Die 9,5 Thesen

Ja, Sie haben richtig gelesen: Nicht fünfundneunzig, sondern neunkommafünf Thesen im Nachgang zum großen Reformationsjubiläum anno 2017 – und besonders für alle Nörgler in Hinsicht auf den Landtagsbeschluss in Hannover anno 2018, den 31. Oktober zu einem gesetzlichen Feiertag zu machen –  mundgerecht optimiert für notorisch abgelenkte Zeitgenossen, die weder Latein können noch Luther kennen.

Nicht zu reden von den einhundertsiebenundzwanzig Folianten der kritischen Gesamtausgabe, die zwischen den Jahren 1883 und 2009 erschienen. Erstaunlich, dass ein einzelner Mann mit gesprochenem und geschriebenem Wort rund achtzigtausend Druckseiten in dieser „Weimarer Ausgabe“ (Weimarana) füllt. Aber solche unübersichtlichen Bleiwüsten interessieren ja heutzutage kaum noch irgendwen. Daher nun meine unmaßgeblichen Thesen zu Lutherus in toto & cum grano salis, aus Lesefrüchten hie und da zusammengestoppelt.

Luther steht und kann nicht anders

I. Luther hatte keine Kenntnis von der Bedeutung der Entdeckung Amerikas 1492 durch Kolumbus. Dies schreibt der Historiker Heinz Schilling in seiner großartigen Biographie, die zum Reformationsjubiläum 2017 erschien. Vielmehr lebte der Reformator in seiner mitteldeutschen kleinteilig geprägten Welt. Auch Geographie war ihm fremd. Von seiner großen Fußreise nach Rom hat er selber keine unmittelbaren schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Wir kennen daher noch nicht einmal die genaue Reiseroute. Venedig? Florenz?

II. Luther lebte mentalitätsgeschichtlich betrachtet weitgehend in der Vorstellungswelt des ausgehenden Mittelalters, so die Ansicht des Lutherforschers Heiko A. Oberman in seinem Buch „Luther: Mensch zwischen Gott und Teufel“ von 1982. Die Tintenfass-Teufel-Legende ist wohl gut erfunden, aber sie trifft Luthers Wesen recht gut. Stets sah er sich in dämonischer Anfechtung durch „Sünde, Tod und Teufel“. Das wird auch in seinen Liedern immer wieder deutlich.

III. Luther konnte buchstäblich nicht rechnen, so Richard Friedenthal in seiner Lebensbeschreibung zum 450-Jahres-Jubiläum der Reformation im Jahre 1967. Daher sind Luthers Widerstände gegen Zins und Wucher noch ganz dem Mittelalter verhaftet. Das heißt auch, dass er die wirtschaftlichen und finanziellen Abläufe der entstehenden kapitalistischen Welt nicht im entferntesten durchschaute. Seine Kritik am Ablasshandel ist rein seelsorgerlich und schrifttheologisch geprägt. Die eigenen späteren Fragen von Haus, Geld und Handel überließ er seiner Ehefrau, dem „Herrn Käthe“. – Für unsere heutige Zeit wäre es angesagt, die Überlegungen Luthers zum Wucher neu zur Kenntnis zu nehmen. Unser in die Krise geratenes „lombardisches“ System sieht sich neuen Herausforderungen ausgesetzt, durch die Bank der Brics-Staaten etwa oder durch die Diskussionen um zinsfreie Darlehen nach dem Modell des Islamic banking. Auch die Null- und Negativzinspolitik der Europäischen Zentralbank kann da in den Blick kommen.

IV. Luther hatte von Politik keine Ahnung: So lapidar sagte es stets mein Religionslehrer auf dem Gymnasium. Zwischen dem Kämpfer an der geistlichen „Mönchsfront“ und dem an der weltlichen „Bauernfront“ sei unbedingt klar zu unterscheiden. In der Obrigkeit sah Luther die von Gott für die irdischen Belange eingesetzte Regierung, die für Ruhe und Ordnung zu sorgen habe. So erklärt sich auch seine Haltung als vermeintlich einseitiger „Fürstenknecht“ im Großen Bauernkrieg des Jahres 1525.

V. Luther legte gegenüber den Juden eine zunächst freundliche, später feindliche Einstellung an den Tag. „Dass sich Christen in Mose schicken sollen“, war zunächst sein Grundsatz, den er bibeltheologisch begründet. Im Gespräch mit einem Rabbi vor Ort ist er dann der uns heute unbegreiflich erscheinenden Ansicht gewesen, der wäre bereit, sich zu Christus bekehren zu lassen. Aus Enttäuschung darüber, dass dies dann unterblieb, wandelte sich sein Bild von den Juden. Hinzu kam der Ärger über die in den Synagogen seinerzeit verbreitete Schrift „Toledot Christi“, denen zufolge Maria eine Hure und Jesus ein Zauberer gewesen sei. Der alterszornige Luther fordert, die Synagogen zu verbrennen. Diese Anwürfe fügen sich in den Rahmen einer damals gängigen Rhetorik. Allerdings waren den Herausgebern erster „Gesammelter Werke“ diese Schriften Luthers selber peinlich. Vieles davon ist erst im 20. Jahrhundert wieder hervorgezogen worden, um Luther antisemitisch zu vereinnahmen. Bis ins 19. Jahrhundert waren diese grobschlächtigen Äußerungen weitgehend in Vergessenheit geraten.

VI. Luther hatte ein völlig anderes Verständnis von „Nation“. Er kann nicht einseitig als Beginn einer politisch-nationalistischen „Linie“ gesehen werden. Die entsprechende These hat der politisch wendige Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist Wolfram von Hanstein in seinem Buch „Von Luther bis Hitler. Ein wichtiger Abriss deutscher Geschichte“ in seinem eigenen Verlag „Republikanische Bibliothek“ in Dresden im Jahr 1947 aufgestellt. Auf Seite 7 heißt es: „Historisch betrachtet führt eine gerade Linie von Luther über den Großen Kurfürsten, über Friedrich II. und seine Nachfolger, über Bismarck und die Ära wilhelminischer Zeit bis zu Hitler. Die Entwicklung dieses Abwärtsgleitens bis zum offenen Verbrechen hin ist so zwangsläufig, dass sich hier am trefflichsten Schillers Wort aus seinem Drama ‚Die Piccolomini’ bewahrheitet: ‚Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären’“.

VII. Luther war in den Bereichen, von denen er etwas verstand, ungeheuer gründlich. Man muss zunächst seine Stärken würdigen. Die liegen in der unbedingten Ernsthaftigkeit seines Gottvertrauens, geschult durch seine Zeit als Augustinermönch. Der Eremitenorden hatte sich strengster Observanz verschrieben. Aus diesem Ansatz ist dann der Forscherdrang des Bibelprofessors abzuleiten. Damit einher geht freilich eine gewisse weltfremde Naivität. Aber gerade durch sie war Luther so „frei“ wie er war. Seinem Schriftverständnis kommt von daher etwas Prophetisches zu. Das wird in den 95 Thesen von 1517 immer wieder deutlich, noch vor der „reformatorischen Erkenntnis“, die erst 1518 zum Durchbruch kam. Die Schrift als das unverfügbare stetige Gegenüber: wohl in der Zeit und Geschichte entstanden durch fehlbare Menschen (vgl. Luthers abschätzige Bemerkungen zum Jakobusbrief oder zur Offenbarung des Johannes), aber von einer Botschaft „extra nos“ (außerhalb von uns) erfüllt.

VIII. Luther hatte wenig genaue Kenntnis der Geschichte. Das unterscheidet ihn von den Humanisten. Und das verwehrte ihm auch ein tieferes Verständnis für die Kirchengeschichte. Seine Bibelauslegung ist von dogmatischem Vorverständnis geprägt, sie zielt auf die fromme Praxis – wenn auch inhaltlich in völlig anderer Ausrichtung als zu seiner Zeit in seiner Umgebung üblich. Insofern ist etwa auch seine eigene Herausgabe der von einem namentlich nicht bekannten Mystiker Ende des 15. Jahrhunderts verfassten „Theologia Deutsch“ von 1516 ein Bekenntnis und nicht im eigentlichen Sinne eine historisch-kritische Quellenedition.

IX. Luther kam es immer auf das Hier und Heute an. Insofern sind alle seine literarischen Veröffentlichungen seit 1520 Beiträge zu aktuellen Debatten. In diesen Zusammenhang ist auch das programmatische Wort des Bibelübersetzers einzuordnen, „dem Volk aufs Maul zu schauen“. Systematische Erwägungen überließ er gern dem „Magister Philippus“ Melanchthon, seinem Schüler und Lehrer zugleich, Verfasser der „Loci communes“ von 1521 (erste lutherische Dogmatik) und der „Confessio Augustana“ 1530 (Augsburger Bekenntnis).

Meine ganz eigene unvollständige These: Luther setzte seine Stärken gegenüber seinen Schwächen (die ihm selbst bewusst waren) umso virtuoser ein: Bibelkenntnis wie bei keinem zweiten zu seiner Zeit, herzliche Frömmigkeit, kräftige Bildsprache, hohe Musikalität.

So. Dies sei meine Zugabe für den diesjährigen Reformationstag. Allen, die diese neunkommafünf Thesen gelesen haben, steht es frei, sich unten sinnierend in Ruhe oder rasant im Nullkommanichts zu äußern. Mal sehen, ob insgesamt die stattliche Anzahl von sagen wir fünfundneunzig diskutablen Sätzen erreicht wird. Dann könnte man mal wieder richtig, in einem großen spannungsreichen geistigen Bogen, um Gedanken, Worte und Werke ringen. Also nur zu! Konkurrenz belebt das Gespräch.

 

Foto: Luther in Worms anno 1521, Skulptur am Hauptturm der Lambertikirche zu Oldenburg (Oldb), Mitte der 1870er Jahre.

Merkel, Malu, Mali

Wir leben in seltsamen Zeiten. Noch nie war in Deutschland das beamtete Christentum so stark in den oberen Rängen vertreten. Unser Bundespräsident war früher einmal Pfarrer, unsere Bundeskanzlerin ist Pfarrerstochter. Und dennoch ist der christliche Glaube in unserem Gemeinwesen auf dem Rückzug. Von einer Theokratie kann also niemand sprechen. Alle Kirchenkritiker sollten wissen, dass eben trotz Herrn Gauck und Frau Dr. Merkel unser demokratischer Staat weiterhin reibungslos funktioniert. Allenfalls irritieren müsste, dass das christliche Bekenntnis denn doch so wenig in den Köpfen und Herzen der bundesdeutschen Bevölkerung präsent ist. Wie anders ist es zu erklären, dass viele Bürger ehrenamtlich in der Flüchtlingskrise helfen, ohne aber kirchlich affin zu sein? Und was ist von Leuten zu halten, die sich über „Religion“ echauffieren und dennoch ihren Beitrag leisten, um den Migranten zu helfen?

Vielleicht wirkt hier eine Form der Aufklärung nach, die sich dem, wagnerisch gesprochen, „Reinmenschlichen“ verschrieben hat. Ja, richtig gelesen, „wagnerisch“. Ich meine tatsächlich Richard Wagner, von dem ja mittlerweile die Saga umgeht, er sei ein Nazi gewesen. Aber wer im Jahre 1883 das Zeitliche segnete, wird kaum für deutsche Untaten des zwanzigsten Jahrhunderts haftbar gemacht werden können. Und wir müssen uns eben den Wagner denken, der 1849, nach dem Aufruhr in Dresden, steckbrieflich gesucht wurde als ein Anhänger der 48er-Revolution. Dass er ein besonders frommer evangelischer Christ gewesen sei, ist eine andere Frage. Aber er entstammte eben diesem geistigen Milieu, als Thomasschüler in Leipzig, als Komponist des für die Dresdner Frauenkirche bestimmten „Liebesmahls der Apostel“, als Schöpfer des nicht vertonten eigenen Versepos „Jesus von Nazareth“, als „Lohengrin“, „Meistersinger“ und „Parsifal“. Sein „Holländer“ ist ohne Mendelssohns „Elias“ nicht zu denken, einmal abgesehen vom lutherischen Impetus im „Rienzi“ und im „Tannhäuser“ –  oder von der Bachschen Polyphonie im Nürnberger Drama, im „Tristan“ und im gesamten „Ring“. Wenn jemand Aufklärung popularisiert hat in Deutschland, dann waren es Wagner und seine Mitstreiter. Das kirchliche Christentum wurde bei ihnen geweitet in eine Weltanschauung, die sowohl dem wissenschaftlich Zweifelnden als auch dem künstlerisch Begeisterten Heimat verschaffte. Manchmal wird das als „Menschheitsreligion“ bezeichnet.

Goethe, Kant und Mozart waren dafür „Urväter“ und Vermittler, Schleiermacher, Hegel und Beethoven folgten ihnen auf je ihre Weise nach. Lessing, Leibniz und Bach gingen ihnen voran, und niemand von diesen Großen hätte sich nur im entferntesten vorstellen können, dass diese Form von Bildung und Anstand in der Katastrophe des sogenannten „Dritten Reichs“ enden würde. Wäre man doch nur beim „Ersten Reich“ geblieben, jenem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das 1806, einfach so mitten in den Sommerferien, aufgelöst wurde … Aber wir wollen ja nicht klagen. Es ging weiter, und nun haben wir es heute mit einer Kanzlerin zu tun, die, gut evangelisch, Gutes mit Gutgemeintem vermengt, vermischt und am Ende verwechselt.

Es ist die „Alternative für Deutschland“, die nun alles durcheinanderbringt. Diese Partei hatte sich zunächst durch ihre Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung bekanntgemacht. Mittlerweile hat sie sich ihrer finanzpolitischen Elite entledigt und zeigt ihre Pegida-Fratze. Aber in diesem abscheulichen Tun legt sie den Finger in die Wunde eines abgehalfterten Europa, das zwar immer von „Werten“ spricht, zugleich jedoch die eigenen christlichen Errungenschaften in Abrede stellt. Die „politische Korrektheit“ greift derart um sich, dass das Reichsmuseum zu Amsterdam nun beispielsweise meint, alle irgendwie als anstößig empfindbaren Titel unter unsterblichen Rembrandtgemälden verändern zu müssen. Wie doof ist das denn?

Hier im föderalen Deutschland  entblödet sich eine Ministerpräsidentin nicht, einer „Elefantenrunde“ einen Korb zu geben, weil eben unliebsame andere Parteien ihre Vertreter in die Sendung des Südwestrundfunks schicken könnten. Liebe Frau Malu Dreyer, Sie sind einfach nur feige. Wenn Sie schon Böses ausgemacht haben wollen, dann stellen Sie sich doch furchtlos und engagiert und argumentativ super bewaffnet diesen Gegnern! Wahlkampf ist etwas anderes als eine jener schrecklich langweiligen neudeutschen Podiumsdiskussionen, auf denen sich am Anfang wie am Ende alle immer nur liebhaben!

Schließlich, nach Merkel und Malu, ist noch eines geschundenen Landes zu gedenken. Aus ihm kommen meines Wissens kaum Flüchtlinge hierher. Aber sie wären unbedingt willkommen, sollten sie sich aus ihrem Land auf den Weg machen. Dort, in den Bibliotheken, lagert literarisches, philosophisches und musikalisches Weltwissen. Es ist die Tragik unserer Zeit, dass wir vor lauter Islamhasserei diesen kulturellen Schätzen keine Aufmerksamkeit, kein Nachdenken, kein Gehör schenken. Dabei wäre es die Mystik, die alle Religionen versöhnen könnte. Da ist die jüdische Kabbala, die christliche innere Versenkung, die islamische Sufi-Bewegung. Seit Jahrhunderten. Von Mali aus wäre ein neuer Aufbruch doch zumindest denkbar. Oder? Weltmusik ist dort entstanden, die sich mit Psalmodien und Choralmelodien verbinden kann und auch international bereits verbunden hat. Wäre nicht die Musik, als echtes einmaliges Zeugnis des Abendlandes, bereit, sich mit ihren Vorfahren aus Jerusalem und Timbuktu zu vereinigen?

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Alles das ist möglich, wenn wir hier in Deutschland uns der eigenen christlichen Wurzeln bewusst bleiben. Denn man ist immer stark, wenn der eigene Glaube gepflegt wird. Eine „Islamisierung des Abendlandes“ muss niemand befürchten, der sich dem erlernten Christentum widmet und treu zu ihm steht. Pegida und die neuen Nazis halten nichts von den Kirchen – so wenig wie weiland die Machthaber des Dritten Reichs und der „DDR“. Und, meine lieben Kirchenleute, leider muss daran erinnert werden: Das Gutgemeinte ist nicht immer automatisch gut. Flausen im Kopf gehen an der Realität vorbei. Im übrigen gilt allen, die Merkel, Malu und Mali uneingeschränkt toll finden oder sie andererseits total ablehnen, das Wort, das einst auf Willy Wolke gemünzt war und uns immer wieder realpolitisch traurig macht, seitdem sein Urheber – wider Erwarten – dann doch mit 96 Jahren verstarb: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Abbildung: Detail aus „Madonna mit Kind und musizierenden Engeln“, Lombardische Schule um 1500, auf dem Schutzumschlag zu: Musica. Geistliche und weltliche Musik des Mittelalters. Herausgegeben von Vera Minazzi unter Mitarbeit von Cesarino Ruini. Aus dem Italienischen, Englischen und Französischen übersetzt von Yvonne El Saman. Freiburg im Breisgau 2011.