Dann, von 1700 bis 1702, in der Michaelisschule zu Lüneburg, eignet sich der aufgeweckte Junge alle damals gängigen musikalischen Fertigkeiten an der Orgel, am Cembalo und auf der Violine an. Von der alten Hansestadt aus unternimmt er Fußreisen nach Hamburg, um die dortigen Organisten zu hören und ihre Werke zu studieren. Besonders inspirieren ihn die Choralfantasien des Johann Adam Reinken. In Lüneburg selbst bildet sich Bach im Umfeld des weithin berühmten Orgelmeisters Georg Böhm weiter. Manchmal kommt auch die fürstliche Kapelle aus Celle in die traditionsreiche Salinenstadt und bringt französisch geprägte höfische Musik zu Gehör.

Erste Anstellungen führen Bach nach Weimar, Arnstadt und Mühlhausen, also wieder nach Thüringen. Von Arnstadt aus wandert er Anfang Oktober 1705 nach Lübeck; dafür hat er einen dreiwöchigen Urlaub gewährt bekommen. An der dortigen Marienkirche hört er den Kirchenmusikdirektor Dietrich Buxtehude, vertieft sich in dessen Werke und besucht die weitbekannten adventlichen „Abendmusiken“ – da hat er den Urlaub bereits kräftig überschritten: Erst im Januar 1706 kehrt er nach Arnstadt zurück – aus den drei Wochen sind gut drei Monate geworden. – 1707 heiratet er seine entfernte Verwandte Maria Barbara Bach.

Von Mühlhausen geht Bach als Hoforganist und Kammermusiker wiederum nach Weimar. Hier kommen sechs seiner Kinder zur Welt, unter anderem Wilhelm Friedemann (*1710) und Carl Philipp Emanuel (*1714, dessen Taufpate: Georg Philipp Telemann). Viele Orgelwerke entstehen, unter vielen anderen die berühmte Toccata und Fuge d-moll mit der signalhaften Wechselnote zu Beginn. Überdies legt er ein „Orgelbüchlein“ an, in dem er eigene Liedbearbeitungen nach der Ordnung des Kirchenjahres beispielhaft zusammenstellt.

Bach wendet sich 1716 an den Hof des Fürsten von Anhalt-Köthen. Der Weimarer Dienstherr will seinen Konzertmeister jedoch nicht gehen lassen und steckt ihn in eine Arrestzelle. So ist Johann Sebastian Bach wohl der einzige unter den ganz großen abendländischen Komponisten, der einen Gefängnisaufenthalt erlebt – wenn auch nur für einen Monat: dann gibt der Herzog seinen Widerstand auf und lässt Bach ziehen.

In Köthen findet der nunmehrige Kapellmeister und „Director derer Cammer-Musiquen“ völlig andere gesellschaftliche Verhältnisse vor als an seinen bisherigen Dienststellen. Für ihn gibt es hier keine unmittelbaren kirchenmusikalischen Betätigungsfelder; denn die Fürstenfamilie gehört dem evangelisch-reformierten Bekenntnis an. Bach hält sich in Köthen zur kleinen lutherischen Gemeinde; dort ist er als regelmäßiger Abendmahlsgast verzeichnet.

Der Komponist widmet sich der Haus- und Hofmusik. Das „Wohltemperierte Klavier“ und andere bedeutende Werke für Tasteninstrumente entstehen, außerdem die „Brandenburgischen Konzerte“. Mit dem Fürsten ist Bach freundschaftlich verbunden. Aber die Wirksamkeit in Köthen wird schicksalhaft überschattet, als 1720 seine Ehefrau stirbt. Nach Ablauf der Trauerzeit heiratet Bach 1721 die Sängerin Anna Magdalena geb. Wülken, mit der er insgesamt 13 Kinder hat, unter den das Säuglings-und Kindesalter überlebenden die späteren Musiker Johann Christoph Friedrich (*1732) und Johann Christian (*1735).

Im Jahr 1722, nach dem Tod des Leipziger Thomaskantors Johann Kuhnau, bewirbt sich Bach auf die freigewordene Stelle. Er sucht seit längerem städtische Umgebung, um seinen ältesten Söhnen ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Zum 1. Sonntag nach Trinitatis 1723 tritt er das Amt des Kantors an der Thomasschule und des städtischen Musikdirektors über die Hauptkirchen in Leipzig an. Hier eröffnet sich dem nunmehr 38jährigen Künstler ein reiches, aber auch mühsames Betätigungsfeld. Den Thomanern hat er nicht nur Musikstunden, sondern auch Unterricht in den Fächern Latein und Religion zu erteilen. Um zu letzterem befähigt zu sein, hat er sich vor Amtsantritt einem theologischen Examen unterzogen, im Sinne der ihm vertrauten lutherisch-orthodoxen Glaubenslehre.

Musikalisch-kompositorisch gehört fortan zu Bachs Aufgaben, an jedem Sonn- und Feiertag – ausgenommen nur die Zeiten vom 2. bis 4. Advent und die Sonntage in der vorösterlichen Fastenzeit – Kantaten aufzuführen. Die kann man heutzutage regelmäßig in den Sendungen mit geistlicher Musik im Radio hören; Bachs Werke sind frei zugänglich, fernab von jeglichem Spezialistentum. Sie gehören zum allgemeinen Bildungsgut zumal im protestantischen Deutschland.

Bach verschreibt sich der Anforderung, Kantaten zu komponieren, mit Herzblut – er legt in bezug auf diese gottesdienstlichen Stücke für Soli, Chor und Orchester zunächst mit Feuereifer los, sieht er doch die faszinierende Möglichkeit, mittels seiner eigenen Musik zu predigen, also Sonntagsevangelium, Hauptlied oder verwandte Texte in Klangrede so darzustellen, dass der Gemeinde sich der geistliche Reichtum der biblischen Botschaft erschließen möge.

Doch bald erlahmt sein Ehrgeiz, das Kirchenjahr vollständig und vielgestaltig musikalisch darzustellen. Er muss erkennen, auf wie wenig Verständnis seine Musik beim Rat der Stadt und in den Gottesdienstgemeinden stößt. Die Leipziger haben solch starken musikalischen Ausdruck nicht erwartet – und auf Dauer wünschen sie ihn auch nicht. Bachs Musik siedelt an der Grenze dessen, was man unter bürgerlich-anständiger Kirchlichkeit versteht – und überhaupt: Man empfindet seine Kompositionen als zu schwer.

Das meint man auch von den großen Passionsmusiken, die der Kantor im Wechsel für die Thomas- und Nikolaikirche einzurichten hat: Statt jedes Jahr eine neue Passion für den Karfreitagsabendgottesdienst zu komponieren, wiederholt er ab dem vierten oder fünften Amtsjahr seine bis dahin entstandenen Werke oder führt Musiken älterer Meister aus dem Archiv auf. Wie weit die Zeitgenossen die auf uns heute so ergreifend wirkenden Großwerke „Johannespassion“ (1724) und „Matthäuspassion“ (1727) aufgenommen und verstanden haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Hier und da wird der Vorwurf einer „opernhaften“ Musik laut.

Bachs Leipziger Zeit währt 27 Dienstjahre lang, bis zum Tod am 28. Juli 1750. Es sind nicht allein die Kantaten, Oratorien, Passionen und Orgelwerke, die später seinen weltweiten Ruhm begründen – hinzu kommen als Gelegenheitswerke die Motetten und die ganze weltliche Musik, welch letztere er vielfach für das von Telemann im Jahre 1701 gegründete Studentenorchester „Collegium musicum“ erschafft. Auch Bearbeitungen von Werken zeitgenössischer italienischer Komponistenkollegen entstehen, so zum Beispiel von Albinoni, Pergolesi oder Vivaldi.

Vier Großwerke gehen außerdem weit über den Leipziger Rahmen hinaus: Im Jahre 1736 widmet Bach zwei Sätze, „Kyrie“ und „Gloria“, dem römisch-katholisch gewordenen sächsischen Hof in Dresden: Beginn seiner spät vollendeten und im 19. Jahrhundert so betitelten „Hohen Messe in h-Moll“. Damit hat der Meister seinen „ökumenischen“ Beitrag geleistet. 1747 wird Bach in eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft aufgenommen, die „Mizlersche Societät“. Für sie schreibt er die „Kanonischen Veränderungen“ über Luthers Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, das „Musikalische Opfer“, nach einem Besuch am Hof in Potsdam Friedrich dem Großen gewidmet, und zuletzt die „Kunst der Fuge“, deren letzter Kontrapunkt, wo das Thema B-A-C-H mit den anderen Subjekten verknüpft werden soll, unvollendet bleibt.

Bachs Musik wirkt bis heute umfassend in ihrer Ausgeglichenheit zwischen einfachem Melodie-und-Begleitung-Satz und höchster harmonischer bis kühner Mehrstimmigkeit. Einige Stücke sind regelrecht populär geworden: Aus den Kantaten hat es „Jesus bleibet meine Freude“ bis hin zur Titelmusik einer Fernsehsendung gebracht; ein Satz aus den Orchestersuiten hat es in die Charts der Klingeltöne fürs Mobiltelefon geschafft – und ein anderer Suitensatz ist als die „Air von Bach“ gleichermaßen bekannt und beliebt.

All dies sind aber nur äußere Blüten, die in einer konsequent gepflegten Tradition wurzeln. Bachs Musik erwächst aus dem evangelischen Gottesdienst. Viele Liedstrophen, die wir bis heute gern singen, haben in den Passionen und im Orgelwerk ihr jeweiliges Gewicht. Bach hat die Choräle derart „authentisch“ harmonisiert oder sonst bearbeitet und sich dadurch so zueigen gemacht, dass ein französischer Komponist des 19. Jahrhunderts meint, er habe auch die Melodien selber geschaffen. Tatsächlich haben wir in unserem Gesangbuch aber nur eine einzige Weise, die von Bach stammt, nämlich die zum Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“.

Ansonsten deutet Bach aus, was an Texten und Melodien in Gebrauch ist – vor allem Verse von Martin Luther und Paul Gerhardt. Seine Lieblingsmelodie: „Herzlich tut mich verlangen“, heute vor allem bekannt durch das Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“. Das Leiden Christi sich zueigen machen, weil darin das eigene Leben in aller Tiefe aufgehoben ist: Es ist dieses innige Verständnis der Passionsgeschichte, das durch das Dunkel des Todes ins neue Leben führt. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst.“ Wer diese schwarzgefärbte Musik aus der Matthäuspassion je mit geradezu mystischer Hingabe verinnerlicht hat, wird diesen starken Eindruck im Glauben nie wieder vergessen.

Neben Bachs häufig vor seine Kompositionen gesetztem Motto S.D.G, „Soli Deo Gloria“ – allein Gott die Ehre!, lautet ein anderes: J.J., „Jesu juva“ – Jesu, hilf! Das ist ein Gebetsruf an den, der alles verwandelt. Die Grenze des Todes wird zum Leben hin überschritten. Inmitten aller Dunkelheiten der Passion Jesu werden die eigenen Finsternisse klar – das ist der erste Schritt zum Heil, durch klingendes musikalisch-bewegtes Geheimnis hinein ins ewige Leben, in Töne gebracht von ihm, den wir fromm mit dem schwedischen lutherischen Bischof Söderblom den „Fünften Evangelisten“ nennen oder abstrakt mit dem von Haus aus katholischen Komponisten Max Reger als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichnen – vielleicht ihn aber auch gleich ins ganz Große einer ozeanisch-rauschhaft-tiefen unauslotbaren Erfahrungswelt befördern mit dem universal und überkonfessionell denkenden Ludwig van Beethoven: „Nicht Bach sollte er heißen, sondern Meer.“

Foto: Bach-Denkmal in Eisenach.

Weit weg

Ob eine landeskirchliche Synode irgendwo im weiten Deutschland tagt oder in China ein Sack Reis umfällt, ist den Leuten mittlerweile herzlich egal. Dies gibt deswegen zu denken, weil die wirtschaftliche Stärke des fernöstlichen Milliardenvolkes mit solcher Denkungsart sträflich unterschätzt wird. Als weniger erheblich muss man hingegen die Wirkung evangelisch-parlamentarischer Reden veranschlagen: Wenn es nicht gerade um „wichtige“ Entscheidungen in bezug auf Klimarettungsaktionen oder Tempolimitforderungen für Benutzer von Autobahnen geht, stehen sowieso nur deprimierende „notwendige“ Punkte hinsichtlich Pfarrstellenkürzungen oder Gebäudeveräußerungen auf der Tagesordnung. Doch wen von den Normalsterblichen interessiert das eine („wichtig“) oder das andere („notwendig“) schon beziehungsweise noch?

„Man müsste Klavier spielen können“, sang Anfang der vierziger Jahre good old Johannes Heesters, vor allem wegen des Erfolgs bei den Frauen. Sollte es nicht auch zielführend sein, die Orgel schlagen zu vermögen, besonders in Hinsicht auf jene sensiblen Hörerinnen und Hörer, die sich sonst aus kirchlich-kulturrevolutionärem Treiben eher heraushalten? Jedenfalls ist das klassische Fortepiano denkbar ungeeignet, den Gutmenschen unserer Tage noch Botschaften zu entlocken, die feministisch einwandfrei, genderistisch wohlgesonnen und gretathunbergpolitisch kompatibel sich dem neuerdings als ideell-erkannt Unbedingten anverwandeln. Ja, es ist eine Last, dass niemand mehr den Mumm hat, Klartext zu reden: und also die Gerechtigkeit von Klima und Geschlecht der verdienten Lächerlichkeit preiszugeben.

Überhaupt gerät das freie Lachen in Verruf. Der Name der Rose sowie der Steppenwolf lassen herzlich grüßen. Mittelalterlicher Aristotelismus und zwanzigerjahremorbides Spiegelfigurenkabinett werden neuerlich mörderisch verfolgt. Die Zeichen der Zeit haben keine Chance, semiotisch erschließbar sich zu offenbaren. Umberto Eco und Hermann Hesse müsste man da jetzt ganz neu lesen und hören. Das grenzenlose Spiel aber bleibt derweil auf der Strecke. Und dorthinein grätschen die Chinesen sackreisweise. Sie machen es nicht so plump wie manch gutgläubige Ehrenamtliche, die auf Synodensitzungen unbedarft mehr selbstbewusste Jugend fordern, ohne dass eine solche evangeliumsgemäß zugegen wäre. Nein, die Mao-Nachfolger geben sich ökonomisch westlich, sehr angepasst, nachgerade so, wie wir es in den achtziger Jahren bei japanischen Tugenden kennengelernt haben. Und beherbergt nicht das Land der aufgehenden Sonne ein auch international in musikalischen Kreisen bekanntes Bach-Kollegium? Mal abgesehen von den vielen manifest gewordenen pianistischen Begabungen aus Südkorea? Die Nähe zur europäischen Musik ist da mit Händen zu greifen, weil sie richtiggehend ersehnt wird.

bloggerisch elfenbeinhart

Sehnsucht aus Fernost nach Europa: Wer hätte das gedacht? Heidegger und Sartre machten mal den Anfang, gefolgt von Bach und Beethoven. Enorm, wie Philosophie und Musik da Brücken gebaut haben. Die Mao-Barbarei hingegen hat jegliches Ausführen und Hören von Klassik einst verboten. Der Große Vorsitzende, dessen „Bibel“ bei den westdeutschen 68ern sehr verbreitet war, ist heutzutage gottlob überhaupt nicht mehr anschlussfähig. Hingegen sind fernasiatische Künstlerinnen und Künstler gleich welcher Nationalität bei uns sehr willkommen, von Yoko Ono bis Ai-Weiwei. Zudem genießen und/oder ertragen wir den Klaviervirtuosen Lang-Lang. Vielleicht fällt ja ob seines Temperaments in China ein Sack Reis um – diese Tatsache wäre dann durchaus auch für uns europäische Musikkonsumenten von einiger Bedeutung …

Alle freuen sich wechselseitig, wenn Synoden den Sack zubinden. Die alten Säcke aber syn Oden nicht abgeneigt. Sie wollen herzhaft singen! Auch das Alter will gewürdigt sein. Lebenserfahrung breitet sich aus, ohne unterdrückt werden zu wollen. Es wäre den evangelischen Kirchenparlamenten zu wünschen, dass sie die geistlichen Stimmen ernst nähmen und die geistvollen Beiträge verinnerlichten, auch wenn die nicht dem Mainstream entsprechen. Denn andere, ungleich weniger friedfertige Gestalten belagern uns: Islamisten stehen vor der Tür – aber wir beschäftigen uns lieber mit gendergerechter Sprache … Das sollte denn doch nicht sein.