Felix Mendelssohn zum Geburtstag

Eine Skizze

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde vor zweihundert und einem Dutzend Jahren am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren und wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Sein Großvater war der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Fanny und weiteren Geschwistern wurde der junge Felix nach der durch die napoleonische Besetzung erzwungenen Übersiedlung zu Verwandten nach Berlin dort ab 1811 sorgfältig erzogen. Die mozarthaften Wunderkinder erregten bald Aufsehen. 1816 ließen die Eltern sie evangelisch taufen. Reformatorisches Bekenntnis hat Mendelssohns tiefe Frömmigkeit zeit seines Lebens geprägt, bis zu seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren in Leipzig am 4. November 1847.

Abraham Mendelssohn hatte das nötige Kleingeld, seinen begabten Kindern viele Bildungs- und Konzertreisen durch halb Europa zu ermöglichen: in die Schweiz, nach Frankreich und Italien sowie nach England und Schottland. Felix Mendelssohn hat auch als Erwachsener auf den britischen Inseln seine größten künstlerischen Triumphe vor einer riesigen dankbaren Zuhörerschaft gefeiert. Die Reiseeindrücke flossen in Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ (darin unter vielen anderen Hits der weltberühmte „Hochzeitsmarsch“), die Hebriden-Ouvertüre oder die Schottische Sinfonie ein.

Die eigene musikaliensammelnde Verwandtschaft und der Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, machten Mendelssohn mit Bachs Matthäuspassion bekannt. Auch sonst ist allenthalben schon beim ganz jungen Komponisten eine intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel zu erkennen. Seine Wiederaufführung der „großen Passion“ des alten Thomaskantors im Jahre 1829 ist ein Meilenstein der musikalischen Wirkungsgeschichte. Mendelssohn hat damit, als gerade Zwanzigjähriger, etwas mehr als hundert Jahre, nachdem dieses Hauptwerk abendländischer Passionsmusik 1727 erstmals erklungen war, die öffentliche umfassende Bach-Renaissance eingeleitet; sie dauert an bis in unsere Tage.

Mendelssohn hat sich zeit seines kurzen glanzvollen Lebens stets für Kollegen seiner Zunft eingesetzt, indem er ihre Werke aufführte, nachempfand oder anderweitig bekanntmachte: Dazu zählten Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und auch Richard Wagner. Vergleichen wir etwa dessen Holländer-Ouvertüre mit der Einleitung zum Oratorium „Elias“, so merken wir, wie nahe sich der Leipziger Gewandhauskonzertdirektor und sein neidischer musikdramatischer Nachbar in Dresden manchmal waren.

Ganz bewusst komponierte Mendelssohn ein ausgesprochen musikhistorisches Moment in seine Werke ein. So klingt im Oratorium „Paulus“ Bachs Johannespassion nach. Der erste Satz seiner „Italienischen“ atmet Mozarts lichten Geist. Im „Lobgesang“, gezählt als zweite Symphonie, treten Chor und Vokalsolisten hinzu, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter.

Eigene unverwechselbare Zeichen hat Mendelssohn in der Klavier- und Orgelmusik gesetzt: Die „Lieder ohne Worte“ sind quasi seine Erfindung. Und die sechs Orgelsonaten markieren den Beginn einer romantischen Tradition, die vor allem im französischen Sprachraum bei César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne zu hoher Blüte gelangte.

Es gibt so gut wie keine musikalische Gattung, die von Mendelssohn unbeachtet blieb. Er ist einer der letzten Komponisten, die ganz universell dachten und schufen, in der Kirchenmusik wie im Opernfach, in Liedern wie in Solokonzerten, in Motetten, Kantaten, Oratorien, Chören (z.B. „O Täler weit, o Höhen“ oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“) Sinfonien, Schauspielmusiken, Streichquartetten und sonstigen kammermusikalischen Werken.

Die Fülle seines Schaffens erwuchs, ähnlich wie bei Mozart, aus einer gediegenen Allgemeinbildung, die vor allem einen entschiedenen Sinn für die jeweilige Form ausbildete. Was Kritiker meinten, als allzu „glatt“ bemängeln zu müssen, war tatsächlich immer neu hart erarbeitet. Mendelssohn strich, verwarf und korrigierte stets bis zur Drucklegung seiner Kompositionen – und oft noch darüber hinaus, sehr zum Leidwesen der Verleger.  Hierin ähnelte er seinem Kollegen Frédéric Chopin: Nie war er zufrieden.

Felix Mendelssohn, glücklich verheiratet mit der Tochter eines Hugenottenpredigers aus Frankfurt am Main und Vater vieler Kinder, galt zu Lebzeiten und noch viele Jahrzehnte danach als ein geniales Glückskind, das den öffentlichen Musikbetrieb im biedermeierlichen Deutschland schöpferisch und organisatorisch ungemein bereichert hatte. Kein Männerchor im wilhelminischen Zeitalter, der nicht seine Lieder sang; kein Bachverein, der nicht seine kirchenmusikalischen Werke aufführen wollte; kein Konzertpublikum, das nicht nach seinen Ouvertüren und Sinfonien verlangte.

Dass er kein Titan wie Beethoven, kein Grübler wie Brahms, kein Neutöner wie Liszt war – geschenkt. Verhängnisvoll sollte sich im Fortgang seiner Rezeptionsgeschichte allein der Umstand erweisen, dass er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Nazis kannten ja selbst dann keine Gnade, wenn die von ihnen Geächteten längst zum Christentum konvertiert waren – weil bei ihnen überhaupt gar kein Glaube zählte, sondern bloß dumpf das Blut. Das Mendelssohn-Fenster in der Leipziger Thomaskirche verarbeitet diese böse Fama sehr eindrücklich.

So wurde das beliebte e-Moll-Violinkonzert aus dem öffentlichen Musikbetrieb verdrängt, indem man Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert zu etablieren suchte: 1937 wurde dieses Stück, das im 19. Jahrhundert niemand aufführen wollte, erstmals dem Publikum dargeboten. Die Perfidie, noch post mortem Keile zu treiben zwischen Kollegen, die sich im wirklichen Leben geschätzt und unterstützt hatten, ist vielleicht nur ein kleiner Aspekt in dem sich damals schon manifestierenden Grauen der 1940er Jahre – aber eben einer unter unzähligen Schritten, die den aufrichtigen Geist einer zwar unpolitisch-vormärzlichen, aber in sich selbst zutiefst humanen Kultur niedergetrampelt und zertreten haben.

Mendelssohn hat es auch im Nachkriegsdeutschland schwer gehabt. Man traute dem stilistischen Alleskönner nicht recht über den Weg. Wer jedoch die feinsinnige Klangwelt mit durchaus aufbegehrenden Momenten etwa in der „Walpurgisnacht“ oder im c-Moll-„Sinfoniesatz“ zusammenhört, wird nicht umhinkönnen, in ihm einen europäischen Weltbürger zu entdecken, der die heutzutage so gern vollmundig betonte „Vielfalt“ nicht als propagandistisch aufgemotztes Neusprech übergriffig missbraucht, sondern leise und unausdrücklich, schlicht und einfach, gebildet und kunstreich: wirklich GELEBT hat.

Foto: Felix Mendelssohn: aus den „Sieben Charakterstücken“ Opus 7 (1827-1829)

Wort Gottes und Heilige Schrift

Wer sich von den für „zeitgemäß“ erachteten Forderungen, was „Kirche“ alles „muss“, einwickeln lässt, sollte nicht vergessen, wo eigentlich die Basis ist. Besinnt man sich auf diese Frage, dann landet man unweigerlich beim sogenannten Buch der Bücher, bei der Bibel, der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Um überhaupt auf dieses fürs christliche Selbstverständnis grundlegende Faktum bloß erst einmal hinzuweisen (nicht mehr und nicht weniger), gibt es hier nun Abschnitte zu lesen, die vielleicht am treffendsten als Sprechzettel zu bezeichnen wären.

Notizen haben etwas Apodiktisches. Sie sollen zu rhetorischen Höhenflügen führen. Zugleich dienen sie der eigenen Vergewisserung, was lexikalisch immer und jederzeit und überall abrufbar ist. Das gibt jeder Präsentation auch ohne Powerpoint und trotz allem Informationsgehalt zwar etwas Einseitiges und Beschränktes; zugleich kann solch ein Vortrag jedoch anregend wirken und zum Widerspruch reizen. Also:

Gott ist nur aus seinem Wort zu erkennen. Wir sehen ihn nicht, aber wir können ihn hören. Was die Propheten von ihm vernommen haben, ist aufgeschrieben im Alten Testament. „Höre des HERRN Wort“ ist häufig Einleitungsformel für eine prophetische Weisung. Diese Erkenntnis Gottes im biblischen Kanon ist schon in der Schöpfungsgeschichte vorausgesetzt: Auf das Wort Gottes hin wird alles geschaffen: „Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.“

Die Theologie Israels verstärkt nach Landnahme und Tempelbau diese Anschauung. Gott wird gepriesen in Liedern, die vor allem im Buch der Psalmen auf uns gekommen sind. Der singende Mensch im Gottesdienst antwortet in dieser Weise auf den klingenden Anspruch Gottes.

Wort Gottes und Heilige Schrift

Allmählich werden die prophetischen Aussprüche, die Erzählungen von Schöpfung, Vätergeschichten, Auszug aus Ägypten und Wüstenwanderung, Einzug ins Gelobte Land, Sesshaftwerdung, die Chroniken von Richtern und Königen, dazu Gesetzessammlungen, Weisheitssprüche, Lieder und Gebete zusammengetragen und im Kanon der Hebräischen Bibel geordnet. Die ersten fünf Bücher Mose gelten als „Thora“ („Weisung“); sie sind bis heute im Judentum der wichtigste Teil der Offenbarungen Gottes.

Im späten vorchristlichen Altertum wird der hebräische Text in die damalige Weltsprache Griechisch übersetzt. Dieses griechische Alte Testament wird „Septuaginta“ genannt, weil die Legende von siebzig Übersetzern berichtet, die unabhängig voneinander dem Herrscher in Alexandria wortgleiche griechische Textfassungen abliefern.

Nicht mehr einzelne Zitate gelten als Wort Gottes, sondern die Gesamtheit der schriftlichen Überlieferung vom Glauben an den Gott Israels firmiert als „Wort Gottes“. Damit ist die Heiligkeit des Wortlautes, ja des einzelnen Buchstabens gegeben. Der Gedanke der „Verbalinspiration“, dass also Gottes Geist Wort für Wort den Schreibern diktiert hat, kommt bereits im Judentum vor Christi Geburt auf.

In Ägypten unter den griechischsprechenden Juden sind noch weitere biblische Bücher im Umlauf, die man später „apokryph“ („verborgen“) nennt. Sie werden nicht in den hebräischen Kanon aufgenommen (z. B. Jesus Sirach, Tobias, 1. / 2. Makkabäer, Stücke zu Daniel).

Die ersten Christen leben mit der griechischen „Septuaginta“. Aus dieser Fassung der jüdischen Bibel zitieren die Evangelisten überwiegend. Der Gedanke der Jungfrauengeburt ist zum Beispiel der griechischen Übersetzung entnommen. Aus dem Gottesdienst der Synagoge übernehmen die Christen das Singen und Beten der Psalmen Davids. Im Umgang mit diesen Texten verstehen sie Kreuz und Auferstehung Jesu als „geweissagt durch Mose und die Propheten“.

In Anlehnung an die Messiasverheißungen des Alten Bundes entstehen im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt die Schriften des Neuen Testaments. Die Briefe des Apostels Paulus sind die ältesten erhaltenen schriftlichen Erzeugnisse des Urchristentums, entstanden zwischen 50 und 60 nach Christus. Unter den Evangelisten trägt als erster Markus um 70 n. Chr. Berichte und Worte Jesu im größeren Rahmen zusammen, darauf  bauen Matthäus (um 80) und Lukas (um 90) auf. Unabhängig von diesen schreibt Johannes (um 100) sein Evangelium. Der erste Satz „Im Anfang war das Wort“ erinnert an die Schöpfungsgeschichte: Das Wort Gottes hat Gestalt angenommen, es ist „Fleisch“ geworden, sein Name ist Jesus Christus.

Das Neue Testament ist von vornherein in der Umgangs- und Verkehrssprache des östlichen Teils des Römischen Reiches auf griechisch abgefasst. Schon sehr bald gibt es auch Übersetzungen in die koptische, armenische, georgische und lateinische Sprache. Nicht der einzelne Buchstabe ist „heilig“, sondern der Sinn der Worte: Es geht um die Botschaft von Jesus Christus, die bereits seit dem ersten Pfingstfest (Apostelgeschichte 2) vielsprachig und vielgestaltig ist.

Im Laufe des vierten Jahrhunderts entscheidet man endgültig, welche Schriften zum Kanon gehören und welche nicht. Bis dahin ist vieles im Fluss. Das betrifft vor allem die Offenbarung des Johannes, aber auch den Hebräerbrief und andere kleinere neutestamentliche Schriften. Ein Anstoß, überhaupt diese Frage zu klären, geht seit dem zweiten Jahrhundert von den sogenannten „Gnostikern“ aus, die radikal alles Jüdische aus dem Kanon verbannen wollen. Dagegen verwahrt sich die verfasste Kirche schließlich mit Erfolg.

Die Frage, wie die biblischen Texte unter den sich wandelnden Zeitumständen angemessen zu verstehen sind, führt schon in den ersten christlichen Jahrhunderten zu Auslegungen und Kommentaren durch Prediger, Bischöfe und Gelehrte, die sogenannten Apostolischen Väter und die Kirchenväter. Zunächst sind hier die griechischsprachigen Theologen federführend; ab dem dritten und vierten Jahrhundert verschiebt sich der theologische Schwerpunkt nach Westen in die lateinischsprachige Welt hinein.

Sind die griechischen Kirchenväter eher an philosophischen Fragen in ihrer Bibelauslegung interessiert – etwa in Hinsicht auf die Dreieinigkeit oder das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem in der Person Jesu Christi – , so beschäftigen sich lateinische Kirchenväter wie Ambrosius oder Augustinus mit Fragen der praktischen Lebensführung, der Stellung der Kirche in der Welt oder den Aufgaben von Staat und Gesellschaft.

Als Normalausgabe der Bibel gilt im Westen die lateinische Übersetzung des Hieronymus aus dem vierten Jahrhundert, auch wenn dies kirchenamtlich erst auf dem römisch-katholischen Konzil zu Trient (zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) bestätigt wird. Hieronymus ist für die folgenden tausend Jahre der letzte große Theologe, der das Alte Testament unter Zuhilfenahme des hebräischen Urtextes übersetzt.

Die vorreformatorischen deutschen Übersetzungen von Teilen der Bibel fußen auf dieser lateinischen Fassung des Hieronymus, der sogenannten „Vulgata“. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks werden hebräischer und griechischer Urtext wieder zugänglich. Luther hat seine Bibelübersetzung aus den Ursprachen erstellt.

Gegenüber dem amtskirchlichen Bibelverständnis (Schlüssel- und Lehramt des Apostels Petrus, siehe Matthäus 16 und 18) gibt es andere Zugänge. Besonders das Mönchtum der Wüstenväter (Antonius) und die großen Orden des Mittelalters (Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner) versuchen, ihre – andere – Art zu leben mit den „Evangelischen Räten“ bzw. mit der Bergpredigt zu begründen.

In diese Richtung gehen auch verschiedene vorreformatorische Volksbewegungen innerhalb der mittelalterlichen Kirche (so die Waldenser oder die Böhmische Brüder). Hier findet sich teilweise offener Widerspruch zur großkirchlichen Ordnung, hier werden erstmals Forderungen nach der Bibel in den Volkssprachen, nach jeglicher Absage an Waffengewalt (so das Verständnis von Matthäus 5) oder auch nach dem sogenannten Laienkelch („Trinket alle daraus“) laut.

Im Zeitalter der Reformation rückt die Frage nach dem „Kanon im Kanon“ in den Blickpunkt der Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der Bibel. Für Luther und seine Anhänger ist es die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben (Römer 1, 16f; 3, 21-28), die das spezifisch „Evangelische“, nämlich die Rettung vor dem Tod durch Christus den Gekreuzigten und Auferstandenen. Damit wird die Heilsautorität der Kirche radikal abgelehnt. Kirche wird als „Gemeinschaft der Heiligen“ im urchristlichen Sinne verstanden und mit den entsprechenden Bibelstellen begründet.

Gegen das typisch evangelische „Allein die Schrift“ (lateinisch: sola scriptura) setzt das römisch-katholische Konzil von Trient (Tridentinum) die Parole: „Schrift und Tradition“. Das meint: In den dogmatischen Entscheidungen der Konzilien sowie des Bischofs von Rom, also des Papstes, wird eigentlich nur dasjenige weiter ausgeführt und erläutert, was auf der Grundlage der Heiligen Schrift sowieso „von allen zu allen Zeiten an allen Orten“ (Vinzenz von Lerinum, fünftes Jahrhundert) geglaubt worden ist. Dagegen sagen die Protestanten: Auch Konzilien können irren. Die Auslegung der Bibel erfordert eigenes Nachforschen und Nachdenken. Darum ist den reformatorischen Kirchen seit jeher so viel an Bibelübersetzungen in die jeweilige Volkssprache gelegen.

Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts beginnt die historisch-kritische Erforschung der biblischen Bücher. Von relativ einfachen Feststellungen (etwa: Die fünf Bücher Mose können nicht von Mose selbst geschrieben worden sein, weil an deren Ende von seinem Tod berichtet wird) bis hin zu komplizierten Theorien über unterschiedliche Spruch- und Schriftquellen (vor allem in den Evangelien die Frage: Was an Aussprüchen stammt vom „historischen Jesus“ und was ist spätere Gemeindebildung?) spannt sich bis heute der Bogen biblischer Auslegung.

Gegen die Intellektualisierung des Umgangs mit der Bibel in historischer Forschung und in der Dogmatik auch der altprotestantischen Geisteshaltung entstehen  seit dem siebzehnten Jahrhundert erweckliche Bewegungen. Für sie ist wichtig, dass das Wort Gottes, wie es im biblischen Wortlaut sich darbietet, direkt zum Herzen des einzelnen spricht. Beispiele: Herrnhuter Brüdergemeine; Täufergemeinden (woraus später die Baptisten hervorgehen); pietistische Hauskreise & cetera. Bei den Methodisten wird das persönliche Bekehrungserlebnis wichtig.

In der heutigen Zeit gibt es im deutschsprachigen Raum keine grundlegenden Unterschiede mehr zwischen evangelischer und katholischer Auslegung der Heiligen Schrift. Einerseits sind die Protestanten vorsichtiger geworden, ob die Rechtfertigungslehre tatsächlich das Herzstück biblischer Verkündigung ist; andererseits haben Katholiken längst akzeptiert, dass die biblischen Erzählungen nicht einfach sagen wollen, wie es damals zur Zeit Jesu war, sondern vieles von ihrer eigenen Gemeindesituation in die Geschichten eintragen. Zudem ist allgemein anerkannt, dass die Menschen zur biblischen Zeit ein ganz anderes Weltbild hatten als wir, die wir im Zeichen der Kopernikanischen Wende seit bald fünf Jahrhunderten leben (müssen).

Dieser exegetische Konsens wird jüngst wieder in Frage gestellt. Nicht nur Ratzingers Jesus-Bücher, sondern auch Anregungen gesellschaftspolitischer, religionskundlicher, archäologischer, historischbesserinformierter, jüdischchristlichdialogischer, feministischer, gendergerechter oder umweltbewusster Zeitgenossen lassen die „Klassiker“ der protestantischen Bibelauslegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, namentlich geprägt durch Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack, Karl Barth und Rudolf Bultmann samt ihren Schülerinnen und Schülern, mittlerweile schon wieder alt aussehen.

Die Frage erneuert sich mit den Zeitläuften, inwiefern dogmatisch-erhabene und zugleich exegetisch-detaillierte Beschäftigung mit der Bibel das Wort Gottes stets bezeugt. Solange diese Welt so unvollkommen daherkommt, wie sie nun einmal ist, wird sie deshalb ohne philologisch und hermeneutisch geschulte Theologieversuche schwerlich auskommen.

Abbildung: Beginn von Psalm 1 in der Hebräischen Bibel.

 

 

 

 

 

 

Hieronymus Wolf

Wenn Martin Luther eine Reise antreten wollte, musste er sich zunächst eines lästigen Brauchtums erwehren: Philipp Melanchthon pflegte seinem Freund nämlich in bester Absicht stets gern ein Horoskop zu erstellen, berechnete sorgsam die Konstellationen der Himmelskörper, um daraus dann einen günstigen Abreisetermin festzusetzen und überhaupt Verlauf wie Ziel der Unternehmung unter einem guten Stern zu wissen. Dem Reformator aber waren solche Künste derart zuwider, dass er sich nicht scheute, des Magisters Bemühungen, bei aller Liebe, heftig zu beschmunzeln.

Humanistische Spökenkiekerei versus biblisches Vertrauen: Für Luther war es vernünftiger, mal im Notfall und ganz spontan mit dem Tintenfass den Widersacher zu beschmeißen, als ausziseliert und methodisch zähflüssig-lebenslänglich sich an eine Wissenschaftlichkeit zu binden, die ja doch nur Stückwerk sein konnte … Wenn Gott will, dann wird es gut. Und wenn nach eigenen Begriffen etwas scheitert, dann mag auch dies für etwas „gut“ sein. Luther verstand seine Humanisten wahrscheinlich besser, als die sich selbst verstanden hatten. Er lebte drauflos, wo ängstliche Gemüter lieber langatmige Sitzungen anberaumten, durchführten und am Ende ebenso nichtsnutzig wie „ergebnisoffen“ auseinanderfließen sahen.

Aber – aufgepasst: Das Luthersche wurde eben längst nicht immer das Lutherische! Die impulsive Persönlichkeit Luthers hat (und in anderen Fällen können wir sagen: glücklicherweise) nicht unmittelbar auf die Kultur der lutherischen Kirche und ihre Traditionsbildung durchgeschlagen. Da war im Zweifel der liebe Magister Philippus vor. Es steht zu hoffen, dass im laufenden 500-Jahres-Jubiläum der Wittenberger Reformation auch einmal diese Dinge zur Sprache kommen … Nicht alles, was unter dem kirchlich „Lutherischen“ firmiert, ist auf Luthersches zurückzuführen, und andersherum gilt: Luther ist der seinen Namen tragenden Kirchenformation immer wieder im Laufe der Geschichte Stein des Anstoßes sowie der anregenden Aufregung geworden. Stromlinienförmig geht – gottlob – anders.

Eine sklavische Gefolgschaft im Sinne eines sozusagen „lutheristischen“ Personenkultes hat es also nie gegeben. Der Begriff „lutherisch“ leitet sich eher von den „Lutheranern“ her und müsste eigentlich „lutheranisch“ heißen, nämlich in Hinsicht auf die theologisch durchgebildeten Anhänger der Wittenberger Kirchenerneuerung. Die vom zwischenzeitlich wartburgerfahrenen Junker Jörg selbst abgelehnte Bezeichnung impliziert gerade nicht individuell Biographisches wie Lutherbier, federkielschwingende Playmobilfigur oder gar Anhängsel vom „Herrn Käthe“ – von Düsseldorfer Luderlümmeltüten ganz zu schweigen. Ob sich und uns die leitenden Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Gefallen getan haben, als sie seinerzeit eine „Lutherdekade“ ausriefen statt ein Jahrzehnt zur Wittenberger Reformation, sei deshalb dahingestellt.

Der Aberglaube eines Melanchthon machte nun aber unabhängig von solchen semantischen Erwägungen buchstäblich Schule oder fiel zumindest bei manchen Studenten auf bereits zuvor familiär verdunkelt bereiteten Boden: Einer der Vorlesungshörer des hochberühmten Gräzisten an der neugegründeten Universität zu Wittenberg war nämlich in den 1530er Jahren ein gewisser Hieronymus Wolf. Wer den Namen hier das erste Mal liest, den sollte kein intellektuelles Mangelempfinden beschleichen: Man muss diesen Herrn nicht kennen; er geht gänzlich in seinem wissenschaftlichen Werk auf. Aber indem er einen kulturgeschichtlichen Begriff erfand, hat er unser speziell abendländisches Bewusstsein vielleicht mehr geprägt, als uns landläufig bewusst ist.

Stubengelehrter entdeckt eine versunkene neue Welt

Vor über fünfhundert Jahren, am 13. August 1516, wurde er in Oettingen am Ries geboren und wuchs in Nürnberg und Nördlingen auf, unter seelisch belastenden Umständen. Seine Mutter verfiel dem Wahnsinn, da war der Sohn noch ein Kleinkind. Der Vater starb infolge eines Unfalls, was den Zwanzigjährigen bewog, pflichtbewusst die Vormundschaft für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Aber immer wieder versuchte er sich auch, schon im Kindesalter auffällig geworden durch außergewöhnliches Interesse an Geschichte, Philologie und Philosophie – dementsprechend gefördert von wohlmeinenden Lehrern – , als Weltbürger: in Paris, Basel und vor allem dann viele Jahre im fuggerischen Augsburg. Im Oktober 1580 ist er in der Reichstagsstadt gestorben, ledig und ohne leibliche Nachkommen.

Keinem der Ausflüge in die große weite Welt war längere Dauer beschieden: Misstrauen und Aberglaube ließen ihn aus allen Orten schnell wieder entweichen; unstet und flüchtig brachte er seine Tage zu, weil er überall Mordanschläge witterte in Form von vergiftetem Essen oder sonstigen tödlichen Verhexungen. Depressionen wechselten ab mit enorm zuversichtlichen Schaffensphasen; dem eben noch niedergeschlagenen Gemüt folgten hochgestimmte Entdeckerfreuden, vor allem in seinem höchstpersönlichen Bereich, dem von ihm überhaupt erst als solchen benannten Kosmos der byzantinischen Geschichte und Kultur.

Wie so viele Experten auf ihrem Gebiet, so hat auch Hieronymus Wolf niemals einen Ort aufsuchen können, der mit seinem Forschungsgegenstand nur annähernd in Verbindung gestanden hätte. Aber das war im humanistischen Selbstverständnis der Zeit auch gar nicht nötig: Von Bildungsreisen wie später im siebzehnten, achtzehnten oder gar neunzehnten Jahrhundert konnte der Normalbürger im Cinquecento nördlich der Alpen nur träumen. Bestenfalls kannte man jemanden, der gereist war und von seinen Erlebnissen erzählte. Vielleicht ließen sich interessierende schriftliche Überlieferungen aufspüren, ausleihen und lesen, gar käuflich erwerben und übersetzen. Wolf war ein ausgesprochener Bücherwurm, und seitdem er beim kunstsinnigen Jakob Fugger als Bibliothekar fungierte, standen ihm entsprechende pekuniäre Mittel zur Verfügung, Literatur anzuschaffen.

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Nun waren Studienreisen gen Anatolien damals sowieso äußerst selten. Noch keine hundert Jahre waren verflossen, dass Konstantinopel am 29. Mai 1453 von den Osmanen erobert worden war. Wahn und Wirklichkeit, Aberglaube und Orthodoxie stritten im Abendland seitdem heftig widereinander, wenn es um die kritische Bewertung und geistesgeschichtliche Einordnung dieses epochalen Ereignisses ging. Hieronymus Wolf hatte indes Bekanntschaft geschlossen mit einem Lebemann, der tatsächlich ins türkische Reich gereist und von dort mit geistlichen Schriften orthodoxer Mönche zurückgekehrt war. Fortan beschäftigte sich Wolf mit deren ihm ungewohnten Kirchen-Küchen-Griechisch, das er als Zeugnis einer eigenständigen „byzantinischen“ Kultur ansah und dementsprechend bezeichnete.

Ein Reich? Zwei Kaiser? Drei Kirchen?

Im Wolfschen Kunstwort „Byzanz“ und seinem Adjektiv steckt für jeden historisch informierten Fürsprecher des christlichen Reiches mit seiner Hauptstadt am Bosporus die befremdliche These, es habe ein „oströmisches“ Reich gegeben im Gegensatz zum im Jahre 476 untergegangenen „weströmischen“. Ein kaisertreuer Bürger hätte stets gesagt, dass seit der Umgestaltung des kleinen Hafenortes Byzantium in die prächtige Stadt Nea Roma (Neu-Rom) durch Kaiser Konstantin (bis zum Jahr 330) ebendort die alleinige Hauptstadt des Orbis Romanus zu suchen und zu finden gewesen sei. Noch nicht einmal kann aus dieser Sicht gesagt werden, dafür sei das bisherige Rom am Tiber durch die sogenannte „Konstantinsche Schenkung“ Besitz des dortigen Bischofs geworden (der sich später als „Papst“ und gar „Stellvertreter Christi auf Erden“ verstand) …; denn ALLES war ja im Neuen Rom beheimatet!

Von der Konstantin-Stadt: Constantinopolis = Konstantinopel: regierte der eine Kaiser weiterhin das eine Römische Imperium, wenngleich die Amtsstubensprache im neunten Jahrhundert vom Lateinischen ins Griechische wechselte und die mentalen Unterschiede zwischen dem lateinischsprachigen Westen und dem griechischsprachigen Osten schon immer groß waren … Doch selbst nach dem Schisma des Jahres 1054, als die kirchlichen Gegner ihre jeweiligen Verfluchungserklärungen auf dem Altar der Hagia Sophia niederlegten, galt doch in weltlicher Hinsicht der Anspruch der einzig verbliebenen Cäsaren auch über die Gebiete im durch die Völkerwanderung verlorenen Westen.

Das Bewusstsein der Reichsbürger war also ein ungebrochen römisches, nicht ein zweit- oder oströmisches. Man hielt sich als echter Römer, gräzisiert zu Rhomäer, zur Metropole und ging „in DIE Stadt“, eis teen polin, aus welcher Redewendung dann später der Name Istanbul wurde. Die griechische Umgangssprache bot die Folie für den heutigen türkischen Namen der neuen urbs, jenes Zentrums, das gleich seinem Vorbild in Latium auf sieben Hügeln und beileibe nicht an einem Tag erbaut wurde. Hony soit, qui mal y pense.

Kompliziert wurde alles erst, als sich am Weihnachtstag des Jahres 800 ein fränkischer König in Rom am Tiber durch den dortigen Bischof zum Imperator krönen ließ. Die seither sogenannte „Zweikaiserproblematik“ ist also aufs engste mit der Person Karls des Großen verbunden. Die Karolingische Renaissance, so segensreich sie für den Aufschwung der Bildung in Westeuropa war, wurde im Osten als Konkurrenzunternehmen angesehen. Erstes Mittel zur Neutralisierung: Konstantinopel schenkte Aachen ein Organum, womit die Orgel als Königin der Instrumente Einzug in die abendländische Kirche hielt.

In der Ottonischen Zeit, also um die erste christliche Jahrtausendwende, suchte man den Unterschied zu überspielen, indem Kaiser Otto II. eine Armenierin heiratete: Mit Kaiserin Theophanu kam das Griechentum nach Germanien, und der gemeinsame Sohn, später Kaiser Otto III., sollte die Verbindung ganz leiblich ins Werk setzen. Mit dessen frühem Tod aber fiel diese Idee der Vergessenheit anheim. Konstantinopel, die größte Stadt der Christenheit, befand sich aus der Sicht der fränkisch-ottonisch geprägten abendländischen und von dort ausgehend mittelalterlichen Gesellschaft am Rande der Zivilisation, während diese selbst sich berechtigterweise am Ort der Kirche zur Heiligen Weisheit durchaus im Zentrum sitzend empfand.

Doppeldeutigkeiten, wohin man blickt: Lange vor der Katastrophe des Jahres 1204, als venezianische Kreuzfahrer Konstantinopel eroberten und ausplünderten, kursierte der Begriff „die Franken“ als Schimpfwort, besonders unter den sich für rechtgläubig – orthodox – haltenden Theologen. Denn bereits im sechsten Jahrhundert hatten spanische Denker das Filioque in die gelehrte kirchliche Debatte geworfen, und die fränkischen Reichssynoden des beginnenden neunten Jahrhunderts machten sich diesen Zusatz im Nicaenoconstantinopolitanum zueigen. Dass der Heilige Geist vom Vater und dem Sohn gleichermaßen ausgehe, wurde im Neuen Rom nicht aus (theo)logischen, sondern aus traditionellen Gründen rundweg bestritten – man wollte sich strikt an den Wortlaut des Zweiten Ökumenischen Konzils aus dem Jahre 381 halten …

In diesem Sinne fanden dann Verzückungen am „Nabel der Welt“ statt: Kaiser Justinian konnte nicht an sich halten, als die von ihm erdachte Sophienkirche, prächtigstes und größtes christliches Gotteshaus für die weiteren über neunhundert Jahre, in seinem Beisein Anno Domini  537 eingeweiht wurde –  aber Kemal Mustafa Pascha konnte es im Jahre 1934 auch nicht lassen, pathetisch zu werden: Hier, wo sich einst zwei Konfessionen trennten, würden nunmehr zwei Religionen zusammengeführt; er meinte zum einen die zerstrittenen Kirchen von 1054 und zum anderen die Christen und Muslime seiner Zeit: Heraus kam bekanntlich ein – Museum: Im gedenkverliebten zwanzigsten Jahrhundert offensichtlich die einzige Option, historische Gegensätze friedlich zu überbrücken.

Innerhalb der Christenheit aber hatte sich mittlerweile eine dritte Kirchenfamilie herausgebildet. Zum 450. Geburtstag Martin Luthers wurden 1933 im gerade nationalsozialistisch machtergriffenen Deutschen Reich etliche diesbezügliche Feiern zelebriert, mehr dem neuen „Führer“ zu Ehren denn dem Jubilar… – während auch das Dritte Rom zur gleichen Zeit sich anschickte, den überlieferten sogenannten Byzantinismus in einen knallharten Personenkult umzufunktionieren. So, wie in San Vitale zu Ravenna das römische Kaiserpaar Justinian und Theodora streng in Form kunstvoller Mosaiken auf die versammelte Gottesdienstgemeinde blickt, ohne dass Charlemagne eine Chance gehabt hätte, auch sich selber musivisch in seiner nach ravennatischen Vorbildern errichteten Öcher Pfalzkapelle zu implementieren, – so falschverstanden und übergriffig wollte der entlaufene georgische Theologiestudent Stalin sich an die Stelle von Christus setzen. Diesen pervertierten Messianismus hat sich Hitler ebenso zueigen gemacht – vollkommen ungermanisch und natürlich auch überhaupt nicht griechisch.

Folgende Stichwörter bleiben hier und heute unbearbeitet, aber anregend weiterwirkend, vielleicht sogar für zukünftig zu Schreibendes: Ikonoklasmus; Nizäa und Bursa; Rom – Konstantinopel – Moskau; Griechen und Türken, Slawen und Araber, Europäer und Asiaten; Hannoversch Münden, Ravenna, Byzanz; Jesus-Moschee, Marien-Kirche, Nikolaus-Basilika; „Lebt im Kemalismus das religiös indifferente Volk der unarabisierten Altai-Türken weiter?“; Islamische Blütezeit – eine Adaption rhomäischer Kultur?

Erhofftes subversives Byzanz

Es gibt ein Dokument, das einen direkten Anbandelungsversuch der lutherischen zur orthodoxen Kirche belegt, und zwar das Augsburger Bekenntnis in griechischer Übersetzung. Kein Geringerer als Philipp Melanchthon hat diese Fassung hergestellt. Die deutsche und lateinische Version, die nebeneinander zum Reichstag 1530 vorlagen, genügten bekanntlich keineswegs, dem deutschen König und römischen Kaiser Karl V. nur irgendein wie auch immer geartetes Verständnis zu entlocken. Papistische Confutatio und wiederum allumfassend-kirchlich („katholisch“) gemeinte evangelische Apologie folgten im nicht endenwollenden Glaubenskonflikt in deutschen Landen.

Da spitzte der Gräzist aus Wittenberg seine feine Feder und schickte eine Confessio Augustana graeca an den Patriarchen von Konstantinopel. Er erhielt niemals eine Antwort. Wahrscheinlich war dem christlichen Bischof in Istanbul der gesamte Streitgegenstand theologisch völlig fremd. Und vor allem wird die Kirchenbehörde in der Hauptstadt des nunmehr muslimischen Kaisers wenig Interesse daran gehabt haben, die ohnehin schwierigen Beziehungen zum Sultan noch mit einem innerkirchlichen und nach außen hin vor Ort völlig unverständlich-unvermittelbaren Streit zu belasten.

Melanchthon mag sich ideelle Unterstützung durch jene Kirche erhofft haben, die den Römerbrief des Apostels Paulus in dessen Originalsprache gottesdienstlich zu verlesen imstande war. Rechtes Schriftverständnis aus biblischem Ursprung heraus hätte dann wundervolle Argumente gegen die Papstkirche liefern können. Und, wer weiß? – Hieronymus Wolf wäre womöglich von seinem bisweilen abergläubischen Professor mental hinübergewechselt zu einem geerdeten lutherischen Mann, ganz ohne Angst vor Spinnen und womöglich auch ohne Respekt vor devotem „Byzantinismus“. Doch DAS ist natürlich reine Spekulation.

Foto: Hagia Sophia in Konstantinopel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Luthers Panzerknackerbande

Im Dunkeln ist gut munkeln – der größte Coup gelang den Verbrechern, als sie nachts in eine Bank eindrangen, den Tresor aufbrachen und einen dicken Batzen baren Geldes erbeuteten. Anführer der Truppe war ein tagsüber völlig unauffälliger Zeitgenosse, der vorbildlich sein Pfarramt versah.

Mein Pastor legte uns Konfirmanden diesen von vorn bis hinten vollkommen und zugleich gut erfundenen Fall vor – und wir Heranwachsenden sollten nun die knifflige Frage beantworten, ob einer, der ebenso unerkannt wie ungeahndet eine Straftat begangen habe, noch würdig sei, sonntags von der Kanzel her das Evangelium zu verkünden.

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Wir fanden dieses uns vor Augen gemalte Verhalten natürlich völlig daneben und drückten uns auch in diesem Sinne aus: Ein Geistlicher müsse doch in allen Dingen untadelig, rein und propper sein. Umso erstaunter waren wir, als unser lieber Pfarrer uns daraufhin ganz ruhig erklärte, dass kein noch so heftiger Banküberfall oder ein sonstiger Bruch diesen Bandenchef, sofern und solange er persönlich keine Gewissensbisse verspüre, vom Predigtamt würde abhalten können. Völlig unerheblich, was ein zum Dienst Berufener nächtens so alles anstelle – Hauptsache, er rede und handele in der lichten Öffentlichkeit gemäß seinem Ordinationsversprechen.

Die Spur zu solch inkommensurabler Meinung führt schnurstracks nach – Wittenberg! Für den Bibelprofessor Martin Luther ist stets das Evangelium maßgeblich, und zwar ohne Ansehen der Person. Im Jahr 1522 schreibt der Reformator in einer seiner Vorreden zu den neutestamentlichen Schriften: „Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenns gleich Petrus oder Paulus lehret; umgekehrt, was Christum predigt, das ist apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte.“

Was gilt, ist demnach nicht abhängig von den Lebensumständen einer wie auch immer bedauernswerten vereinzelten Kreatur, die zufällig sich unter je situationsbedingten Umständen äußert. Sogar wer von Amts wegen ein Gesandter Christi ist, kann abirren und die ihm aufgetragene Botschaft gerade nicht predigen, wäre er auch, mit dem Galaterbrief des Apostels Paulus zu sprechen, „ein Engel vom Himmel“. Andererseits kann es sogar den erklärten Gegnern wie den heimlichen Verächtern des Wortes Gottes quasi unterlaufen, dass sie sozusagen versehentlich ausrichten, „was Christum treibet“.

Dem Verräter, dem verbohrten Hohenpriester, dem machtversessenen römischen Statthalter oder dem tausendfachen bethlehemitischen Kindermörder ist also zumindest theoretisch die Möglichkeit zugestanden, Wahrheit zu sagen. In aller verbrecherischer Verstrickung bleibt auch dem Bösesten und Verblendetsten somit potentiell die Option der Besserung. Vor allem aber ist es eben insgesamt nicht entscheidend, wer genau die Frohe Botschaft ausspricht. Wenn sie überhaupt nur erklingt, dann ist die Welt -noch- nicht völlig verloren!

Warum denke ich derzeit öfter an diese Konfirmandenstunde zurück? Vielleicht deswegen, weil mich etwas stört, was in heutigem Diskurs denselbigen mehr und mehr unmöglich macht. Mein Unbehagen hängt sich exemplarisch am eigentlich gutgemeinten Begriff der „Glaubwürdigkeit“ fest. Ich sehe nämlich nicht, dass diese Vokabel einen überzogenen Moralismus verhindern würde. Im Gegenteil. Gucken wir genauer hin.

Glaubwürdig zu sein ist zunächst einmal etwas Schönes. Es erfreut die mitmenschliche Umwelt und lässt denjenigen, dem diese hohe Eigenschaft zugesprochen wird, zufrieden und ruhig schlafen. In den allermeisten Fällen wird solch ein Eindruck nicht in Kenntnis der persönlichen Gesamtheit entstehen, sondern durch einen bestimmten Wirkbereich, in dem sich der als glaubwürdig Empfundene besonders hervortut. Ein Lehrer, der seine Fächer mit Hingabe vertritt, für die Sache brennt, kommt bei seinen Schülern entsprechend gut an. Eine Volksvertreterin, die engagiert zu reden versteht, hinterlässt bleibenden Eindruck. Und wer auf einem Musikinstrument sein Publikum zu fesseln weiß, so dass man meint, hier verschmelze Absicht und Tun zum Ziele höherer Erkenntnis, wird nachgerade verehrt – weil eine Ahnung von Wahrhaftigkeit freigesetzt ist.

Schule, Parlament oder Konzertsaal müssen jedoch oft auch als Orte menschlicher Unzulänglichkeit herhalten. Dann werden womöglich Frauengeschichten eines Oberstudienrates hervorgezerrt, korruptionsverdächtige Vergangenheiten einer Politikerin genüsslich breitgetreten oder Drogenerfahrungen eines musikalischen Genies kolportiert. Gern kratzt man so – nicht völlig uneigennützig – an der „Glaubwürdigkeit“ der inkriminierten Personen. Sei es, dass die eigene Unfehlbarkeit herausgestellt werden soll, sei es, weil zu erwarten steht, dass ganz viel Geld im Kasten klingt.

Und es stellen sich Fragen über diese Beispiele hinaus. Sollte man etwa überhaupt fürderhin Filme von Polanski gutfinden oder Sonaten von Rosenmüller aufführen? Könnte man nicht durchaus die Wulff-Geschichte als lächerlich abtun gleich einer modernen Dreyfus-Affaire? Darf man an Jim Morrison sein Herz erwärmen oder gar die Madrigale des Fürsten Gesualdo da Venosa noch mit Begeisterung singen?

Ja, man sollte, könnte und darf. Man muss vielleicht sogar, steht doch immerhin die –  neudeutsch attributierte – „wertgeschätzte“ Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Wir müssen sie besser verstehen, als sie von ihren selbsternannten Predigern verstanden wird. Um es kurz zu machen: Es ist ungeheuer anstrengend, in allen erdenklichen verwinkelten Bereichen des Lebens stets vorbildlich sein zu wollen geschweige denn zu sollen. Eigener wie fremder Anspruch stößt da schnell an natürliche Grenzen. Dies ist ein Warnzeichen, tunlichst zu vermeiden, auch nur im entferntesten sich zu vermessen in einem holistisch rigiden „Wir schaffen das“.

Es war segensreich, dass der Mönch von Wittenberg einst seine Ablassthesen vortrug. Und dann nicht durch Kneifen entfiel – sondern weder Sünde, Tod noch Teufel scheute, dem Menschlichen neuen Raum zu verschaffen. Die bleibende „Leistung“ der Reformation liegt in ihrer theologisch reflektierten Anthropologie, schön angemessen musikalisch und anderweitig künstlerisch untermalt. Bilderstürmerei hatte hier gottlob keinen Platz. Bürgersinn und Mäzenatentum konnten sich in genau jener Weise der lutherischen Kirche widmen, wie sie es vordem den nunmehr Altgläubigen hatten zuteil werden lassen. Nicht radikaler Bruch in einer Bekehrung aus dem Nichts heraus hin zu vermeintlicher Vollkommenheit macht die geschichtliche Wirkung des Vorabends von Allerheiligen 1517 aus, sondern Kontinuität mit einer biblisch-kirchlichen Verkündigung, die schon immer das Sünder-Dasein des Menschen in barmherziger Absicht in den Mittelpunkt stellte.

Vielfach wurde dieser Impuls vergessen. Wie auch die Unterscheidung von Amt und Person aus der Mode kam. In dieser fatalen Logik wird der kleinste Schuldner sein ganzes irdisches Leben lang unbrauchbar selbst für den Posten eines lokalen Sportvereinsvorsitzenden. Denn lassen wir im Zeitalter allumfassender Durchleuchtung auch zwanzig Jahre ins Land gehen – dann noch wird es Leute geben, die auf vergangene „Sünden“ pochen und also dem seinerzeit einmal Fehlgetretenen keine neuen Möglichkeiten einräumen werden. Nachtragend, nachtretend, unbarmherzig nennt das ein an der Reformation geschulter Mensch …

Ohne Rücksicht auf Verluste: Wer ein absolutes Monopol aufs Gutsein und Rechthabenwollen beansprucht, geht buchstäblich über Leichen –  und spielt zugleich „Gott“, nimmt dessen Jüngstes Gericht vorweg. Wir sehen das heutzutage beim sogenannten Islamischen Staat, unter dessen Terror alle als „ungläubig“ bezeichneten Menschen mitsamt ihren Lebenszeugnissen aus Geschichte und Gegenwart gnadenlos ausgelöscht werden. Der sich hier enthemmende bestialische Furor hat seine Vorläufer freilich in Europa. Stichworte: Cluny 1810, Guernica 1936, Montecassino 1944, Dresden 1945, Hildesheim 1945. Und darüber hinaus sehen wir von Karthago über Jerusalem und Hiroshima bösartige – ebenso antike wie neuzeitliche – Wegmarken zu den Zerstörungen von Nimrud, Ninive, Ur, Babylon und Palmyra in unseren Tagen.

Aber, gesetzt den Fall: Es kommen die napoleonisch infizierten Steinebrecher von Cluny mit dem Heer von Bomberpiloten gen Guernica, Montecassino, Dresden, Hildesheim, Hiroshima – zusamt den Kämpfern vor Karthago und Jerusalem sowie jene gegen die Wiege der hochkulturellen Menschheit in Mesopotamien – und gestehen ein, dass sie einem schrecklichen Irrtum aufsaßen … Auch Polanski (hetero) und Rosenmüller (schwul) schwören ihren ungezügelten Geschichten ab, Wulff (700-Euro-Verbrecher, also der Allerschlimmste), Morrison (alle schmutzigen Sachen der sechziger Jahre) und sogar Gesualdo (strafrechtlich unverfolgter Ehrenmörder, weil adlig) haben ein Einsehen in eigenes Versagen …

Tatsächlich sind die wirklich Bösen in dieser Reihe bisher nicht abgeurteilt. Nur wer zum Beispiel auf dem ehemaligen Bundespräsidenten „erfolgreich“ herumgehackt hat, wird das womöglich anders sehen. Und im übrigen, mit Bert Brecht gefragt: Was ist ein Überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank??? Wecken nicht die Panzerknacker insgeheim Sympathien? Zumal seit dem Jahre 1951, als sie erstmals im Disney-Universum erschienen? Fünfundsechzig Jahre ist das jetzt her, und wir sollten ihnen nunmehr, wie jedem deutschen RAF-Terroristen auch, einen Ruhestand gönnen.

Wo bleibt da „Glaubwürdigkeit“? Sie ist eine Chimäre, wie sie es zu allen Zeiten war. Es sei denn, sie wendet sich einer Person so zu, dass deren Widersprüche ebenso handfest benannt wie verziehen werden. Auch die wüsteste Verbrecherin muss ja weiterleben können. Ja, nicht nur „der Dieb“, sondern auch „die Diebin“ – das wissen wir seit den neunziger Jahren, als die Bände vom „Wörterbuch des Gutmenschen“ erschienen, welche die Augen dafür öffneten, dass die geschlechtliche Gleichberechtigung auch negative Bereiche einschließt.

Die Gier der – rein männlichen – Panzerknackerbande nach barem Geld wirkt überdies ja mittlerweile auch ansonsten antiquiert. Die Entenhausener Diebe haben nämlich bisher keine Angst haben müssen vor dem Verbot goldmetallischen Badezusatzes seines geizigen Besitzers. Wenn hingegen ich im Supermarkt an der Kasse stehe und unverhältnismäßig lange warten muss, dann liegt das an den vorderen Kunden, die unbedingt „mit Karte“ zahlen wollen. Irgendetwas klappt dann regelmäßig nicht, sei es die Eingabe der Geheimzahl oder der elektronische Mechanismus insgesamt … Dann denke – jaha, DENKE ich: Hm… Onkel Dagoberts Tresor ist von vorgestern. Wie ich selber und mein  geliebter, längst verstorbener Konfirmationspastor. Leider.

Zum Foto: Licht im Dunkeln – Technik, die begeistert …