Jesus nahm zu …

… sich die Zwölfe: So lauten die ersten Worte jener Kantate, mit der sich Johann Sebastian Bach (1685-1750) am Sonntag Estomihi 1723 in Leipzig bewarb. Volle dreihundert Jahre ist dies nun her. Bach bekam den Posten des Thomaskantors und städtischen Musikdirektors – aber nur deshalb, weil zuvor der favorisierte Georg Philipp Telemann (1681-1767) abgesagt und der zweitplazierte Christoph Graupner (1683-1760) von seinem Dienstherrn keine Erlaubnis zum Stellenwechsel bekommen hatte.

Bach trat sein neues Amt zum Ersten Sonntag nach Trinitatis an, das war Ende Mai 1723 – und blieb bis zu seinem Tod auf dieser Stelle, 27 Jahre lang. Jesus nahm zu, und zwar in einer Weise, wie es die Leipziger nicht gedacht hätten – und eigentlich auch nicht wollten. Denn fortan bekamen sie in den Gottesdiensten der Thomas- und der Nicolaikirche regelrechte musikalische Predigten zu hören: kunstvoll gearbeitet und zugleich tief beseelt – in ihren Ohren jedoch unangemessen hochdramatisch, gar opernhaft. Das überforderte so einige, die in der stolzen Bürgerstadt den Ton angaben. Auch die Prediger auf den Kanzeln und die Gemeinden unter ihnen hatten für diese Bachsche gottesdienstliche Musik mit Soli, Chor und Orchester, die auf den Emporen von den Sängern und Instrumentalisten der Thomaner aufgeführt wurde, oftmals nur Stirnrunzeln übrig.

Bach bemerkte bald, dass unter diesen Umständen sein Feuereifer für das musikalisierte Evangelium an der Harthörigkeit der städtischen Bürgerschaft erlöschen musste. Mitten im dritten Jahrgang der Kantaten brach er mit der wöchentlichen Neuproduktion (nur jeweils durch Advents- und Passionszeit unterbrochen) ab. Eine vierte und vielleicht auch fünfte Serie stoppelte er noch zusammen. Aber danach führte er zunehmend eigene ältere Werke oder die von Familienmitgliedern auf, präsentierte Musiken von Kollegen wie zum Beispiel Telemann oder ließ so manches seit Jahrzehnten vergessene Stück aus dem reichhaltigen Archiv der Thomasschule erklingen. Der eigene Fundus diente zudem, wenn er nicht in späteren Kirchenjahren eins zu eins wiederaufgeführt wurde, als Material für Umarbeitungen und Ergänzungen. Nur noch selten komponierte er neue Kantaten, vielfach aber auch dann kompiliert und arrangiert aus bereits vorhandenem Material: zum Beispiel in den 1730er Jahren ein halbes Dutzend, das „Weihnachtsoratorium“.

So oder so aber nahm Jesus zu. Nach der Wiederaufführung der Matthäuspassion durch den gerade zwanzigjährigen Felix Mendelssohn (1809-1847) im Jahre 1829 wurden auch die Bachkantaten neu entdeckt. Es war die Zeit zwischen politischer Restauration, Biedermeier und Vormärz (1815-1848), die insgesamt eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit mit sich brachte. Dass Bach zu den großen historischen Figuren gehören würde, galt nun als ausgemachte Sache. 1850 gründete man die Bachgesellschaft, die eine Gesamtausgabe aller Werke Johann Sebastian Bachs zum Ziel sich setzte. Robert Schumann (1810-1856) und Johannes Brahms (1833-1897) trugen ihren Teil dazu bei. Nachdem im Jahr 1900 diese Großtat vollendet war, folgte die Gründung der Neuen Bachgesellschaft e.V., die bis heute besteht und sich der „Neuen Bach-Ausgabe“ sowie einer zeitgenössischen Bachpflege verschrieben hat.

Im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) von 1950 stehen die Kirchenkantaten ganz am Anfang, BWV 1 bis 199. „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“ trägt die Nummer 22. Die erste Leidensankündigung Jesu zu Beginn der vorösterlichen Fastenzeit wird kombiniert mit Anklängen an den weihnachtlichen Letzten Sonntag nach Epiphanias drei Wochen zuvor. Der warmherzig-melancholische Beginn geht in dieser Kantate auf in einer Festmusik, die in der Erinnerung an die Verklärung Jesu bereits Ostern in den Blick nimmt. Eine schöne Aufnahme zum Anhören auf YouTube: J.S.Bach/Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV 22 (Herreweghe).

Bachs Kantaten haben, seitdem sie in der Welt sind, diese eigentlich immer schon geistig-geistlich überwunden durch ihre musikalische Rhetorik. Texte der Lutherbibel, Choräle aus der Reformationszeit bis hin zu Paul-Gerhardt-Liedern, Arien auf Dichtungen der Bachzeit: In dieser Musik wird alles zur Klangrede der biblischen Botschaft. Die Jüngerschar der „Zwölfe“ setzt ihrem Meister in dem Probestück vom 7. Februar 1723 durchaus zu, aber das tut dessen Predigt und Geschick keinen Abbruch. Wo immer Bachs Evangelium erklingt, kann der Glaube im Wachsen begriffen sein, völlig unabhängig von ach so wichtigen heutigen öffentlichkirchlichen Verlautbarungen zu sämtlichen tagespolitischen Themen – wie einst, als der Solist anhub: „Jesus nahm zu sich die Zwölfe“.

Jesus nahm zu, damals, mit Bachs Kantaten für die Sonn- und Festtage des lutherischen Kirchenjahres. Später, in kulturprotestantischen Zeiten, begegnete man Jesus wieder genau in dieser Musik bei konzertanten Aufführungen, bis man sie erneut auch für die evangelischen Gottesdienste im 20. Jahrhundert gemäß ihrem ursprünglichen Eigenverständnis hin und wieder einsetzte. Dieser Brauch hat sich bis heute erhalten. Freilich bedarf es dazu kirchenmusikalisch-hauptamtlicher Personen, entsprechender Chöre und Vokalsolisten, einer geeigneten instrumentalen Ausstattung sowie des nötigen Kleingelds.

Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom (1866-1931) nannte den von Max Reger (1873-1916) als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichneten Bach den „Fünften Evangelisten“. Und in jedem Fall wird Jesus nie geschmälert, sondern seine Botschaft nimmt zu durch die bis heute staunenerregende Klangwelt jenes Musikers, der sich vor 300 Jahren auf das nach wie vor bedeutendste Kantorenamt im evangelischen Deutschland bewarb. Das musikalische Christentum wirkt seither weit hinaus, international und überkonfessionell. Wohl auch in diesem Sinne hat der argentinisch-deutsche Komponist Mauricio Kagel (1931-2008) einmal gesagt: „An Gott zweifeln – an Bach glauben“.

In dieser lieben Sommerzeit

Als die Winter noch Winter waren, mit viel Schnee und Eis … und die Sommer noch Sommer, mit viel Sonne und Eis … Schlittschuhlaufen auf zuverlässig zugefrorenen Wassern … „Brauner Bär“ braungebrannt am Kiosk gegönnt für fünfzig Pfennig … und so winters wie sommers kindlich glücklich.

Wenn es heutzutage winters noch Schnee gäbe, dann wären sofort die Genderisten & Co auf dem Plan: Wehe, es wird lustvoll an einem Schneemann gebaut – wo bleibt denn da die Schneefrau? Die Möhre im Gesicht – als naseweises Spiel mit Lebensmitteln verunglimpft, obwohl ja heutzutage kein Kind mehr lernt, Wurzeln abzuschrappen und kleinzuschnippeln, um sie dem Eintopf zuzuführen. Und Kohlespuren als Mund – igitt, politisch völlig inkorrekt im Hinblick auf die Energiewende … Es dürfte höchstens ein*e Schneemensch*in errichtet werden, ohne primäre Gesichtsmerkmale.

Aber haben wir nicht mal gelernt, dass ein Schneemensch gar nicht dingfest gemacht werden kann? Wer hat jemals den Yeti gesehen? Den heutigen Eifer*er*inne*n aber ist das egal. Daher ist es vielleicht ganz gut, dass kaum noch Schnee fällt. Die Klimaerwärmung erspart uns angesichts von leider erwartbaren politisch korrekten Gestaltlosigkeiten die brutalsten Geschlechterkampfdiskussionen.

Ebenso gefährdet wäre das Schöfeln: Es würde nur alle niederländischen Maler in ein schiefes Licht setzen, die es einst wagten, freie Bürger auf freier Fahrt über festgefrorene Kanäle bildlich darzustellen. Ist das nicht ein Angriff sowohl auf das Recht am eigenen Bild als auch auf die kommerziellen Eislaufhallen unserer Tage, die ganzjährig geöffnet haben wollen, also auch winters – wenn zugleich die Natur womöglich „umsonst und draußen“ solch eine Gelegenheit zum Schliddern böte? Das gute alte Motto des „Kultursommers“ in meiner Heimatstadt würde winters zu einem heißen Eisen.

Und: Wären sommers militante Tierschützer auf dem Plan, sie würden jeden erschießen, der einen „Braunen Bären“ produziert, verkauft oder konsumiert hätte, Karamellkern hin oder her. Wo bleibt denn da der Respekt vor der Fauna? Einen Bären schlecken? Oder gar einen Nachtfalter? Oder ein Wildpferd solchen Namens? Völlig tierfeindlich. Man muss heutzutage da sehr aufpassen. Eine Bekannte trug neulich einen Pelzmantel, den sie einst geerbt hatte und nun schon selber seit Jahrzehnten besitzt. Der bösartigen Beschimpfung „Tiermörderin“ konnte sie sich nur äußerst mühsam erwehren. Übrigens würde es auch denjenigen, die nicht an eine animalische Kreatur, sondern an einen Indianersohn dächten, der von einem Indianermädchen namens „Weiße Taube“ angeschmachtet wird, keineswegs besser ergehen: Eine Gesellschaft, in der „Negerküsse“ und „Mohrenköpfe“ nachgerade geächtet worden sind, wäre auch unerbittlich gegen solch braunes bäriges Milcheis mitsamt dadurch hervorgerufenen Schmetterlingen im Bauch – selbst wenn ein picassogestylter schneeweißer Vogel vor blauem Grund daherflatterte. Hugh!

Überdies: Fünfzig Pfennig – schrecklich verfänglich! Denn da konnte es seinerzeit passieren, dass man einen vielfachen Wert mit sich herumtrug und womöglich auch noch ausgab, ohne es zu wissen: „Bank deutscher Länder“ auf der Münze von 1950 war eine seltene, aber durchaus vorkommende Fehlprägung, und einen „Braunen Bären“ bezahlte man damit eben besser nicht. Solch ein Exemplar führte jeder wissende neunjährige Junge seiner kleinen Münzsammlung zu. Wir bedauern nun heutzutage aufrichtig alle jene Mitmenschen, die damals nicht aufgepasst und ihre falschen Fuffziger einem der beliebtesten, zugleich vergänglichsten galaktisch-gelatonischen Erzeugnisse geopfert haben. Und zeigen ihnen, gemäß heute verstärkt erwünschter Kundenbindung, eine LANGE NASE – soweit das noch geht …; denn jegliches bisher bärenstarke Bargeld soll ja demnächst total verboten werden. Die heißen Sommer der längst dahingeschmolzenen Siebziger – keine Eis-Ente! – machen’s möglich. Na toll.

Unter solchen Umständen fällt es mir schwer, noch einigermaßen beschwingt von mir persönlich zu erzählen. Darum nur so viel: Als ich in den frühen achtziger Jahren, nur einige Winter nach der sogenannten „Schneekatastrophe“ (über diese Benennung lacht heute noch halb Süddeutschland), den ersten Satz aus Beethovens nicht ganz unfrivoler G-Dur-Sonate Opus 14 Nummer 2 durchfingerte, fror plötzlich nicht etwa der Klavier-, sondern der Flötenteich zu. Dieses so benamte Gewässer wurde somit unversehens zum Objekt gymnasialen Außensportunterrichts. Das war ja was! Zwar hatte mein Fachlehrer zu Recht generell einen Rochus auf mich Unsportlichen. Aber nun ging es indes für einmal ums Schlittschuhlaufen: Alle notorischen Fußballjungs meiner Klasse versagten kläglich hackenumknickend schon beim ersten Aufrichten – nur dieser Eccard zog elegant seine Runden übers Eis. Der Lehrer war völlig verdutzt und fragte mich, woher ich das denn so schön könne. Ich antwortete keck, das könne ich eben. Niemals vorher oder nachher habe ich im Schulsport ein „Gut“ eingestrichen.

Also: Nicht erst ein Antonio Vivaldi macht uns durch seine allzu berühmten Violinkonzerte die VIER Jahreszeiten schön, sondern es genügt manchmal schon die simple Zweiteilung in Winter und Sommer. Ich lege Wert auf diese Reihenfolge. Und auf die unbegründete Aussage, etwas einfach zu können … „Wenn der Winter ausgeschneiet, / tritt der schöne Sommer ein“, dichtet der gute Paul Gerhardt. Eine Zeile, die binärcodischem Denken direkt entsprungen zu sein scheint. Null und Eins – alles andere ist schmückendes Beiwerk, im Ernstfall négligable. Gottfried Wilhelm Leibniz hat an solchen Versen gewiss seine Freude gehabt. Nur mit der Einschränkung, dass bei ihm nicht die Null, sondern die Eins Vorrang im Denken beansprucht. Sein oder Nichtsein war für den Nichterfinder des Leibnizkekses keine existentielle Frage mehr. Eher schien es ihm relativ einseitig um eine möglichst ungetrübte „liebe“ Sommerzeit zu gehen: „Um Alles aus dem Nichts herzuleiten, genügt Eines.“ Ist das eine optimistische Version der spätantiken Anschauung von der creatio ex nihilo?

Paul Gerhardt verhält sich zu Gottfried Wilhelm Leibniz wie die Generation der Trümmerfrauen (Fünfzigpfennigstück!) und Kriegsheimkehrer (Wolfgang Borchert, „Draußen vor der Tür“) zu den wohlgenährten aufbegehrenden Achtundsechzigern. Zwischen dem Friedensschluss von 1648 und der dem Kriegsende vom 8. Mai 1945 in den drei westdeutschen Besatzungszonen folgenden Währungsreform 1948 liegen genau dreihundert Jahre. „Hurra, wir leben noch“, sangen die Kinder der Stunde Null – und ähnlich klang es in den Jahren nach dem Ereignis von Osnabrück und Münster: „Gott lob, nun ist erschollen / das edle Fried- und Freudenwort“, dichtete Gerhardt damals in einem Lied, das bezeichnenderweise im gegenwärtigen Evangelischen Gesangbuch nicht mehr auffindbar ist. Aber es gibt ja von dem eigenartigen Dichterpfarrer noch ein „Sommerlied“ sui generis, vielgesungen in etlichen (mindestens fünfzehn) unterschiedlichsten Melodien, doch kaum je in seinen Abgründen ausgelotet. Ein „Brauner Bär“ kommt in ihm ebensowenig vor wie ein schwarzes Exemplar als Berliner Wappentier – obwohl dieses ja durchaus hätte besungen werden können – bei der biblisch-brandenburgischen Gemengelage in den ersten sieben Strophen.

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„Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben“ – zunächst unverschattet startet hier ein sonniges Gemüt. Wie konnte ein Robert Gernhardt bloß in seinem „Späten Spagat“ (2006) ausgerechnet dieses Lied auf seine eigene chemotherapeutische Tristesse hin umdichten und aus „Freud“ „Leid“ machen? Ich erkläre es mir so: Gernhardt hat Gerhardt gern. Eines unter vielen Häuptern der Neuen Frankfurter Schule blickt hier in die Tiefe. Wie fragil die sommerliche Schönheit ist, macht nämlich schon die zweite Strophe des Originals deutlich: „Die Bäume stehen voller Laub, / das Erdreich decket seinen Staub / mit einem grünen Kleide; / Narzissus und die Tulipan, / die ziehen sich viel schöner an / als Salomonis Seide.“ Der Erdenstaub wird nur notdürftig überdeckt mit Wiesen, Blumen oder Büschen – wenn auch dem Herzen diese Natur erfreulicher erscheint als der gesamte Reichtum des weisen Königs Salomo.

„Narzissus und die Tulipan“ – Frühlingsblumen: Osterglocken etwa (die gehören zur Familie der Narzissen) und eben Tulpen. Exotische Pflanzen, deren Import, Verbreitung und Beliebtheit der sogenannten „orientalischen Phase“ innerhalb der Geschichte der mitteleuropäischen Gartenbaukunst (in den sechs Jahrzehnten zwischen 1560 bis 1620) sich verdanken. Paul Gerhardts Landesherrn, den „Großen Kurfürsten“, hatte in jungen Jahren die unter adligen Jungspunden übliche Kavalierstour auch in die Niederlande geführt. Völlig begeistert war er mit edlen Tulpenzwiebeln und anderen Wurzeln persisch-türkischer Flora nach Hause zurückgekehrt, um sie im heimischen Lustgarten einpflanzen und hegen und pflegen zu lassen. Sozusagen Grüße von Konstantinopel nach Berlin. Die gab es mithin schon damals, nur mit dem kleinen – jetzt nicht mehr gefragten – Umweg via Amsterdam, wo eine Krankheit namens Tulpomanie – heute würde man durch die Blume von Spielsucht sprechen – Anno Domini 1637 den ersten richtig heftigen Börsenkrach der europäischen Neuzeit verursacht hatte.

Zu Spitzenzeiten wurde eine einzige Tulpenzwiebel zum Wert eines Grundstücks in allerbester Amsterdamer Lage gehandelt. Ganz ernsthaft, ohne einen Bären aufzubinden! Zumindest schien es eine Weile so. Dann platzte die Spekulationsblase, die begehrten Blumenwurzeln sanken auf ein Hundertstel ihres zuletzt gehandelten Wertes, to be or not to be. Bildlich gesprochen: Mitten im heißen Sommer brach der Kurs ein und krachte hinunter in bodenlosen tiefen Winter. Auf den Anzeigetafeln heutiger Börsen sieht so etwas dann immer aus wie ein Blitz, der unerbittlich niederschießt. Ein krachendes Sommergewitter ist nichts gegen solch eine Wucht, die ganze Existenzen vernichtet. Doch was hilft’s? Man muss sich berappeln „auf dieser armen Erden“: „Doch gleichwohl will ich, weil ich noch / hier trage dieses Leibes Joch, / auch nicht gar stille schweigen; / mein Herze soll sich fort und fort / an diesem und an allem Ort / zu deinem Lobe neigen.“

Jedes System, ob wirtschaftlich, politisch oder kulturell, ist nur dünner Firnis über dem Chaos – dessen „Vorstellung“ ja anderthalb Jahrhunderte später, zwar notgedrungen domestiziert, aber doch noch wirr genug, der große Joseph Haydn zu Beginn seiner „Schöpfung“ einigermaßen angemessen in Töne fasst. Werden hier, in fürchterlichem c-Moll, Frühling und Sommer der europäischen Aufklärung kompositorisch zu Grabe getragen? Landet zugleich Leibniz‘ „beste aller Welten“ auf dem vor Wintereinbruch herbstlichen Komposthaufen der Geschichte? Oder „trage“ ich vielmehr ganz für mich selbst „dieses Leibes Joch“ – hindurch… ??? Die Zeit zwischen 1648 und 1789 halten manche Historiker für die sympathische Blütezeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Never ending summertime. Weil die damalige deutsche Nachkriegszeit eben zusammengeht mit dem französisch dominierten siècle des Lumières, einem Zeitalter, das bis heute viele Menschen mit leuchtenden Augen als die „Aufklärung“ identifizieren und mit sommerlichem Sonnenglanz gleichsetzen.

Auch Kompostieren will gelernt sein. Es ist eine Wissenschaft, die viel mit dem Komponieren gemein hat. Nicht alles eignet sich für die Schichtungen in der abgelegenen Gartenecke respektive in den funkelnden Winkeln des Klanguniversums. Nichts soll auf den Haufen, was Ungeziefer anlockt – und ebenso darf, bei allem Mut über ein restaurativ-restriktives „Keine Experimente“ hinaus, „die Musik das Ohr niemals beleidigen, sondern muss doch allezeit Musik bleiben“ – Mozart – sogar in düsterstem c-Moll – in memoriam …

Leibniz, der neun Jahrzehnte vor dem nominellen Ende des Alten Reiches verschied, repräsentiert eine zuversichtliche Generation, die sich von den Erfahrungen etwa eines Paul Gerhardt endgültig gelöst haben will und die Zukunft in bunten Farben malt. Er denkt bisweilen in quasi multikulturellen Dimensionen, und das hat ihn immer befremdlich wirken lassen. Der Unterschied zu heutigem Einerleigerede, wo alles Besondere vorgeblich, im Namen von „Toleranz“ und so, „egal“ ist, liegt jedoch im sommerlich-binären Charakter seiner Äußerungen. Nicht (spaltbare) Atome sind ihm Urstoffe des Lebens, sondern von ihm so genannte „Monaden“, einzelne beseelte Kraftpunkte, die jeweils das Ganze in sich tragen und deshalb in, an und für sich selbst, ohne Verbindung zur nächsten benachbarten Einheit, ihrer eigenen Bestimmung nach wirken. „Monaden haben keine Fenster“, sie leben, weben und sind aus sich selbst heraus die Fülle der Schöpfung Gottes. Der Allmächtige ist mithin die Urmonade, mit dem allergrößten Überblick. Alle anderen Monaden sind ihm, dem Schöpfer, zugeordnet in aufsteigender Intensität des Bewusstseins, vom toten Holz, das an einem namenlosen Strand irgendwo in China angespült wird, bis hin zum allseits vernünftigen Menschen, der zum Beispiel dem kriegslüsternen französischen Sonnenkönig rät, mit seinen Soldaten lieber nach Ägypten zu ziehen als den Kaiserdom in Speyer zu zerstören …

Weil jede Monade in ihrer Eigentümlichkeit zugleich in sich vollkommen ist, kann es mehr als eine Wahrheit geben. Leibniz hat sich daher für die Überwindung konfessioneller Mauern eingesetzt, manch evangelisch-katholisches oder auch (innerevangelisch) lutherisch-reformiertes Verständigungsgespräch angeregt, die Idee einer einheitlichen dogmenfreien christlichen Kirche im Sinn. Nachkriegszeiten sind ja durchaus Chancen für die Ökumene, nach 1945 war das auch so. Damals wie heute jedoch versandeten die hehren Ideen, wurden auch bekämpft oder lächerlich gemacht. Geistigem Sommer folgt immer wieder stumpfe Eiszeit, ABER: Die Stimmen heiteren Lebens und vitaler Frische verstummen nie so gänzlich. Zur dreihundertsten Wiederkehr des Sterbetages Leibnizens wäre es ja angesichts der in unserem Grundgesetz praeambiliter erinnerten Verantwortung vor Gott und den Menschen unter Umständen und ganz vielleicht angezeigt, dem „Sommer deiner Gnad“ wieder mal Bedeutung zuzugestehen – der wunderschönen hellen Zeit der Urmonade!

Halten wir das aus? Ist nicht „nichts schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen“? Neigt sich unser langer westeuropäischer Sommer nach über sieben Jahrzehnten einem herbstlichen Ende zu, überreif abfallend wie eine nicht rechtzeitig abgeerntete und daher verfaulte Birne? Oder ist noch Zeit, „ein Apfelbäumchen zu pflanzen“? Müssen wir uns winterfestes Zeug zulegen, ohne aber recht zu wissen, aus welchem Stoff das denn am besten bestehen könnte? Gibt es vielleicht doch mehrere Wege, um durchzukommen? „Alternativen“ zu den vorgeblichen „Alternativlosigkeiten“? Wie, wenn tatsächlich nicht die Zerstörungskraft von Atombomben, sondern die Annahme von Leibnizschen Monaden die Realität unseres Lebens besser erfassen könnte? Warum soll es nur eine Wahrheit geben können? Was, wenn am Ende doch die aus binärem Denken sich gottergebende Eindimensionalität der „Eins“, also der creatio, das überschaubare Maß aller irdischen Dinge ist? Und es sich erweist, besser vom nihil zu schweigen? Denn leben wir nicht eher in der Schöpfung als im Nichts?

Leibniz hat aus den Möglichkeiten der lebendig-bewussten Entfaltung seiner Monaden auf eine „beste aller Welten“ geschlossen. Nicht Hybris war also die Motivation zu solch steilem Wort, sondern: – Hoffnung. Mit weitem Herzen und offenen Augen und Ohren sowie mit hellwachen Sinnen … Es geht um innere Haltung, auch wenn die Sonne gerade einmal nicht scheint. Sogar im finsteren Sumpf der „Mitteleuropäischen Sommerzeit“, die uns morgens im Dunkeln tappen lässt, also selbst in solch frech verordnetem Eingriff in den Gang von Zeichen, Zeiten, Tagen und Jahren, muss sich niemand um den eigenen Verstand bringen lassen.

Und wenn das alles zusammenbrechen sollte – ja, dann bleibt immer noch der Traum vom Braunen Bären und der Weißen Taube, zu Wildpferden zu werden, frei von allen Konventionen. Manitu macht’s möglich, phantasievoll in einem schönen Märchen. Freilich ist diese Umwandlung irreversibel: Aber die beiden werden, nach einigen Wirren, glücklich miteinander. Schnee und Sonne und Eis, heiterer Beethoven und ernster Haydn, dazu Ger(n)hardt, Leibniz und Mozart, heilsamer Spott über Genderwahnsinn und Bargeldverschmutzung, stattdessen winterlich sportive Schlittschuhreisen und sommerlich kindliche Strandbadbutjereien… Beste Zeit, umsonst und draußen, kann kommen!

Zur Abbildung: Paul Gerhardts fünfzehnstrophiges Sommerlied erschien erstmals in der „Praxis pietatis melica“ des Berliner Nicolaikantors Johann Crüger im Jahre 1653. Im gegenwärtigen Evangelischen Gesangbuch findet es sich unter der Nummer 503.