August 1806 in memoriam

Am 6. August 1806 endete das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Franz II. legte die römisch-deutsche Kaiserwürde ab und regierte fortan (nur noch) als Kaiser Franz I. von Österreich. Wien blieb also – wenn auch anders als bis dahin – eine Kaiserresidenz, und Haydns „Kaiserhymne“ konnte dort mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz“ noch jahrzehntelang gesungen werden. Wir stimmen auf diese Melodie heutzutage „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ an. Was aber bis in unsere Gegenwart musikalisch nachwirkt, kann doch nicht verwischen, dass damals eine regelrechte Zeitenwende besiegelt wurde.

Denn das Duell zweier Kaiser nahm eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. Seitdem ist es aus der Geschichte verschwunden, nach fast achteinhalb Jahrhunderten Bestand.

Am 2. Februar des Jahres 962 war einst der deutsche König Otto, nachmals „der Große“ genannt, in Rom zum römischen Kaiser gekrönt und gesalbt worden. Seitdem gab es in Mitteleuropa wieder ein Imperium Romanum, gar bald mit dem Zusatz sacrum versehen, also ein „Heiliges Römisches Reich“, erstanden aus den idealisierten Resten der fränkisch-karolingischen Welt, diese wiederum fußend auf den verchristlichten Vorstellungen einer Pax Romana, die seit der heidnischen Antike die Geschichte und Kultur rund um das Mittelländische Meer geformt hatte.

Dieses ottonisch, später salisch und staufisch regierte Reich büßte im Laufe der Zeit immer mehr von seinen hehren Idealen und deren Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung ein. Im Investiturstreit zerrieben sich weltliche und kirchliche Herrschaftsträger wechselseitig. Seit dem 13. Jahrhundert wuchs überdies das Selbstbewusstsein unter den Nachfolgern der ursprünglichen Lehnsnehmer. Und nach dem Verlust seiner europäischen Dimension seit dem 15. Jahrhundert galt das Reich nur noch „deutscher Nation“ angehörig. Die Wirren von Reformation, Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg setzten der tatsächlichen imperialen Macht der Kaiser weiter zu. Nun, 1806, hatte sich das Reich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt.

Kaiser Franz sah das Ende kommen und installierte 1804 für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der traditionellen Nachfolge der habsburgischen Erzherzöge.

Das Absterben des Alten Europa, dessen größten Gebietsanteil eben das Heilige Römische Reich deutscher Nation einnahm, begann mit der Französischen Revolution ab dem 14. Juli 1789. Damals, so sagt es ein Merksatz aus meiner Schulzeit, gab es in Deutschland ebensoviele Groß-, Klein- und Kleinststaaten wie man Jahre nach Christi Geburt zählte, also 1789: eintausendsiebenhundertneunundachtzig. Deutschland war groß und der Kaiser in Wien weit weg: so erlebte man diese zerklüftete politische Landschaft gleich einem Flickenteppich.

Jeder Landesfürst war eifersüchtig auf seine hoheitlichen Rechte bedacht. Da gab es größere Herrschaftsgebiete wie etwa Preußen, Württemberg oder Bayern, sodann unzählige Herzogtümer und Grafschaften, dazu etliche Ritterschaften und Freie Reichsstädte. Alle ihre jeweiligen Herrscher oder Senatoren pochten auf ihre Eigenständigkeit. Sie schlossen Bündnisse mit ausländischen Mächten, waren mit ihnen dynastisch verbunden – etwa Hannover mit Großbritannien oder Oldenburg mit Dänemark und Russland – und verbaten sich normalerweise jedes Hineinregieren des Kaisers.

Und es gab die geistlichen Herrschaften, regiert von zumeist römisch-katholischen Fürstbischöfen. Diese Territorien waren es, die am schmerzlichsten die Wucht der politischen Veränderungen durch die Vorgänge in Frankreich zu spüren bekamen. Revolutionstruppen hatten das Rheinland besetzt. So ging seit Ende des 18. Jahrhunderts das ganze linksrheinische Gebiet des Alten Reiches verloren. Um die deutschen Fürsten zu entschädigen, löste man im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 in Regensburg nahezu alle geistlichen Fürstentümer auf und schlug deren Gebiete weltlichen Herren zu.

Mit dieser staatskirchenrechtlich bis heute bedeutsamen Flurbereinigung verschob sich insgesamt das konfessionelle Gefüge des deutschen Ancien régime. Mit einem Male erbten protestantische Herrscher mitunter auch kurfürstliche Funktionen. Es wurde dadurch unwahrscheinlich, dass eine evangelische Mehrheit in diesem erlauchten Kreise der Kurfürsten einen römisch-katholischen habsburgischen Kaiser bestätigen würde. Auch deshalb zog sich Franz II. lieber auf sein Stammland Österreich zurück.

Mit der Gründung des Rheinbundes in der ersten Jahreshälfte 1806, faktisch dem Austritt einer klaren Mehrheit von deutschen Staaten aus dem Reich, wurde ein weiterer Schritt von Napoleons Gnaden unwiderruflich vollzogen. So erlöste der römisch-deutsche Kaiser seinerseits den lebenden Leichnam heilig-römisch-deutscher Herrlichkeit und überließ ihn seinem Schicksal, zumeist in der Faktizität französischer Besatzung.

Das Römertum ging habituell auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun im Jahre 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 und 1806, sozusagen die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach mehr als neunhundert Jahren, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können.

Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging der Kaisertitel an ein kleindeutsches Reich über, absichtlich völlig losgelöst von den Habsburgern in Wien, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss: Die k.u.k. gutkatholische Doppeldonaumonarchie streckte ebenso die Waffen wie die preußisch-protestantische Hohenzollernherrschaft.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815 sah man überall in Europa nur noch auf die jeweils eigene nationale Prägung. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls selbstherrlich, spielte nun keine große Rolle mehr. Jegliches Denken im Sinne von karolingischen und ottonischen Großzügigkeiten wurde durch die maßgeblich Mächtigen des 19. Jahrhunderts eher verdrängt denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

Es musste der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Im Blick auf die ganze Welt geschah dies ab einem weitaus schrecklicheren 6. August: dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit den „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, war folgerichtig und ist nach wie vor begrüßenswert.

Die antike und christliche Grundlage Europas ist heutzutage fast völlig in Vergessenheit geraten, mit ihm zugleich ihre Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre sie neu zu erkennen: Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), blieb im historischen Gedächtnis als zeitweiliger Erzieher von Otto III. gegenwärtig. Freilich war der bei Grundsteinlegung des Gotteshauses schon acht Jahre tot.

Gewiss: Die damaligen Umstände mitsamt der neu-alten „Rom-Idee“ des Enkels von Otto dem Großen sind mit den derzeitigen überhaupt gar nicht vergleichbar. Aber dieses Bauwerk, im schwärmerischen Nachgang christlichrömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums errichtet, hat immerhin alle Höhen und Tiefen der gemeinsamen europäischen Geschichte überstanden, ohne auch nur eine der vielen Zeitenwenden auszulassen.

Verdrängter Kaiser

Auf dem gerade zu Ende gegangenen Katholikentag in Stuttgart wurde das dortige Denkmal für Kaiser Wilhelm I. mit rotem Tuch verhüllt. Damit wollten die Veranstalter auf den bösen „Kolonialismus“ aufmerksam machen, der sich angeblich mit dieser Person verbindet.

Ich bin – wieder einmal – erschüttert über das historische Rumpfwissen heutiger Protagonisten. Der Erwerb von Kolonien war im jungen Deutschen Reich nämlich durchaus umstritten. Im übrigen fungierte als der eigentliche „starke Mann“ im frisch geeinten Deutschland bis zu dessen erzwungenem Rücktritt faktisch eben nicht der Kaiser, sondern Reichskanzler Bismarck – und der hat sich in dieser Hinsicht, bei allen Schwankungen, letztlich dagegen ausgesprochen! Dass dieser Lotse 1890 von Bord gehen musste, ist dann bereits Wilhelms Enkel, dem gleichnamigen „Zwo“, anzukreiden – wenn man denn schon einen „Schuldigen“ sucht und sich nicht die Mühe machen will, auch ihn, den letzten deutschen Kaiser, differenziert zu betrachten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir nehmen die Tat laienhafter Kirchenaktivisten hier und heute daher lieber zum Anlass für eine skizzenhafte Würdigung des von katholischen Gutmenschen in der Schwabenmetropole verhängten und verdrängten evangelischen Blaublütlers, liegt doch der Geburtstag des Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen nun 225 Jahre zurück: Am 22. März 1797 erblickte der Prinz in Berlin dieser Welt Licht, nach dessen „Mehr“ auf den Tag genau 35 Jahre später der sterbende Goethe in Weimar verlangen sollte. Als zweiter Sohn des Kronprinzen und baldigen Königs Friedrich Wilhelm III. und dessen Gemahlin Luise schlug „Wilhelm der Große“ früh die militärische Laufbahn ein. Dass er einmal selber wegen der kinderlosen Ehe seines Bruders, des preußischen „Romantikers auf dem Thron“ Friedrich Wilhelm IV., erst König und dann sogar Deutscher Kaiser werden würde, hätte zunächst niemand gedacht.

Wilhelm I. war übrigens – was nicht hinreichend im geschichtlichen Allgemeingedächtnis gegenwärtig ist – ein Jahrgangsgenosse von so unterschiedlichen „Promis“ wie Annette von Droste-Hülshoff (+1848), Franz Schubert (+1828) und Heinrich Heine (+1856). Im Unterschied zu diesen verhältnismäßig früh Verstorbenen erreichte er das biblische Alter von fast 91 Jahren. Der in den Berliner Revolutionstagen 1848 fälschlicherweise als „Kartätschenprinz“ zu unrühmlichem Namen gelangte präsumptive Thronfolger wurde, nach einer dreijährigen Zeit als Prinzregent an seines erkrankten Bruders Statt, dann 1861 tatsächlich preußischer König. Mit Bismarck als Ministerpräsident begann bereits 1862 heftiger Streit: der Verfassungskonflikt um die Heeresreform.

Die darauf folgenden Waffengänge gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) wurden freilich im Sinne von „Preußens Gloria“ und der Einigung Deutschlands überaus erfolgreich. Kritischen Nachgeborenen erschienen sie allerdings als Erweis von Militarismus und Nationalismus. Wilhelm selbst aber soll geweint haben, als man ihm 1870/71 den Kaisertitel aufnötigte: Er sah in diesem Akt das alte Preußen untergehen, jene europäische Großmacht, die sich nach dem Zusammenbruch 1807 zu einem modernen konservativ-liberalen Staat entwickelt hatte.

Geburtshelferin dafür war niemand anderes als die Mutter des zehnjährigen Wilhelm gewesen, eben jene legendäre Königin Luise, die einzige Person im königlichen Tross, die seinerzeit den Mut aufbrachte, sich mit dem „Ungeheuer“ Napoleon I. im ostpreußischen Tilsit an den Verhandlungstisch zu setzen. Dessen Neffen, Kaiser Napoleon III., hat Luisens nunmehr und wider ursprüngliches Erwarten königlicher Sohn dann 1870 unter umgekehrten Vorzeichen nach der Schlacht bei Sedan als Ergebnis einer Unterredung im Weberhäuschen Donchéry als Kriegsgefangenen „ab nach Kassel“ geschickt …

Ein Jahr zuvor war der König zum Namensgeber einer ganzen Stadt erkoren worden. Der preußische Kriegshafen im Jadegebiet, dessen sumpfigen Grund man 1852/53 dem Großherzogtum Oldenburg abgekauft hatte, hieß entsprechend seit 1869 „Wilhelmshaven“. Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 ging diese Bezeichnung auch auf die benachbarte oldenburgische Stadt Rüstringen über. Wilhelmshavens Einwohner hatten dann sofort mit Kriegsbeginn 1939 unter gegnerischen Fliegerbomben zu leiden.

Wilhelm I. – wir sehen es am Schicksal der nach ihm benannten Stadt – hat eher in seinen Funktionen denn durch seine Persönlichkeit größere Wirkung erzielt. Das unterscheidet ihn von seinem politischen Gegenspieler Bismarck, über den der Monarch bemerkte, es sei nicht leicht, unter solch einem Reichskanzler Kaiser zu sein. Dennoch hat man ihn verehrt. Als er gestorben war und die geneigte deutsche Öffentlichkeit es mit dem lärmigen Enkel Wilhelm II. zu tun bekam, sangen viele Menschen: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!“

Umstritten war Wilhelm I. zu Lebzeiten gleichwohl. Fortschrittlichen galt er als Reaktionär, keinen Deut besser als sein Bruder, der 1849 die ihm vom Frankfurter Paulskirchenparlament angetragene Kaiserkrone „im Namen des Volkes“ abgewiesen hatte. Auch er, Wilhelm, der mehrere Attentate überlebte, wollte partout im Sinne des überkommenen Gottesgnadentums regieren und wusste es nicht anders. Diese äußerst konservative Grundhaltung fand allerdings in den liberalen Gedanken seiner Gattin, einer geborenen Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Königin und Kaiserin Augusta, einen gewissen Ausgleich. Die zwei Kinder des Ehepaares haben jedenfalls dahingehend gewirkt.

Tochter Luise wurde mit dem Großherzog von Baden verheiratet. Dieser brachte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles sein Hoch schlicht auf „Kaiser Wilhelm“ heraus und umschiffte so den bizarren Streit um die Frage, ob der preußische König zusätzlich nun „Deutscher Kaiser“ oder „Kaiser von Deutschland“ sein solle. – Sohn Friedrich heiratete Victoria („Vicky“), eine Tochter der englischen Queen Victoria. Die liberalen Grundsätze der beiden blieben Blütenträume. Als der Sohn Wilhelms I. 1888 die Nachfolge seines Vaters antrat, untersagte ihm Kanzler Bismarck überdies die Kontinuität aus tausend Jahren: Nicht Friedrich IV. durfte er sich nennen, sondern er musste die Numerierung gemäß der preußischen Königsfolge annehmen: So wurde er auch auf der Ebene des Reiches Friedrich III.

Sein früher Tod nach nur 99 Tagen als preußischer König und deutscher Kaiser ließ seine Witwe als „Kaiserin Friedrich“ jenes ideelle Erbe antreten, von dem der Sohn, Wilhelm II., nur wenig wissen wollte. Stattdessen begann nun das sogenannte „Wilhelminische Zeitalter“ mit all den Widersprüchen, die bis heute unsere Gesellschaft prägen. Eigenwilliges Fortschrittsdenken verband sich aber eben erst ab damals tendenziell mit moralischer Großmannssucht und geistiger Selbstzerstörung. Hier hätte die woke Diskussion um deutschen Kolonialismus im gesamteuropäischen Imperialismus einzusetzen, nicht vorher. Denn ab da geriet schließlich ganz Europa ungewollt in den großen Krieg, der als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gleich den Keim zum Zweiten Weltkrieg in sich trug.

Dass der Stuttgarter Katholikentag vergleichsweise schlecht besucht war, hängt sicherlich mit vielen Dingen zusammen. Die eindimensionale Sicht auf einen protestantischen Hohenzollern wird womöglich auch den öffentlichen Eindruck verstärken, dass die deutschen Volkskirchen beiderlei Geschlechts nicht mehr unbedingt Orte und Zeiten für geschichtlich geschulte Weisheit bieten. Wo bleibt verantwortungsvolles historisch-informiertes Nachdenken? Ein rotes Tuch – oder, mit Fontane briestig-preußisch gesagt, ein weites Feld …

Zwanzig/Einundzwanzig

Es klingt in den Ohren von besonders sensiblen Mitmenschen vielleicht ein wenig nach „Siebzig/Einundsiebzig“, aber das ist durchaus beabsichtigt. Noch war der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 offiziell nicht beendet, Kaiser Napoleon III. jedoch bereits seit Monaten abgesetzt, da begann am Neujahrstag 1871 auf dem Papier die Existenz des Deutschen Reiches. Die Ausrufung des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles erfolgte dann am 18. Januar. Einerlei für Reichskanzler Bismarck: Der nachgereichte und entsprechend hastig improvisierte Pomp bestätigte lediglich nur einmal mehr die schlichte Tatsache, dass es den lange angestrebten deutschen Bundesstaat nun wirklich gab.

Einhundertfünfzig Jahre ist das jetzt her. Der heute regierende französische Staatspräsident sprach im März 2020 von einem „Krieg“, in dem wir uns befänden – gegen das Coronavirus, dem man mit allerlei Maßnahmen denn auch begegnete. In Frankreich, Italien, Spanien und Belgien etwa wurden und werden regelrechte Ausgangssperren verhängt; hier in Deutschland ist es bisher weniger hart, weswegen der Begriff „Lockdown“ (Einschluss, Einsperrung, Polizei und Militär auf den Straßen zur Überwachung) unzutreffend ist: Man sollte besser von „Shutdown“ (Schließung von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen) sprechen. Nun werden viele der verhängten Bestimmungen in unser Neues Jahr 2021 hinein weitergelten. Insofern dauert Macrons rhetorische Positionierung an. Auch „2020/21“ lässt sich demnach in einem Atemzug lesen und sprechen.

Reden wir aber von Dingen abseits jenes mexikanischen Maisbieres, dessen Schöpfer in den 1920er Jahren seine Treue zur spanischen Krone bekräftigen wollte, weswegen er es „Corona“ nannte. Denn das Neue Jahr Anno Domini MMXXI hält viele Jubiläen und Gedenktage bereit. Aus ihnen habe ich pro Monat ein Datum ausgewählt. Es geht im Januar, wie gesagt, los mit der Reichsgründung 1871 (vor 150 Jahren). Sodann: Ab dem 25. Februar 1721 erschien die „Berlinische Priviligierte Zeitung“ (ab 1751 „Vossische Zeitung“) dreimal wöchentlich (vor 300 Jahren). Am 3. März 321 erklärte Kaiser Konstantin den Sonntag zum allgemeinen wöchentlichen Ruhetag im Römischen Reich (vor 1700 Jahren). Am 17. April 1521 sprach Martin Luther in Worms vor Kaiser und Reichsständen (vor 500 Jahren). Am 6. Mai 1871 wurde Christian Morgenstern geboren (vor 150 Jahren). Im Juni 1796 spielte der fünfundzwanzigjährige Ludwig van Beethoven Klavier vor dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. in Berlin (vor 225 Jahren). Am 1. Juli 1696 wurde Gottfried Wilhelm Leibniz fünfzig Jahre alt (vor 325 Jahren, nach dem gregorianischen Kalender; demnach im Juni julianisch/im Juli gregorianisch 1616 geboren, vor 375 Jahren). Am 15. August 1771 kam Sir Walter Scott zur Welt, der „Erfinder“ des historischen Romans (vor 250 Jahren). Am 11. September 2001 war „Nine-Eleven“ (vor 20 Jahren). Am 11. Oktober 1896 starb Anton Bruckner (vor 125 Jahren). Rückwirkend zum 1. November 1946 wurde das Land Niedersachsen gegründet (vor 75 Jahren). Am 10. Dezember 1971 erhielt Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis (vor 50 Jahren).

Wem dies an Fest- und Gedenktagen nicht genügt, dem habe ich noch etwas nachzureichen. Seit drei Jahren ist es in manchen hochgebildeten Kreisen eine Gaudi, besondere Ereignisse durch Schnapszahlen zu ermitteln, vorzugsweise dreistellig. So wurde 2018 der dreihundertdreiunddreißigste Geburtstag von Johann Sebastian Bach feierlich-fröhlich begangen. Dadurch angeregt habe ich mich umgesehen und bin auf überwiegend politische Daten gestoßen: 1910 wurde in Portugal die Erste Republik errichtet (vor 111 Jahren). 1799 erschien anonym das Buch „Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“, rasch identifiziert als ein Werk von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher; außerdem erlebte die Welt den 18. Brumaire des Jahres VIII im französisch-republikanischen Kalender, also den 9. November 1799: Staatsstreich von Napoléon Bonaparte (vor 222 Jahren). Ab Mai 1688 kam es zur „Glorious Revolution“ in England (vor 333 Jahren).


Was Schnapszahlen anbetrifft, so kann ich leider nur zweistellig dienen. Vor 33 Jahren wurde dieser damals 22-Jährige oben im Gebirge gestellt, abgelichtet und also dokumentiert. Die nachgerade zarathustrische Heiterkeit unzeitgemäßer Betrachtungen ist durchaus beachtenswert und kann sich gern überallhin verbreiten. Besser ist immer ein Lachen Nietzsches (vor 150 Jahren, als Professor in Basel, war er noch nicht ganz soweit, das änderte sich in der Folge). Sicher sind wir in jedem Fall bei August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der das „Lied der Deutschen“ 1841 dichtete (vor 180 Jahren; Quersumme 9, also 3×3, insofern auch ein bisschen schnapsig), und der in seinem Spätwerk die Coronaworte fand: „Der größte Lump im ganzen Land, / das ist und bleibt der Denunziant.“ Aber nun hoffen wir mal großzügig, dass solche finsteren Wahrheiten im Jahre 2021 gar niemand aussprechen muss – weil tout le monde freundlich und sachlich bleibt. In diesem Sinne: Frohes Neues Jahr!