Rheingold, Scheingold, Maingold

2023 hält wieder einige Fest- und Gedenkgelegenheiten bereit. Dass Grundlagen einbrechen können wie nicht mehr tragfähiges Eis, wäre uns vor fünfzig Jahren, in den ersten goldenen 1973er-Monaten, unvorstellbar erschienen.

Mit der erstmaligen Ausstrahlung der „Sesamstraße“ durch mehrere westdeutsche Fernsehanstalten zog ein unbeschwerter Optimismus auch bei den jüngsten Bundesbürgern ein. Obwohl es sich um eine TV-Serie „für Kinder im Vorschulalter“ handelte, waren auch ABC-Schützen und deren Eltern von Ernie, Bert & Co begeistert. Gern ließen wir, die wohlstandsverwöhnten Deutschen, uns generationsübergreifend auf humorvolle amerikanische Art unterhalten und ehrten das Krümelmonster insgeheim mit dem Orden vom Goldenen Keks.

1973 wurde dann nach trittsicherem Beginn aber auch zum Jahr des Ölpreisschocks. Auf den Jom-Kippur-Krieg im Oktober reagierten die arabischen Staaten mit massiven Preiserhöhungen für das Schwarze Gold, was hierzulande zu Sparappellen, Sonntagsfahrverboten und in der Folge zum Bau vieler neuer Atomkraftwerke führte. Man wollte sich befreien von einseitigen Abhängigkeiten. Die güldne Sonne und der Wind, der weht, wo er will, waren damals noch nicht im Gespräch.

Wer 2023 zurückblickt in die große weite und nur zu oft sehr ernste Weltgeschichte, kommt überhaupt an überraschend zahlreichen Daten nicht vorbei, die irgendwie mit Gold, Geld und also auch mit Macht zu tun haben. Vor 75 Jahren, im Juni 1948, wurde in den deutschen Westzonen die Währungsreform durchgeführt. Damit begann, noch bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war, die Erfolgsgeschichte der Deutschen Mark. Sie war übrigens nicht immer so „hart“, wie wir im nachhinein verklärend meinen. Gerade im Zuge der Ölkrise 1973/74 und nur kurze Zeit nach der Abkoppelung des US-Dollars vom Goldwert kam es zu einer Teuerung, die in einem Anstieg von Löhnen und Gehältern bis zu zehn Prozent gipfelte. Vor allem deswegen (die Affaire um einen DDR-Spitzel war nur Anlass, nicht Ursache) musste Bundeskanzler Willy Brandt dann im Mai 1974 abtreten und dem Finanz- und Wirtschaftsfachmann Helmut Schmidt das Amt überlassen.

Anders als heute gab es damals aber noch die „Vierte Gewalt“ in Gestalt einer Bundesbank, die wirklich gehört und geachtet wurde. Sie bewachte in Frankfurt am Main tatsächlich sozusagen das Staatsgold und wehrte alle Versuche ab, das Geld nachhaltig zu entwerten zugunsten haushalterisch flüchtigen Genusses im bloßen Hier und Jetzt. Sie verstand sich eben nicht als Staatsbank, die willfährig abgenickt hätte, was die Regierenden gerade meinten an Wohltaten ausschütten zu können. Vom Grundsatz einer von tagespolitischen Weisungen unabhängigen Notenbank ist nunmehr in Zeiten der EZB so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben.

Die Bank Deutscher Länder, die spätere Deutsche Bundesbank, war ja mit der Zielsetzung gegründet worden, eine verdeckte Geldentwertung wie im Dritten Reich sowie eine Hyperinflation wie die von 1923 ein für allemal unmöglich zu machen. 1948 war 1923 gerade einmal 25 Jahre her – nun werden es, im Herbst 2023, genau einhundert sein. Wir beobachten diesen Teil unserer deutschen Geschichte und verfolgen aufmerksam, wohin sich die europäische Geldpolitik entwickelt und gestaltet – so sie nicht abdriftet und uns in den gesellschaftlichen Untergang reißt. Lassen wir uns nicht aufs Glatteis führen!

Vor 175 Jahren war die hohe Zeit der „48er“. Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichten ihr „Kommunistisches Manifest“ im Blick auf die revolutionären Bewegungen in halb Europa. Den Forderungen nach der „Diktatur des Proletariats“ stimmten viele laut wie leise bei, unter ihnen ein Anarchist namens Richard Wagner, seines Zeichens Kapellmeister in Dresden. Sein nicht musikalisiertes Libretto „Jesus von Nazareth“ schrieb er 1848, intellektuell-werbewirksam an der Seite der Armen und Entrechteten, in einem Tonfall aber auch von Eigenrechtsanspruch und Neid. Der Streit und Kampf um den aus dem Schatz des Rheingoldes geschmiedeten Ring des Nibelungen ist da schon vorgebildet.

Was Johann Sebastian Bach mit seinem Dienstantritt in Leipzig vor nun 300 Jahren (Mai 1723) in Kantaten und namentlich Passionen von den Untiefen menschlichen Begehrens und Sehnens aus klingend-lutherischem Geist hinauf in die goldenen Hallen des Himmelreiches führte, wurde durch Wagner „geerdet“ und zu einem Menschheitsepos verarbeitet, dessen Protagonisten ihren eigenen Gesetzen folgen und im Streben nach ichbezogener Freiheit sich nur immer mehr verhaken und verheddern. Mit der Götterdämmerung hören Goldrausch und Geldgier mitnichten auf. Wer diesen Punkt erreicht hat und angesichts solcher aussichtslosen Lage beginnt, an Gott zu zweifeln, möge an Bach glauben. So jedenfalls hat es der Komponist Mauricio Kagel gehalten, der dieses goldene Wort prägte und dessen Stück sowie Film „Zwei-Mann-Orchester. Für zwei Ein-Mann-Orchester“ vor nunmehr fünfzig Jahren Aufsehen erregte.

Im Herbst 2023 werden es 375 Jahre her sein, dass in den Rathäusern von Osnabrück und Münster Verträge unterzeichnet wurden, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten. Dieser Westfälische Friede war nur deshalb nach jahrelangen Verhandlungen zustandegekommen, weil man eben, trotz allen Anfeindungen, miteinander geredet hatte. Die Gegner solcher Konferenzen, die vor jedweder Friedensordnung deswegen Angst hatten, weil sie dann ihre eigenen territorialen korrupten Willkürherrschaften drangeben müssten, hatten das Nachsehen. Insofern hat dieser Friedensschluss für 2023 womöglich einige Aktualität. Siegt Gewalt um ihrer selbst willen, ferner Gier nach Gold und Geld? Oder geht es nicht doch eher um deren Einhegung innerhalb einer Ordnung, die das verfasste Recht durchsetzt? Sollen wir auf diese eigentlich schon 375 Jahre alte bewährte Einsicht nun noch jahrzehntelang wie auf etwas ganz neu zu Erfindendes warten? Muss jede Generation erst wieder selber auf die heiße Herdplatte fassen, um zur Vernunft zu kommen?

Unter den vielen Anlässen, die in diesem Jahr gefeiert oder bedacht werden können, sei für heute nur noch die Grundsteinlegung des gotischen Kölner Doms zu nennen. Sie erfolgte 1248, also vor 775 Jahren. Geld hatte sich dort durch das Gold des Dreikönigsschreins unermesslich vermehrt. Die unablässig in die Rheinmetropole strömenden Pilgersleute brachten Reichtum und Wohlstand, so dass man aus dem Vollen schöpfen zu können meinte und sich frohgemut ans Werk machte. Nach etlichen geistigen und materiell-finanziellen Durststrecken kam das Projekt spätestens mit der Zeit der Reformation dann gänzlich zum Erliegen. Noch Heinrich Heine und Robert Schumann ließen sich von einer Bauruine inspirieren: „Deutschland. Ein Wintermärchen“ beziehungsweise der langsame Satz aus der „Rheinischen“ Symphonie sind gewissermaßen im Vorgriff auf das Endprodukt geschaffen. Erst im Oktober 1880 wurde die Kathedrale vollendet.

Vom mittelalterlichen quasi rheingoldfinanzierten Dom über inflationäres Scheingeld ohne Golddeckung bis zum 1948er Maingeld aus „Bankfurt“, das vielen bis heute ganz persönlich „mein Geld“ geblieben ist und erinnerungsweise wie tägliches Gold glänzt, kann also in diesem Jahr vieles bedacht und manches gar gefeiert werden – in eisfreien Zeiten wie diesen umso fester!

Beethoven light

Cosima Wagner geschiedene von Bülow aufgewachsene Liszt geborene d’Agoult war Ende des Jahres 1870 der Meinung, der deutsch-französische Krieg selbst sei die Feier von Beethovens hundertstem Geburtstag. Dies schreibt Martin Gregor-Dellin in seinem roman vrai, der 1980 erschien und auch deswegen so viel Resonanz fand, weil in diesem biographischen Meisterwerk erstmals die wenige Jahre zuvor erschienenen Tagebücher der zweiten Ehefrau des Protagonisten Richard Wagner mitberücksichtigt und verarbeitet wurden, wenn auch oft ironisierend und insofern weniger der historischen Treue denn dem romanhaft Erforderlichen verpflichtet.


Dennoch ist es unzweifelhaft, dass Beethovens Musik im Jubiläumsjahr damals für etliche militärisch bedingte Siegesfeiern herhalten musste. Damit wurde die reichliche deutsche Idee befördert und verwirklicht: Die Reichsgründung zum 1. Januar 1871 war dann nur der längst fällige Verwaltungsakt. Aus Blut und Eisen, aus den Trauermärschen der As-Dur-Sonate Opus 26 sowie der Eroica-Symphonie, aus isolierten martialischen Klängen etlicher anderer Beethovenschen Kompositionen heroischen Inhalts formte der nunmehrige Meister aus Bayreuth seine dann für die Zukunft maßgeblichen Festspielmusiken. Nach seinem Dahinscheiden 1883 gab Cosima gemäß einem selbstauferlegten Gelübde das Tagebuchschreiben auf und war fortan, bis zu ihrem eigenen Tod 1930, als gebürtige Französin und Tochter des hochberühmten Franz Liszt die „Herrin des Hügels“, sehr deutsch und immens geschäftstüchtig. 

Nun, einhundertfünfzig Jahre nach jenem Krieg, dem in Frankreich die Dritte Republik folgte und in Deutschland dank französischer Reparationszahlungen die „Gründerzeit“ des zweiten Kaiserreichs unter dem allgewaltigen Kanzler Otto von Bismarck … – also nun, anno 2020, zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag Beethovens, harren wir einer ganz anderen und nie gekannten geschweige denn erahnten Ehre des musikalischen Genies: Corona lässt den Gedanken zu, bundesweit ab 16. Dezember Schulferien zu erteilen. Das ist unendlich mehr als das kriegerische Brimborium 1870! Nun könnten sogar die Kinder, Halbwüchsigen und Jungerwachsenen sich freizeitmäßig und weihnachtlich zugleich der Musik Beethovens widmen – nicht länger bloß pflichtgemäß im Unterricht, wenn die Fünfte oder die Neunte langweilen, sondern richtig aktiv … aber wie genau? Ach ja, alles Diesbezügliche ist leider untersagt. Konzerthäuser bleiben zu, Ensemblemusik und Orchester-oder Chorproben sind verboten, der Jubilar ist zum Schweigen verdammt. Unsere Kultur wird gerade insgesamt abgewickelt, ohne Rücksicht auf Verluste. Alles, was an Hygienekonzepten kostenintensiv in den letzten Monaten auf die Beine gestellt wurde, wird grausam ignoriert.

16. Dezember 1770 / 2020: Zweihundertfünfzig Jahre nach seiner Geburt ist somit auch Ludwig van Beethoven gesellschaftlich ausgezählt und entsorgt. Was Thomas Mann im Roman „Doktor Faustus“ 1947 mit seinem alter ego Adrian Leverkühn vorausahnte: die Musik humaner Herkunft womöglich zurücknehmen zu müssen – es wird unter völlig anderen Voraussetzungen nun zu bitterer Wirklichkeit. Übrigens ist das Kapitel, in dem Martin Gregor-Dellin in seinem Buch über den selbsternannten Beethovenvollender Richard Wagner das Jahr 1870 beschreibt, nach einem Begriff aus Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) betitelt und lautet: „Machtgeschützte Innerlichkeit“. Freilich wird dies wohl dem Wagner-Clan, mitnichten jedoch dem historischen Beethoven gerecht: Der stand zwar unter der Protektion adliger Gönner – doch innerlich glühte er bis zuletzt gegen alle Machtgeschütze und durchschlug mit seiner Musik jede ständisch-angemaßte Selbstgefälligkeit. Wäre doch schön, wenn der Jubel über vorzeitige Ferien sich mit einer irgendwie artikulierten hommage à Beethoven produktiv verbinden könnte.

Update 26. November 2020:  Der 16. Dezember ist es nun leider nicht geworden. Kein Ferienbeginn an Beethovens Geburtstag. Hier wurde die Chance verpasst, trotz aller derzeitigen musikalischen Aufführungsverbote zumindest pädagogisch wertvoll die unmittelbare Freude wirken zu lassen, die der 250-Jahres-Jubilar ausgeströmt hätte. „Beethoven ist cool – seinetwegen gibt’s mehr Ferien“: solch junges Lob fällt nun aus.