22G+

Musikalisches Doppeljubiläum MMXXII: In den hundert Jahren zwischen 1722 und 1822 wurden Altes und Neues Testament erschaffen.

Vor drei Jahrhunderten schrieb Johann Sebastian Bach (1685-1750) das Deckblatt zum ersten Teil seines Wohltemperierten Klaviers, in eindrucksvoller Schönschrift. Und genau zwei Jahrhunderte ist es nun her, dass Ludwig van Beethoven (1770-1827) die Komposition seiner letzten Klaviersonate abschloss, in kalligraphisch nicht ganz so einwandfreier Niederschrift.

Es muss aber auch gesagt werden, dass Bachs berühmtes Werk überhaupt erst im Jahre 1801 vollständig gedruckt erschien: bei Simrock in Bonn am Rhein, der Geburtsstadt Beethovens! Da waren knapp achtzig Jahre schon vergangen! Der Komponist von insgesamt zweiunddreißig offiziell gezählten Klaviersonaten hingegen sah die Veröffentlichung seines Opus 111 schon im gleichen Jahr seiner Fertigstellung. Doch war die Zeit in den 1820er Jahren auch verlegerisch längst reif und empfänglich geworden für das umfangreiche Schaffen dessen, der „nicht Bach, sondern Meer“ heißen sollte, wie der dritte Wiener Klassiker einmal bemerkte.

Ihm selbst, dessen 250. Geburtstag wir vor kurzem, so gut es eben ging, gefeiert haben, war Bachs Wohltemperiertes Klavier von Kindheit und Jugend an vertraut. Schon lange vor Drucklegung dieses epochalen Werks kursierten im Bachschen Haus, also zu Lebzeiten des Köthener Hofmusikers (1717-1723) und späteren Leipziger Thomaskantors (1723-1750), handschriftliche Kopien, angefertigt von Familienmitgliedern und Schülern. Die wurden wiederum abgeschrieben und so weiter und so fort … – so dass sich diese Musik buchstäblich „unter der Hand“ rasch verbreitete, um von Kennern und Liebhabern in ganz Europa studiert und gespielt zu werden.

Durch die Vermittlung des für seinerzeit schon ältere Musik empfänglichen Barons Gottfried van Swieten (1733-1803) kannten bereits Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) solche Abschriften und ließen sich durch sie zu eigenen Bearbeitungen anregen. Dem österreichischen vormaligen Botschafter in Berlin, der 1777 mit etlichen kopierten barocken Musikalien in die Habsburgermetropole zurückgekehrt war, entging auch nicht, dass der Jungstar Beethoven bei seinen ersten staunenerregenden Auftritten im Wien der 1790er Jahren gern aus Bachs Wohltemperiertem Klavier spielte.

Dem Bonner Hofmusiker und Wiener Starpianisten „Ludwig van“ waren Kenntnis und schöpferische Aneignung von Bachs Wohltemperiertem Klavier durch den Bonner Hoforganisten Christian Gottlob Neefe (1748-1798) zuteil geworden: Der stammte aus Chemnitz, war Thomaner in Leipzig gewesen, zudem studierter Jurist und lebenskluger Musiker in einer fahrenden Schaustellertruppe, ehe man in der gleichermaßen superkatholischen wie aufgeklärt-toleranten kurkölnisch-fürstbischöflichen Residenz zu Bonn die Gaben dieses evangelischen Freimaurers entdeckte und nichts dagegenhatte, dass er seine mitgebrachten Bach-Noten pädagogisch wertvoll einsetzte.

Neefes Unterricht prägte nachhaltig Beethovens künstlerische Laufbahn. Namentlich noch im ersten Satz von Opus 111, in den zweistimmigen laufwerkartigen Passagen, meint man den „alten“ Bach im energischen c-Moll präludierend und in der Durchführung sogar ein wenig fugierend herauszuhören.

Der ganze Kosmos Beethovenscher Klaviermusik ist, wie jede Komposition für besaitete Tasteninstrumente, überhaupt nur in solcher harmonischen Fülle möglich geworden dadurch, dass man in der Bachzeit die reine und die mitteltönige Stimmung zur „wohltemperierten“ weiterentwickelte – eine physikalische Glanzleistung! Man meliorisierte die Intervalle so, dass alle zwölf Töne der chromatischen Aufeinanderfolge innerhalb einer Oktave gleichberechtigt als Grundtöne fungieren konnten. Ohne kleine Schummeleien ging das nicht – aber hier führt einmal die Überlistung der Natur zu schönen Ergebnissen. Um solch neu gewonnene kreative Freiheit theoretisch und praktisch zu demonstrieren, stellte Bach seine Präludien und Fugen je paarweise zusammen, gleichnamiges Dur und Moll direkt hintereinandergeschaltet und dann in dieser Manier halbtonschrittweise aufsteigend jeweils die nächsten beiden Paare …

Den 24 wohltemperiertklavieristischen Pärchen aus Köthen ließ Bach in Leipzig zwei Jahrzehnte später (1742/44) noch einmal so viele folgen, gewissermaßen bei Durchsicht seiner Bücher: Den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Also zweimal 24 Präludien & Fugen, 48 Stücke pro Teil, 96 insgesamt! Stundenlang lässt sich darin stöbern und daraus spielen – das machte Bach selber gern: Wenn er keine Lust hatte, einem Schüler ausführlich Klavierstunde zu erteilen, dann setzte er den auf einen Stuhl und sich selbst ans Instrument, vergaß die Zeit und füllte sie zugleich aus … Einer der derart zum Zuhören geheißenen Eleven hat später berichtet, es sei ihm wie wenige Minuten vorgekommen: also alles andere als langweilig!

Das erste Paar bei Bach steht in C-Dur. In flexibler, sozusagen mutierter Betrachtung ist Beethovens letzte Klaviersonate in ihrer Zweisätzigkeit ebenfalls paarweise angelegt, c-Moll/C-Dur. Die hochdramatisierte Frage, warum es denn in Opus 111 keinen dritten Satz gebe, ist, bei aller geistreichen musikphilosophischen Auseinandersetzung bis hin zum „Doktor Faustus“ (1947) eines Thomas Mann, wenig aussagekräftig für die traktierte Sonate selbst: Hier hat Beethoven eben den zweisätzigen Typus grundgelegt, ähnlich wie bei den beiden kleinen Klaviersonaten Opus 49 (Nummer 1: g-Moll/G-Dur// Nummer 2: G-Dur/G-Dur) oder bei den gewichtigen Opera 54 (F-Dur/F-Dur) und 90 (e-Moll/E-Dur). Auch Haydn und Mozart haben zweisätzige Sonaten hinterlassen, ganz zu schweigen von den vielhundert Einsätzigen des Bach-Zeitgenossen Domenico Scarlatti …

Von den gebrochenen Akkorden ohne Melodie im ersten Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier bis hin zur Arietta-Melodie nebst ihren harmonisch und rhythmisch immer ausziselierteren Variationen im letzten Sonatensatz Beethovens ereignet sich ein musikalischer Höhenflug, der seinesgleichen in der Weltgeschichte sucht. C-Dur in allen Facetten: daraus ergibt sich alles weitere. Zwischen Bach und Beethoven.

Das verlangt mehr, bis nahe an den Punkt, den Bogen zu überspannen. Klingt dann ein „neues C-Dur“ auf, etwa in Beethovens Diabelli-Variationen, in Franz Schuberts Wandererfantasie, gar in Robert Schumanns Toccata und Fantasie? Von 22 ab geht die Geschichte jedenfalls weiter: Und die Dominante von C ist immer noch G! Danach kommt noch was. Wie 1722 und 1822 geschehen, so lässt sich das für unser 2022 vielleicht ja doch auch hoffen. Zweiundzwanzig perfekte Partizipien schlage ich hier vor zur Beschreibung von Entstehung, Umgang und/oder Aneignung musikalischer Werke, ganz unverbindlich:

22G gesetzt – gespielt – gehört – gekonnt – geübt – genossen – gefühlt – gelesen – gemocht – gelobt – geschrieben – gedruckt – gesungen – gelungen – geschaffen – gelernt – geplant – gebaut – geklärt – gelehrt – gerühmt – geschafft plus gerngehabt … 🙂

Biblische Ausmaße – und damit sei geschlossen, wie oben begonnen! – kommen mit Hans von Bülow (1830-1894) ins Spiel: Der Pianist und Dirigent hat Bachs gesamtes Wohltemperiertes Klavier und sämtliche 32 Klaviersonaten Beethovens in diesen erstaunlichen Zusammenhang gebracht: „Das wohltemperirte Clavier ist das alte Testament, die Beethoven’schen Sonaten das neue, an beide müssen wir glauben.“

So ultimativ ausgerüstet wünsche ich allseits ein klangvolles Jahr 2022!

Felix Mendelssohn zum Geburtstag

Eine Skizze

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde vor zweihundert und einem Dutzend Jahren am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren und wuchs in einer Bankiersfamilie auf. Sein Großvater war der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Fanny und weiteren Geschwistern wurde der junge Felix nach der durch die napoleonische Besetzung erzwungenen Übersiedlung zu Verwandten nach Berlin dort ab 1811 sorgfältig erzogen. Die mozarthaften Wunderkinder erregten bald Aufsehen. 1816 ließen die Eltern sie evangelisch taufen. Reformatorisches Bekenntnis hat Mendelssohns tiefe Frömmigkeit zeit seines Lebens geprägt, bis zu seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren in Leipzig am 4. November 1847.

Abraham Mendelssohn hatte das nötige Kleingeld, seinen begabten Kindern viele Bildungs- und Konzertreisen durch halb Europa zu ermöglichen: in die Schweiz, nach Frankreich und Italien sowie nach England und Schottland. Felix Mendelssohn hat auch als Erwachsener auf den britischen Inseln seine größten künstlerischen Triumphe vor einer riesigen dankbaren Zuhörerschaft gefeiert. Die Reiseeindrücke flossen in Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ (darin unter vielen anderen Hits der weltberühmte „Hochzeitsmarsch“), die Hebriden-Ouvertüre oder die Schottische Sinfonie ein.

Die eigene musikaliensammelnde Verwandtschaft und der Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, machten Mendelssohn mit Bachs Matthäuspassion bekannt. Auch sonst ist allenthalben schon beim ganz jungen Komponisten eine intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel zu erkennen. Seine Wiederaufführung der „großen Passion“ des alten Thomaskantors im Jahre 1829 ist ein Meilenstein der musikalischen Wirkungsgeschichte. Mendelssohn hat damit, als gerade Zwanzigjähriger, etwas mehr als hundert Jahre, nachdem dieses Hauptwerk abendländischer Passionsmusik 1727 erstmals erklungen war, die öffentliche umfassende Bach-Renaissance eingeleitet; sie dauert an bis in unsere Tage.

Mendelssohn hat sich zeit seines kurzen glanzvollen Lebens stets für Kollegen seiner Zunft eingesetzt, indem er ihre Werke aufführte, nachempfand oder anderweitig bekanntmachte: Dazu zählten Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und auch Richard Wagner. Vergleichen wir etwa dessen Holländer-Ouvertüre mit der Einleitung zum Oratorium „Elias“, so merken wir, wie nahe sich der Leipziger Gewandhauskonzertdirektor und sein neidischer musikdramatischer Nachbar in Dresden manchmal waren.

Ganz bewusst komponierte Mendelssohn ein ausgesprochen musikhistorisches Moment in seine Werke ein. So klingt im Oratorium „Paulus“ Bachs Johannespassion nach. Der erste Satz seiner „Italienischen“ atmet Mozarts lichten Geist. Im „Lobgesang“, gezählt als zweite Symphonie, treten Chor und Vokalsolisten hinzu, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter.

Eigene unverwechselbare Zeichen hat Mendelssohn in der Klavier- und Orgelmusik gesetzt: Die „Lieder ohne Worte“ sind quasi seine Erfindung. Und die sechs Orgelsonaten markieren den Beginn einer romantischen Tradition, die vor allem im französischen Sprachraum bei César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne zu hoher Blüte gelangte.

Es gibt so gut wie keine musikalische Gattung, die von Mendelssohn unbeachtet blieb. Er ist einer der letzten Komponisten, die ganz universell dachten und schufen, in der Kirchenmusik wie im Opernfach, in Liedern wie in Solokonzerten, in Motetten, Kantaten, Oratorien, Chören (z.B. „O Täler weit, o Höhen“ oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“) Sinfonien, Schauspielmusiken, Streichquartetten und sonstigen kammermusikalischen Werken.

Die Fülle seines Schaffens erwuchs, ähnlich wie bei Mozart, aus einer gediegenen Allgemeinbildung, die vor allem einen entschiedenen Sinn für die jeweilige Form ausbildete. Was Kritiker meinten, als allzu „glatt“ bemängeln zu müssen, war tatsächlich immer neu hart erarbeitet. Mendelssohn strich, verwarf und korrigierte stets bis zur Drucklegung seiner Kompositionen – und oft noch darüber hinaus, sehr zum Leidwesen der Verleger.  Hierin ähnelte er seinem Kollegen Frédéric Chopin: Nie war er zufrieden.

Felix Mendelssohn, glücklich verheiratet mit der Tochter eines Hugenottenpredigers aus Frankfurt am Main und Vater vieler Kinder, galt zu Lebzeiten und noch viele Jahrzehnte danach als ein geniales Glückskind, das den öffentlichen Musikbetrieb im biedermeierlichen Deutschland schöpferisch und organisatorisch ungemein bereichert hatte. Kein Männerchor im wilhelminischen Zeitalter, der nicht seine Lieder sang; kein Bachverein, der nicht seine kirchenmusikalischen Werke aufführen wollte; kein Konzertpublikum, das nicht nach seinen Ouvertüren und Sinfonien verlangte.

Dass er kein Titan wie Beethoven, kein Grübler wie Brahms, kein Neutöner wie Liszt war – geschenkt. Verhängnisvoll sollte sich im Fortgang seiner Rezeptionsgeschichte allein der Umstand erweisen, dass er aus einer jüdischen Familie stammte. Die Nazis kannten ja selbst dann keine Gnade, wenn die von ihnen Geächteten längst zum Christentum konvertiert waren – weil bei ihnen überhaupt gar kein Glaube zählte, sondern bloß dumpf das Blut. Das Mendelssohn-Fenster in der Leipziger Thomaskirche verarbeitet diese böse Fama sehr eindrücklich.

So wurde das beliebte e-Moll-Violinkonzert aus dem öffentlichen Musikbetrieb verdrängt, indem man Robert Schumanns d-Moll-Violinkonzert zu etablieren suchte: 1937 wurde dieses Stück, das im 19. Jahrhundert niemand aufführen wollte, erstmals dem Publikum dargeboten. Die Perfidie, noch post mortem Keile zu treiben zwischen Kollegen, die sich im wirklichen Leben geschätzt und unterstützt hatten, ist vielleicht nur ein kleiner Aspekt in dem sich damals schon manifestierenden Grauen der 1940er Jahre – aber eben einer unter unzähligen Schritten, die den aufrichtigen Geist einer zwar unpolitisch-vormärzlichen, aber in sich selbst zutiefst humanen Kultur niedergetrampelt und zertreten haben.

Mendelssohn hat es auch im Nachkriegsdeutschland schwer gehabt. Man traute dem stilistischen Alleskönner nicht recht über den Weg. Wer jedoch die feinsinnige Klangwelt mit durchaus aufbegehrenden Momenten etwa in der „Walpurgisnacht“ oder im c-Moll-„Sinfoniesatz“ zusammenhört, wird nicht umhinkönnen, in ihm einen europäischen Weltbürger zu entdecken, der die heutzutage so gern vollmundig betonte „Vielfalt“ nicht als propagandistisch aufgemotztes Neusprech übergriffig missbraucht, sondern leise und unausdrücklich, schlicht und einfach, gebildet und kunstreich: wirklich GELEBT hat.

Foto: Felix Mendelssohn: aus den „Sieben Charakterstücken“ Opus 7 (1827-1829)

Du machst es lang

Wie die Welt sein wird am Jüngsten Tag, weiß ja niemand. Dass alles einigermaßen plötzlich zu Ende geht, ist aber ausgemacht: Chopin hat das entsprechend auskomponiert. Ex nihilo, aus dem Nichts, das einst die Schöpfung entbarg, kommt unerwartet und radikal rückwärtsgewandt das Chaos wieder zum Vorschein. Es bricht herein, ohne die Sicherheitssysteme vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Das ist so inkommensurabel, dass niemand positiv darauf ansprechbar wäre.

In früheren Zeiten sah man das vielfach anders. Der lutherische Pfarrer Bartholomäus Ringwaldt scheint sich sehr auf das kosmische Ende gefreut zu haben, dessen Termin er für das Jahr 1584 berechnete. Als seine Vorhersage nicht eintraf und er sozusagen seinen eigenen Weltuntergang unfallfrei überlebt hatte, dichtete er seinem Sequenzlied „Es ist gewisslich an der Zeit“ einen Vorwurf und eine dringliche Bitte an den Heiland höchstpersönlich hinzu: „O Jesu Christ, du machst es lang / mit deinem Jüngsten Tage; / den Menschen wird auf Erden bang / von wegen vieler Plage. / Komm doch, komm doch, du Richter groß, / und mach uns bald in Gnaden los / von allem Übel. Amen.“

Rund zweihundertfünfzig Jahre später stand die Erde immer noch, sogar in Paris, wo Fryderyk Chopin als Emigrant eine zweite Heimat gefunden hatte, nachdem der polnische Aufstand 1830ff. niedergeschlagen worden war und somit „Kongresspolen“ weitgehend der Geschichte angehörte. Der Traum vom eigenen Staat schien für alle Zeiten ausgeträumt, und die Intellektuellen pflegten fortan ihr nationales Erbe im Geist, vor allem im literarischen und musikalischen Schaffen, zumeist im französischen Ausland.

Für Chopin war allerdings diese Entwurzelung zugleich Bekanntschaft mit dem Land seiner Vorfahren; denn die Familie seines französischen Vaters Nicolas Chopin, der als Sechzehnjähriger nach Polen ausgewandert war, hatte in Lothringen einen Weinberg bewirtschaftet, just an jenem Ort, wo sich ein Schloss befand, das zeitweilig Adligen aus dem Tross des vorletzten polnischen Königs gehörte, – nachdem dieser ins Exil gezwungen und von seinem Schwiegersohn, dem König von Frankreich, in diese Gegend eingeladen worden war. Die Reise in eine ungewisse Zukunft und das Bleiben zeitlebens in ihr hatte also für den jungen Pianisten und Komponisten eine kleine Tradition, und der Enddreißiger starb schließlich, 1849, im gespaltenen Bewusstsein eines expatriierten Polen: Es gab zwei Bestattungen ein und desselben Mannes; die äußere leibliche Hülle ruht auf dem Père-Lachèse-Friedhof zu Paris, sein Herz in einer Säule der Heilig-Kreuz-Kirche zu Warschau.

Frédéric Chopin befand sich als Wahlfranzose geistig in offener Gesellschaft, war doch 1830 ein gesamteuropäisches Revolutionsjahr. Das berühmte Gemälde von Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ ist ein Werk der Julimonarchie des sogenannten „Bürgerkönigs“ Louis Philippe d’Orléans. Dass in dessen Herrschaftszeit dann aber alles eher weniger gedankenfrei denn gnadenlos wirtschaftliberal sich gestaltete, weiß jeder, der so herrliche Schmöker wie Dumas‘ Roman „Der Graf von Monte Cristo“ gelesen hat. Aber immerhin wuchs durch die Geschehnisse in Frankreich – einmal mehr – anderswo die Hoffnung auf Abschüttelung größeren Jochs: Der belgische Staat entstand ebenso wie der Anfang des modernen Griechenlands. Und auch in verschiedenen italienischen Gegenden rumorte es im Blick auf eine hellere Zukunft.

Nur in der Musik nahm die Weltuntergangsstimmung ab 1830 peu à peu zu. Beethoven war drei Jahre zuvor gestorben, auch Schubert seit 1828 nicht mehr unter den Lebenden, Hoffmann bereits 1822 verschieden; die sich selbst als maßgeblich dünkende Szenerie bevölkerten aufstrebende Künstler wie Schumann, Mendelssohn und eben – Chopin. Die gebührende Hochachtung vor ihrem Schaffen muss in der Erkenntnis der jeweiligen Wurzeln liegen: Mit diesen drei Ausnahmemusikern setzt ein retrospektives Moment ein, das sich schöner Literatur als Ideengeber bedient (Schumann), lodernder Bachbegeisterung hingibt (Mendelssohn) oder wehmütiger Nationalmusik befleißigt (Chopin).

„Ich bin nicht alt, sondern retro“, sagen heute manch kulturell ambitionierte Zeitgenossen, die immer noch nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit des bürgerlichen Kulturbetriebs abläuft. Auch ich gehöre zu dieser Generation der nach 1960 Geborenen, außerordentlich, ja: rasend traurig, dass uns nun das passieren muss. Solange ich auf dieser Erde bin, werde ich die musikalisch-abendländische Kultur leben und sie verteidigen gegen die Anschläge wüster saudiarabisch verhetzter Mörder. Und es bricht mir das Herz, dass die eigene Regierung weder dem Salafismus noch dem Erdoganismus etwas Substantielles entgegensetzt. Als neulich der türkische Ministerpräsident in Oberhausen ein Stadion mit demneuensultanzubrüllenden Fans gegen Montesquieusche Gewaltenteilung füllen durfte, wäre ich ob dieser bloßen Nachricht fast eskaliert, ganz intransitiv und unfein.

„Alla turca“ ist als musikalischer Ausdruck in dem Augenblick passé, da die Türkennot obsolet wird. Mozart konnte noch von ihr zehren, siehe die „Entführung aus dem Serail“ oder das Rondo aus seiner A-Dur-Klaviersonate. Beethoven hat der Turkmode Beistand gezollt in seinen D-Dur-Variationen, aber allein deren Thema ist schon derart spaßhaft ersonnen, dass alles andere Ernsthafte dahinter verschwindet. Nach dem Ende realer Bedrohung übernahm die humoristische Sparte. Auch dies ist eine Form von Geschichtsbewältigung.

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Schumann, Mendelssohn und Chopin sind da von anderem Holz geschnitzt. Sie kennen kaum solchen spezifisch wienerischen Humor, sind zu sehr eingesponnen in die Metternichschen alleuropäischen retrospektiven Umstände ihrer im weitesten Sinne romantischen Verhältnisse. Alle drei sind sich persönlich begegnet, und besonders das tête-à-tête von Chopin und Schumann 1836 in Leipzig ist folgenreich geworden.

Heraus kam vom polnischen Exulanten aus Paris seine dem deutschen Verehrer – und Schöpfer der zuvor ihm zugedachten hoffmannesken „Kreisleriana“ – gewidmete zweite Ballade für Klavier, fertiggeschrieben auf Mallorca im Winter 1838/39 unter innerlich wie äußerlich schlimmsten Bedingungen. Seine Lebensgefährtin mitsamt ihren Kindern war nicht d’accord, auch senkte sich Leid ob kaltwasserrieselnder Wände in der Unterkunft über den empfindlichen Künstler. Und: Das Stück beginnt völlig harmlos in F-Dur und endigt in erst unbändigem, später fahlem a-moll. Es ist eine auskomponierte agogische Katastrophe, die sich hier für kommende unheilvolle Zeiten manifestiert.

(Pogorelich)Chopin Ballade No.2 – YouTube

Das werkimmanente Unglück setzte sich fort, als beim Warschauer Chopinwettbewerb 1980 der kroatische Jungstar Ivo Pogorelich nicht in die Endrunden zugelassen wurde. Aus Protest gegen die Mehrheitsmeinung verließ die renommierte Pianistin Martha Argerich wütend die Jury und rief aus: „Alle Töne waren falsch. Er ist ein Genie!“ – Dem damals 22jährigen jugoslawischen Nachwuchskünstler hat dieser Skandal keineswegs geschadet; denn Charakter und Sound des Stückes sind seitdem – trotz einiger Patzer – für Ewigkeiten getroffen.

Wer die Musik Chopins verstehen will, kommt an Mozart nicht vorbei und kann Schumann nicht außer acht lassen. Der polnische Jüngling hatte reüssiert mit Variationen zur Arie „Reich mir die Hand, mein Leben“ aus Wolfgang Amadé Mozarts „Don Giovanni“, begeistert besprochen von Robert Schumann. Und bei der Trauerfeier für den längst von der schriftstellernden Mannfrau George Sand verlassenen Künstler wurde, seinem letzten Wunsch gemäß, Mozarts Requiem aufgeführt. Dessen Sequenzvertonung „Dies irae“ gehört zu den großen Schockern des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Aber noch heftigeren Schrecken verursacht bis heute das Opernfinale mit dem steinernen Gast: Nie hat sich Mozart harmonisch kühner und todesgewisser ausgedrückt als vor der Höllenfahrt seines Alter Ego, des in der Welt des Ancien Régime wesenden adligen Lebemannes Dom Juan.

„Plötzlich, in einem Augenblick“, im Deutschen Requiem des von Schumann bis zum Wahnsinn geliebten Johannes Brahms lutherisch mit den Worten aus dem ersten Korintherbrief des Apostels Paulus zum Klang gebracht knapp eine Generation nach Chopin: Da wird besungen, was tatsächlich im Jüngsten Gericht geschieht. Und doch sind alle diese musikalischen Werke inhaltlich nicht so beklemmend, was tremor und furor angeht, wie jener Bruch in der zweiten Klavierballade des polnischfranzösischen Kompo*Pia*nisten.

Chopin, Opus 38, Übergang von Takt 45 zu Takt 46 (Minute 3; Sekunde 9): Im Gegensatz zu Mozarts Komptur-Szene, wo, wenngleich schlagartig düster, dann doch letztlich (aus der Ouvertüre und aus der Friedhofsszene) vertraute Motive aus vorangegegangenen Nummern ertönen, weiß man hier im vorhinein so rein gar nicht, was einen erwartet. Wenn es klaviermusikalisch überhaupt ein Vorbild für diesen choc gibt, dann fällt mir nur der langsame Satz aus der späten A-Dur-Sonate von Franz Schubert ein, diese irre Explosion aus einer zwar traurigen, aber immerhin melodiösen und keinesfalls terrorverdächtigen fis-moll-Landschaft heraus.

Zurück zu Chopin: Da rastet also jemand aus, titelgebendes F-Dur hin oder her. Der erste a-moll-Ausbruch ist nur kurz, man könnte meinen, da sei die Musik lediglich mal eben für ein paar Takte aus der Spur geraten. Doch weit gefehlt! Der Furor kehrt wieder, zunächst nicht ganz so schlimm scheinend, weil etwas vorzeitiger sich in aufstrebend-vollakkordischen Motivgruppen ankündigend: Aber der Tremor verstärkt sich dann doch, geht trillerzürnend und untiefenwankend über in ein Schreckensfinale, das chromatisch wie diatonisch seinesgleichen sucht, was Faktur und Ausdruck anbelangt … Wo in Konzerten eine Kadenz folgen würde, ist eine Generalpause, dann erklingt der klagend matte Abgesang aus Motiven des Eingangsthemas, traurig ohne bisherige Raserei, vielmehr beklemmend aussichtslos sich ins Schicksal fügend. Doch sage keiner, da habe jemand vorher nicht bis zuletzt gekämpft!

Manchmal denke ich, es wäre gut, wenn Chopins Klavierkosmos zur Pflichtlektüre erhoben würde – gleich dem Liederschatz der Kirchen. Man muss da natürlich aufpassen: Der polnisch-französische nachlässige Normkatholik Chopin wurde ja von den Mallorquinern auch deshalb tratschend verworfen, weil er mit seiner Nichtehefrau und deren – in den Augen der Spießer – irgendwie entstandenen Kindern niemals in die Messe ging; und Choralbearbeitungen waren unter solchen Umständen kaum zu erwarten, wenn man von religioso-Abschnitten und polyphonen Takten in seinem übrigens höchst diffizilen und differenzierten kompositorischen Werk einmal absieht.

Wenn es denn zutrifft, dass Bachs Wohltemperiertes Klavier das Alte und Beethovens Sonaten das Neue Testament der Klaviermusik darstellen (Hans von Bülow), dann sind Chopins Werke die Quintessenz aus beiden. Nicht der Pariser Salonlöwe ist maßgebend, sondern der seelische Gehalt einer musikalischen Sprache, die gewisslich an der Zeit das Ihre einfach frei heraus sagt. Ringwaldt hätte vielleicht sogar seine Freude daran gehabt. Und, wer weiß, was am Jüngsten Tag, erstaunt und womöglich benommen, von all diesen Vorgriffen aufrichtig bedacht und milde beurteilt wird.

Statt auf die Fülle der Chopin-Literatur hinzuweisen, gebe ich für Interessierte einen einzigen Lesetipp – Tadeusz A. Zielinski: Chopin. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. Aus dem Polnischen von Martina Homma und Monika Brockmann. Mainz 2008.

Hoffmann

Vor zweihundertvierzig Jahren, am 24. Januar 1776, kommt im ostpreußischen Königsberg ein Kind namens Ernst Theodor Wilhelm zur Welt, Sohn des verkrachten Ehepaares Hoffmann, das sich zwei Jahre später scheiden lässt. Modernität in ihrer tragischen Ausformung liegt also, zweifelhaft „zeitgemäß“, von Anfang an in diesem Lebensweg beschlossen. Schon früh zeigen sich indes vielfältige Begabungen. Aus Verehrung für Mozart ersetzt der Endzwanziger seinen „Wilhelm“ deshalb durch „Amadeus“. Seitdem kennt ihn die musikalisch, zeichnerisch und literarisch geneigte Öffentlichkeit als E.T.A. Hoffmann. Es gibt wenige, die das geschafft haben: als gebunden durchgesprochenes Buchstabenkürzel in die Kulturgeschichte einzugehen. „Ethea“ hielt ich in jungen unschuldigen Jahren vom Hörensagen her für einen eleganten Mädchennamen – ein bisschen vergleichbar vielleicht dem kleinen Theodor W. Adorno (auch ein bekannter Kürzelträger, wenngleich nur eindimensional), der bei Beethovens Waldsteinsonate an einen Stein im Wald dachte…

… bis ich als Vierzehnjähriger Hoffmanns Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“ kennenlernte: Von deren leidenschaftlicher Wucht wurde ich gleichsam übermannt, geht es doch darin um Verbrechen und andere Kleinigkeiten. Der pränatal eingepflanzte Zwang des Goldschmieds Cardillac, sich seine verkauften Unikate nächtlich raubmordend wieder anzueignen, wird derart überzeugend – neudeutsch: „alternativlos“ – in Anschlag gebracht, dass man einigermaßen dankbar einen vagen Begriff davon bekommen kann, was wir heutzutage an dem aufgeklärt-humanen Rechtsstaat haben, der immer auch den Motiven für Straftaten nachspürt und selbst dem wegen schlimmster Vergehen Angeklagten die Möglichkeit gibt, sich zu erklären.

An einer menschlichen Justiz hat Hoffmann von Berufs wegen mitgewirkt, als studierter Jurist im preußischen Staatsdienst in Posen und Plock, in Warschau und Berlin. Der Kammergerichtsrat sitzt zum Ende seiner Laufbahn im Oberappellationssenat, wo über Berufungen gegen vorangegangene Gerichtsurteile letztinstanzlich entschieden wird. Zudem ist er Mitglied der nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 eingesetzten „Immediatkommission zur Ermittelung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“. Da kann er gewissermaßen von innen heraus die Machenschaften und Vorverurteilungen eines zunehmend diktatorisch geprägten Behördenapparates studieren. Haben ihm diverse treffsichere eigenhändige Karikaturen, auf denen sich hochmögende Posener Bürger wiedererkannten, bereits in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts eine Strafversetzung eingebrockt (oder, wie man mit dem Namen des Verbannungsortes kalauern mag: eingeplockt), strengt man nun, in Zeiten einer Mischung aus Stasi-Überwachungswahn, Mc-Carthy-Ära und Patriot-Act-Manie, aufgrund eines die kriminalistischen Zustände ironisierenden Kapitels im „Meister Floh“ ein Disziplinarverfahren gegen ihn an. Wer will sich schon vorführen lassen als unfähiger Fahnder, der bloße Willkür walten lässt und zur Not völlig Unschuldige zu Tätern macht! -Die Entlassung wird nur deshalb nicht wirksam, weil Hoffmann am 25. Juni 1822 seiner letzten schweren Krankheit erliegt.

Nun könnte der Eindruck entstehen: Eigentlich ein versierter Beamter, der sich dummerweise bei einigen künstlerischen Unregelmäßigkeiten – womöglich an sich nicht schlimm und einem Scheidungskind vergebbar – hat ertappen lassen. Musste das denn sein? Um gleich die Antwort zu geben: Ja. Denn Hoffmann ist nicht erledigt, wollte man ihn außerhalb seines Brotberufs etwa als Hobbymusiker, Gelegenheitszeichner oder Möchtegernschriftsteller abtun. Die Kunst ist ihm keineswegs eine Freizeitbeschäftigung, vielmehr wird sie frühzeitig nicht nur seine zweite, sondern im Selbstverständnis seine allererste Natur: Der staatstragende Wilhelm verschwindet zugunsten eines – romantisch verstandenen – Amadeus. Diese identitätssteigernde Mozartverehrung eröffnet ihm ein phantastisches Geisterreich, ein üppiges Seelenleben, wo sowohl Humor als auch abgrundtiefe Finsternis herrschen dürfen, in aller Freiheit. „Cosi fan tutte“ und „Don Juan“ sind ihm gleichbedeutend, also das heitere Vexierspiel in der einen wie die hoffnungslose Verdammung zur Hölle in der anderen Opernmusik. Der Königsberger Schüler und Student nimmt alles hellwach auf, was an neuer Musik an sein Ohr dringt. Hoffmann ist immerhin schon fast sechzehn Jahre alt, als die Nachricht vom allzu frühen Ableben Mozarts sich verbreitet. Wiener Klassik und Berliner Frühromantik sind also noch im Werden. Von einem Beethoven ist Anfang der 1790er Jahre noch nichts Genaueres bekannt. Hoffmann erteilt Musikstunden mithin ganz im gängigen mozartschen Geist, inclusive Amouren mit seinen Schülerinnen & cetera … Liebeslied und Liebesleid ergänzen und umschlingen einander, oft ist das eine vom anderen nicht zu unterscheiden. Mit Freunden trifft er sich zu literarischen Abenden, in frühromantischer Begeisterung für alle erdenklichen Welträtsel, doch zugleich – in der Stadt des bis 1804 lebenden Professors Immanuel Kant! – in gesunder Skepsis gegen die irdischen Sinne, die bekanntlich ja auch täuschen können.

Als Referendar in Berlin nimmt Hoffmann die Gelegenheit wahr, sich professionell musikalisch weiterzubilden. 1801, bei einer Reise nach Königsberg, Danzig und Elbing, trifft er seinen besten Freund Theodor Gottlieb von Hippel wieder. Ein erstes eigenes Singspiel kommt zur Aufführung. Das ist sein künstlerisches Debüt, zwei Jahre, bevor er auch als Schriftsteller mit gedruckten Texten in Erscheinung tritt. Dann geht es Schlag auf Schlag: Nach seiner Heirat 1802 zieht Hoffmann 1804 nach Warschau, wo dem Ehepaar eine – früh wieder verstorbene – Tochter geboren wird. Er findet dichterisch Anschluss an die Romantik, besonders im Austausch mit Zacharias Werner und Julius Eduard Hitzig. Zugleich gründet er die „Musikalische Gesellschaft“, bringt 1805 ein weiteres Singspiel auf die Bühne, komponiert eine Messe in d-moll und führt seine Es-Dur-Symphonie auf, in der Mozarts „Schwanengesang“ anklingt, aber auch die gerade veröffentlichte „Eroica“ Beethovens. Nach diesen „heroischen“ Tönen zieht denn auch L’Empéreur höchstpersönlich in Warschau ein. Die preußischen Beamten sind ihre Stellen los, die französische Verwaltung übernimmt mit ihren eigenen Leuten.

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Nach einem kurzen Aufenthalt neuerlich in Berlin, wo er vermutlich die meisten seiner fünf erhaltenen Klaviersonaten konzipiert, nimmt Hoffmann das Angebot an, als Kapellmeister an das Theater in Bamberg zu gehen. Von 1808 bis 1812 hält er sich dort notdürftig über Wasser, weil er gleich nach den ersten Wochen als Dirigent gemobbt und ausgebootet wird. Fortan ist er gezwungen, sich als Theaterkomponist, Kulissenmaler, Bühnenarchitekt und Musiklehrer zu verdingen. Alles, was er künstlerisch gelernt hat, lässt ihn in dieser wohl dunkelsten Zeit seines Erdenlaufs überleben. Und er findet Kontakt zur „Musikalischen Zeitung“, in der 1809 die Erzählung „Ritter Gluck“ erscheint. Weitere musikalische Dichtungen und Aufsätze machen Hoffmann vor allem als ebenso fachlich beschlagenen wie auch von der bis dahin unerhörten Ausdruckskraft namentlich der Beethoven-Symphonien beseelten tiefsinnigen Rezensenten bekannt. Wie absolut die reine Instrumentalmusik sein könne und inwiefern Mozart und Beethoven hier bleibende Maßstäbe setzen, ist eine von vielen Einzelfragen, denen sich Hoffmann unter dem Aspekt des „Romantischen“ und des „Phantastischen“ widmet. Ein weiterer Schwerpunkt seiner musikschriftstellerischen Tätigkeit ist die Kirchenmusik. Hier beeindruckt den Leser die Kenntnis namentlich der älteren italienischen musica sacra. Besonders intensiv aber setzt er sich mit der Oper auseinander, im Sinne eines Gesamtkunstwerks, das dem jungen Richard Wagner als Leitbild dienen wird. „Der Dichter und der Komponist“, im Geburtsjahr Wagners 1813 erschienen, liest sich nachgerade als programmatische Schrift für die künftigen Musikdramen des Bayreuther Meisters, aber auch als eine Dichtung, an die dann ein Friedrich Nietzsche anknüpfen kann mit seinem Gedanken der „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“. Besonders auffällig ist in Hoffmanns Text, dass er, abgesehen von einer erzählenden Rahmenhandlung, im Hauptteil dialogisch gestaltet ist. Ein kleiner Nachhall von wirklichen Gesprächen unter Freunden? In dem vierbändigen, knapp tausend Seiten starken Buch von den Serapionsbrüdern werden uns solche Unterhaltungen in geselliger Runde dann mit allem Zubehör in epischer Breite und Länge, aber keinen Augenblick langweilig, vor Augen gemalt.

1813 und 1814 sehen wir Hoffmann als Kapellmeister und Schriftsteller in Dresden und Leipzig. Seine Märchenoper „Undine“ entsteht – sie wird 1816 in Berlin uraufgeführt – , nach der Vorlage von Friedrich de la Motte Fouqué. Und nun beginnt auch die Produktion seiner Bücher, für die er weltberühmt geworden ist: „Fantasiestücke in Callots Manier“, „Der goldene Topf“, „Die Elixiere des Teufels“. Ab 1814 ist er wieder als Beamter in Berlin; es folgen innerhalb der nächsten sieben Jahre „Nachtstücke“, „Die Serapionsbrüder“, diverse Märchen und, gegen Ende, „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Wahnsinnswerke in gellendem Humor, überbordender Komik, aber zugleich doppelbödiger Psychologie und künstlerischer Exaltation. Da ist in unzähligen Einzelstücken wie auch in ganzen Romanen viel von Tapetentüren die Rede, lüsternen Mönchen, verführten Töchtern, traurigen Musikautomaten und gelehrten Wissenschaftlern, die sich den neuesten Geheimexperimenten hingeben – oder dem Okkultismus frönen, wer weiß das schon so genau? Sprechende Tiere erweisen sich als die besseren Beobachter, öde Häuser und finstere Sandmänner lassen erschaudern. Von Wiedergängern und Maschinenmenschen ist zu lesen, die ganze moderne Welt in ihren grellen unwirklichen Freuden und tatsächlichen panoptischen Abgründen blitzt auf und dampft düster vor sich hin. Gern bleibt unklar, wo der Spuk beginnt, wo er endet – und ob er nicht vielleicht die Wirklichkeit eher trifft als das, was in Raum und Zeit greifbar erscheint.

Das alles hat in der künstlerischen europäischen Welt großen Eindruck hinterlassen. Robert Schumanns „Kreisleriana“ sind einer der ersten großen Nachklänge. Russische, angloamerikanische und französische Dichter mit Neigungen zur sogenannten „Schauerromantik“ haben ihren „Gespenster-Hoffmann“ gelesen. Tschaikowskis „Nussknacker“ setzt das gleichnamige Märchen in unsterbliche Töne, und die einzige große Oper von Jacques Offenbach behandelt „Hoffmanns Erzählungen“ in einer überzeugenden mélange. Paul Hindemiths „Cardillac“ nimmt sich des unheimlichen Stoffes aus dem „Fräulein von Scuderi“ an, und der „Sandmann“ ist in seiner Düsternis immer wieder ein Schreckensbild für die aufziehende, bis heute andauernde sogenannte „Moderne“. Übrigens gibt es ein eigenes Adjektiv, das auf unser Geburtstagskind verweist. Das hat für den allgemeinen Sprachgebrauch in literarischen Dingen meines Wissens seitdem nur noch Kafka geschafft. Mit der französischen Frageformel est-ce que, also „ist das wie“ – eingedeutscht: „esk“. „Wie bei Hoffmann“, also „hoffmannesk“ geht es zum Beispiel auch in Hesses „Steppenwolf“ zu, in den Spiegelkabinetten auf den hinteren Seiten, wo Mozart am Ende nur noch lacht …

In seinem einzigen Brief an Hoffmann schreibt Beethoven am 23. März 1820: „Ich ergreife die Gelegenheit, durch Herrn N. mich einem so geistreichen Manne wie Sie sind, zu nähern. Auch über meine Wenigkeit haben Sie geschrieben, auch unser Herr N. N. zeigte mir in seinem Stammbuche einige Zeilen von Ihnen über mich. Sie nehmen also, wie ich glauben muss, einigen Anteil an mir. Erlauben Sie mir zu sagen, dass dieses von einem mit so ausgezeichneten Eigenschaften begabten Manne Ihresgleichen mir sehr wohl tut. Ich wünsche Ihnen alles Schöne und Gute“ … So hat Ernst Theodor Amadeus Hoffmann gewirkt. In Abwandlung eines Wortes des Grafen Waldstein an den jungen Bonner Meister, als der im Begriff stand, nach Wien zu gehen, ließe sich sagen: Hoffmann hat Mozarts Geist in Beethovens Händen weiterwirken sehen. Als Musiker hat er beide bewundert und sie als die unbestritten Größten anerkannt. Auch das hebt den modernen Romantiker aus Königsberg weit über alle, die man „Kleinmeister“ nennt. Und das alles aus dem Geist der Musik.

Abbildung: Takte aus dem letzten Satz der Klaviersonate f-moll (Allroggen-Verzeichnis Nr. 27) von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann.