Märzgefallen

Gefallen im März 2020. Die Trauerweide in meinem Garten hat mir einmal mehr den Fall höchster Freude beschert. An ihren in die Tiefe fallenden Zweigen sprosst, wie jedes Jahr im Frühling, zartes junges helles Grün. Das ist in diesem Fall die gute Nachricht. Und nun die in Corona-Zeiten keineswegs zufällig schlechte: Da kommen sehr viele Fallzahlen auf uns zu. Nicht, wie es euch – und uns – gefällt, ist der Fall; sondern was uns fällt, wird dieser Welt zum Fall.

Gefallene Helden um die Iden des März: Caesar fiel am Fünfzehnten des Monats, vierundvierzig Jahre vor Christi Geburt und deren Versöhnung des adamitischen Sündenfalls. Beethoven starb am 26. März 1827 im Gefallen an dem schönen Wort Plaudite amici – comoedia finita est – „Freut euch, Freunde – das Lustspiel ist beendet“. Und am 22. März 1832 gefiel sich der liebe Gott auf jeden Fall an der letzten Sentenz des sterbenden Goethe von wegen „mehr Licht“.

img_20200324_0843571285887943.jpg

Die Märzgefallenen des Jahres 1848 post Christum natum sind dann namengebend geworden für die massenhaften Vorfälle in Wien am 13. März und in Berlin am 18. März, die längst fälligen Demonstrationen auf den Barrikaden – für die bürgerliche Freiheit. Vor allem waren es Handwerker, aber auch Intellektuelle und Künstler, die für den Fall von Pressezensur und allen sonstigen Eingriffen in die persönliche Freiheit sich stark machten. Österreichs Kanzler Metternich fiel und floh, Preußens Königspaar entfiel beim Trauerzug für die Gefallenen auf fordernden Zuruf des Volkes immerhin die Kopfbedeckung – für einen kleinen Augenblick jedenfalls.

Blutig und finster wurde es am 22. März 1945 (Goethes 113. Todestag), als angloamerikanische Bomben auf die uralte Stadt Hildesheim fielen. Tausendjährige Kirchenbauten und mittelalterliche Fachwerkhäuser wurden in unsinniger Zerstörungswut ein für allemal zu Fall gebracht. Damit fiel dort die kleinteilige kirchlich-adlig-bürgerlich-europäische Lebensleistung von Jahrhunderten gleichnishaft etlichen Fallstricken zum Opfer.

In jüngerer Geschichte fallen drei märzliche Wenden auf geschichtliches Interesse: Zum ersten die „geistig-moralische“ Wende vom 6. März 1983, sehr zum Missfallen meiner Generation. Zum zweiten die deutsch-deutsche Wende, die mit dem 18. März 1990 und somit auf den Jahrestag der Berliner Märzgefallenen fällt, die erste und letzte Wahl zur Volkskammer der DDR – bevor dieser Staat dann zusammenfiel und der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 beitrat. Zum dritten gibt es jetzt eine Corona-Wende, deren Fallzahlen wir abwarten müssen und deren Ende wir mit Beifall bedenken werden.

Die Spaßgesellschaft mit ihren „Gefällt mir“-Klicks hat wenig Substanz, wenn wir die rhetorisch eindrückliche Fallstudie des französischen Staatspräsidenten im Herzen bewegen und mit ihm im Chor einfallen, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Fällig wären dann nämlich die an dem Virus Gestorbenen: für ein Denkmal der Gefallenen. Ein Fall von Helden im Jubiläumsjahr von Hegel, Hölderlin und Beethoven. Für alle drei Genannten fällt der Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Male an.

Mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 (Märzgefallene in Berlin 1848; DDR-Volkskammerwahl 1990) hat unsere Bundeskanzlerin womöglich unauffällig ihren Gefallen bekundet an historisch bedeutsamen Fällen, Einfällen, Ausfällen. Mir fällt dazu jedoch nichts weiter ein. Unsere Wirtschaftsordnung und das Geldsystem werden voraussichtlich ins Bodenlose fallen. Dass die Regierungschefin in ihrer Rede die Relevanz des Ausfalls von Gottesdiensten und generell kirchlichen Lebens so überhaupt nicht erwähnte, sollte übrigens auch einmal auffallen. Noch nicht einmal Gottes Segen (wie sonst in vielen Neujahrsansprachen) fiel ihr ein zu wünschen. Fallweises schreckliches Fazit: Dem christlichen Abendland geht es innerhalb unserer bisher so wenig anfälligen grundgesetzlichen Ordnung an den Kragen. Aber wem fällt das in dieser ungewissen Zeit groß auf?

Im Blick auf die bewährte föderale, republikanische, demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung wird vieles fallen und neu werden: Meine Trauerweide fällt in leuchtendes unparteiisches Grün. In diesen unsicheren Zeiten ist das ein tröstlicher Zufall. Aber Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht. Dem Märzfall des Diktators Caesar sehen wir nach wie vor zwiespältig ins Auge. Die Märzgefallenen von 1848 verdienen unser herzliches Gedenken. Dem Märzgefallen anno 2020 gilt unsere Aufmerksamkeit.

Foto: Meine Trauerweide in fallenden Zweigen und freundlichem Grün.

HerbstSchlussPunkt

Jedes Vergehen kommt zum Ende. Wäre es anders, so gäbe es nichts als Erosion, Paralyse, Todesfraß. Darin läge dann eine seltsame Übereinstimmung von vereinzelter Straftat und allgemeiner Vergänglichkeit. Doch solch schreckenerregend erdachte Perpetuierung hartnäckiger Negation erfährt eine zunächst milde, dann immer deutlichere Abschwächung bis zum gänzlichen Verschwinden ihrer selbst. Irgendwann ist nämlich im richtigen Leben auch mit dem schwelgerischsten fin de siècle einfach Schluss; da wird ein Punkt gesetzt: fertig – aus.

HerbstSchlussPunkt (1)

Im Vorhof des Museums für anatolische Zivilisationen in Ankara ist die Kopie einer freistehenden hethitischen Steinskulptur aufgestellt. Die Plastik, die im Original aus dem dreizehnten Jahrhundert vor Christi Geburt stammt, stellt Tessup dar, den Wettergott des Himmels. Seine Kopfbedeckung zieren vier Hörner; flankiert wird seine Gestalt von zwei Löwen; die Rechte ist siegend erhoben, mit der Linken steuert er vielleicht einen Streitwagen: Bewehrte Macht über alle Himmelsrichtungen; ungebrochene Gewalt über alles, was da lebt und webt und west; beidhändige Tatkraft in wetterwendischer Willkür.

Doch das Großreich der Hethiter wurde vertilgt durch den Einbruch der sogenannten Seevölker um das Jahr 1200 der vorchristlichen Zeit … Anatolien sah hernach auf seinem Boden noch unzählige andere Kulturen kommen und gehen, in je ihrem Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sollte ein Oswald Spengler doch Recht gehabt haben mit der These aus seinem in diesem Herbst 2018 nach Christi Geburt hundert Jahre alt gewordenen Buch vom „Untergang des Abendlandes“, derzufolge jede Kultur aus sich selbst heraus wächst und in sich vergeht, ohne nennenswerten Einfluss von außen, quasi organisch, bar jeglicher kontinuierlichen Nachwirkung, mithin (kon)sequenzlos?

HerbstSchlussPunkt (2)

Blicken wir auf die andere Seite der Spiegelachse, die das imaginäre Jahr Null in unserer herkömmlichen Zeitrechnungsleiste bildet. Von den hethitischen Rätseln der Jahre um 1200 vor Christus landen wir in dem erst kürzlich aus unzugänglicher Wildnis in urbares Land verwandelten Grund und Boden der Epoche um Anno Domini 1200. Die Mönche des Zisterzienserordens schufen, gänzlich auf sich selbst gestellt, unter anderem hier im nebeligen Norden durch Forst-, Wasser- und Landwirtschaft die Grundlagen unserer heutigen mitteleuropäischen Zivilisation.

Aber die ursprünglich dazugehörige wetterfeste Kultur, die eigene Art zu beten, zu arbeiten und zu lesen, ist längst dem Vergessen anheimgefallen. Spätestens mit dem „Herbst des Mittelalters“, den Johan Huizinga für die flämisch-wallonische Welt so eindrücklich beschrieben hat, gingen Geist und Wissen, Handwerk und Kunst, wie sie sich innerhalb der tausend Jahre zuvor entwickelt hatten, in ihrer bis dato unbestrittenen Geltung still und, in entdeckungsfreudigem fortschrittsgläubigem Zeitgeist, weitgehend unbetrauert dahin.

HerbstSchlussPunkt (3)

Jedem Kulturpessimisten hingegen ist der jahreszeitliche Herbst ein Fest. Hier sieht er alles ausgebreitet, wofür er keine differenzierten Worte findet. Die Trauer des Herzens und der Seele wird ihm behelfsmäßig sozusagen eine Augenweide. Im Blick auf den Baum mit seinen welkenden Blättern an trübsinnig nach unten hängendem Zweigwerk vermeint er das Ende der Welt zu erkennen.

So „geerdet“ kann es da mitunter einen verhängnisvollen Umschwung geben: Der Philosoph wird zum Terroristen, gibt seine eigene Tradition hemmungslos wetternd preis. Kein schöpferischer Impuls wohnt ihm dann mehr inne, sondern es triumphiert die Aggression. Das Pikante dabei: Er wähnt sich auch noch gesamtgesellschaftspolitisch im Recht, wenn er nur gründlich allen Eigencharakter über Bord wirft, das Kind mit dem Bade ausschüttet, jegliches Autobiographische von Sprache, Sitte, Staatlichkeit, Sehnsucht, Schönheit, Substanz sui generis demonstrativ verachtet und sie denen madig macht, die in herzbetonter wie seelischer Trauer verbleiben, um diese innerlich durchzuarbeiten und gerade in fortwährender geduldiger Bewältigung neue Kräfte zu bekommen.

Mir scheint, dass die 68er-Bewegung, bei allen berechtigten kritischen Äußerungen und daraus folgenden Umwälzungen, aufs ganze gesehen die eigentümlich herbstlich-individuellen Stärken des Einzelnen völlig unterdrückt hat. Dieses diktatorische Gebaren fällt ihnen mittlerweile auf die Füße. Rechtschreibreform und Rauchverbot haben viele Bürger noch hingenommen. In Hinsicht auf Genderquoten und sonstige „Gerechtigkeiten“ aber sind mittlerweile etliche Zeitgenossen nicht zuletzt von jener rohen Humorlosigkeit genervt, mit der diese gedankenpolizeilichen „Anliegen“ exekutiert werden. Und bei den immer offizieller werdenden Verteufelungen von automobiler Fortbewegungsfreiheit oder deren Gängelung durch hohe Kraftstoffpreise sieht es schon ganz anders aus: Gelbwestfilme sind angesagt – vive la France!

HerbstSchlussPunkt (4)

Tiefstehende Sonne lässt vielleicht aufmerken. Dass die Monaden bei Leibniz fensterlos gedacht sind, müsste eigentlich schon zur Genüge irritieren. Und die Auffassung, geschichtliche Entwicklungslinien höben an und vergingen, ohne auch nur leiseste Spuren zu hinterlassen, ist zumindest anfechtbar. Es gibt bei Huizinga unter vielen schönen Sentenzen auch diesen aufschlussreichen Satz: „Das spätere Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist.“ Also ein Herbstabschnitt, auf Schluss und Zielpunkt eingestellt, aber doch so, dass zumindest die priviligierten Schichten in ihren eingeübten, womöglich auch eingefahrenen Ritualen und Gebräuchen souverän hantieren und ihre Rollen spielen konnten. Individuelle Lebenslust war, allem Verfall zum Trotz, nicht minder, sondern durchaus stark. Das frei kräftemessend wettspielerische Element nahm nicht ab, sondern zu. Und wer nicht dieser Hautevolée angehörte – also zu den allermeisten zählte – , lebte so vor sich hin in Mühe und Arbeit wie ehedem die gesamte geschichtlich greifbare Menschheit nach dem Sündenfall.

Solch von 68er-Seite wütend bekämpfter postlapsarischer Urgrund von Kultur und Zivilisation macht bei aller Rede vom frühlingserwachten Werden und herbstdämmrigen Vergehen den biblischen Stachel aus: wider die Lust und / oder den Frust am Untergang. Was sich jahreszeitenunabhängig, epochenübergreifend und erstaunlich allwettertauglich durchzieht, ist jene Schwäche, die es dem Menschengeschlecht letztlich versagt, eine durchgehend stabile, allzeit gültige und überall gleichermaßen anerkannte Herrschaft aufzurichten. Man möchte angesichts der historisch tausendfach verbürgten Fälle von Machtergreifung in wessen Namen auch immer ausrufen: Gott sei Dank. Aber zugleich ist dem alten Adam eine ihm ursprünglich total fremde, jedoch frohe Kunde ganz von außen göttlich eingeflößt, die es ihm erlaubt, mit neuen Augen seine dunkle Misere zu durchschauen.

Aus diesen Lichtstrahlen, die vor lauter Bäumen dann doch den Wald durchscheinen lassen, speist sich unser christliches Abendland. Möglich, dass sich dessen äußere Formen verändern werden und es insofern untergeht wie bisher noch jede von den unzähligen Kulturen, die geschichtlich verbürgt sind. Von den Hethitern über die Zisterzienser bis zur Trauerweide und zum Herbstwald mit sich ankündigendem niedrigen Wintersonnenstand über erstem Schnee: Von allen ist am Schluss doch etwas übriggeblieben. Die Hethiter sind das bisher nachweislich erste Volk mit indogermanischer Sprache; die Zisterzienser wirken in ihrer innovativen Art weiter: Die konnten richtig zupacken! Und mit den Bäumen gilt: Jegliches Vergehen nimmt ein Ende, findet friedlichen Beschluss, kommt zum Punkt, ganz standhaft. Hoffen wir auch diesmal das Beste.

Fotos: (1) Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara, 2014; (2) Mauerwerk ums Kloster Loccum, 2018; (3) Trauerweide, 2018; (4) Schlosspark in Rastede, 1979.
Zitat aus: Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (1941). Herausgegeben von Kurt Köster. Stuttgart 1987. Seite 83.

 

 

 

 

 

 

Geschichtsentsorgung

Während die Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum eher vor sich hindümpeln denn wirklich mitreißen, erreicht mich via Internet folgende Nachricht: „Unsere Religion ist perfekt. Deshalb brauchen wir sie nicht zu ändern, selbst wenn die Regeln darin einigen Menschen nicht gefallen. Allah hat die Religion perfekt gemacht, und sie gilt bis zum Jüngsten Tag.“

Da sagt ein frommer Muslim und deutscher Normalbürger, was er so denkt im Sommer 2017, an den Jahrestagen des Angriffs in Nizza und des „Putsches“ in der Türkei 2016. Er tut dies mit anschließendem Verweis auf Sure 5 („Der Tisch“) Vers 3, wo es nach der Erörterung von verbotenem Fleischgenuss heißt: „Dies alles ist Frevel. Die Ungläubigen verzweifeln heute an euerer Religion. Darum fürchtet nicht sie, sondern Mich [Allah]. Heute habe Ich eueren Glauben für euch vollendet und habe Meine Gnade an euch erfüllt, und es ist Mein Wille, dass der Islam euer Glaube ist.“

In meiner Koranausgabe [Der Koran arabisch-deutsch, herausgegeben nach der Übersetzung von Max Henning von Murad Wilfried Hofmann, München 2001] ist hier ein Sternchen angebracht: „Dieser Satz, mit dem die Verkündigung des Islam vervollständigt wurde, wurde am 9. Tag des Pilgermonats im Jahre 632 [n. Chr.], kurz vor dem Tod Muhammads, in Arafat geoffenbart.“

Gemäß einer derzeit unter Muslimen beliebten Hermeneutik ist stets das späteste Wort der koranischen Überlieferung in Einzelfragen wie auch in der Gesamtheit gültig. Der zitierte Vers ist als eines der allerletzt geoffenbarten Worte mithin so etwas wie eine Quintessenz des islamischen heiligen Buches. Solch ein Verstehensansatz leistet zweierlei: Zum einen wird die historische Genese des Korans nicht bestritten; zum anderen wird aber doch klar, dass Früheres durch Späteres korrigiert und somit obsolet gemacht ist.

Damit aber entwerten die Repräsentanten solchen Verständnisses, also vor allem Salafisten und Wahhabiten, faktisch große Teile ihrer eigenen geistig-geistlichen Grundlage. Die übrigbleibenden Sentenzen überhöhen sie und leugnen somit generell deren ebenfalls vorhandene zeitgeschichtlichen Bedingungen. So ist der Ideologisierung des Korans Tür und Tor geöffnet. Zugleich kann jede Kritik an heutigem islamischen Leben einigermaßen plump als Angriff auf dessen vorgebliche Quellen an sich „verstanden“ werden.

Es wäre so, als wenn bei uns jeder, der beispielsweise einen Lutheraner mit den Worten: „Ach, du immer mit deiner Heiligen Schrift“ abtäte und verspottete, mit dem Schlimmsten rechnen müsste. Beschimpfungen wie „Ungläubiger“, vielleicht auch „Teufelsanbeter“ oder „Ketzer“ zöge solch einer nach sich, und in einer derart gedachten protestantischen Gottesdiktatur würde er denn auch bei lebendigem Leibe gehängt, geköpft oder verbrannt werden, je nachdem, was die „Kultur“ eines solchen Staates im einzelnen so vorsähe.

Unbestritten hat es in der Kirchengeschichte tatsächlich massenhaft Mord und Totschlag gegeben. Insofern wäre dem heute wütenden Islamismus wenig entgegenzusetzen – die Kreuzzüge müssen deshalb ja tatsächlich immer noch herhalten, um die Bösartigkeit der Christen zu untermauern, von den Verschwörungen „zionistischer“ Juden ganz zu schweigen. So kann aber gleichzeitig auch prima abgelenkt werden von den Verfehlungen im Namen „des“ Propheten.

Man rechnet also auf. Und weiß sich dennoch, selbst bei Herbeizitierung gemeinsam, wenn auch gegeneinander erlebter historischer Ereignisse, stets im Recht: Denn man besitzt ja die perfekte Religion! Wie praktisch! Als ob das Ziel der Geschichte bereits jetzt in derselben erreicht sei! Super, wenn man sich hic et nunc schon auf der richtigen Seite wähnen darf! Das erleichtert so einiges. Mit einzelnen zeithistorisch bedingten Gegebenheiten geschweige denn eigenen schuldhaften Verstrickungen muss sich niemand der so Begnadeten länger aufhalten!

Wessen Gottesbindung „perfekt“ ist, bedarf keiner weiteren Korrektur. Vollkommenheit ist für so jemanden schon alltägliche Realität, und gesunde Furcht vor dem Jüngsten Tag ist also eigentlich gar nicht mehr nötig. Demut und Selbstzweifel können unterbleiben oder als Ablenkung und Firlefanz verleumdet werden; „Frieden“, „Versenkung“ oder gar „Unterwerfung“ sind fortan – also seit den letzten für absolut gültig erklärten Versen des Koran – den Anhängern dieser Art von Schriftauslegung nur noch Angelegenheit und Pflichtaufgabe für die „anderen“; denn man selbst besitzt ja bereits die Wahrheit, vulgo: hat die Weisheit mit Löffeln gefressen …

„… hier auf Erden schon / das Himmelreich errichten“: Armer Harry Heinrich Heine! – Saudiarabien und Daesch sind heutzutage die Speerspitze der Bewegung, grünschwarz mit Tendenz zur absoluten Finsternis. Sie reihen sich da ein in jene „Bewegungen“, die auf ihre Weise dem Gericht Gottes vorgreifen wollen, selbst und gerade dort, wo sie alles andere als fromm sind: Da ist es letztlich einerlei, ob sie nun als „Schwarzer Block“ firmieren oder als „Totenkopfverband“…

Gemeinsam ist den islamistischen, kommunistischen und nationalsozialistischen Trupps in Geschichte und Gegenwart, dass sie in ihrem Terror wesenhaft keinen Deut „besser“ sind als die Jakobiner, die einst im Namen der „Menschenrechte“ und der „Wohlfahrt“ alle ausrotten wollten, die gegen sie waren.

Es wäre an der Zeit zu fragen, ob es wirklich die Große Französische Revolution sein muss, von der wir in Westeuropa unser derzeitiges Selbstverständnis (noch) herleiten. Wie ist es denn eigentlich um die Geistesgeschichte bestellt? Warum ist der Begriff vom „Kampf der Geister“ so aus der Mode gekommen? Nur deswegen, weil ihn deutsche Professoren im Ersten Weltkrieg einseitig zugunsten der Durchsetzung eines „Siegfriedens“ benutzt haben? Desavouiert sich ein Gedanke allein dadurch, dass er im Laufe der Geschichte gelegentlich missbraucht wurde?

Wer die Romantik vom Ende des achtzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bedenkt, findet dort eine literarisch-künstlerische Vielfalt, die sich politisch nicht eindeutig zuordnen lässt. Das liegt daran, dass sich Leute wie Schubert oder Novalis auch nicht von ferne hätten vereinnahmen lassen für/gegen Revolution oder Reaktion. Sie waren einfach sie selbst, in unerschütterlicher, wenngleich leidgeprüfter Freiheit. Auszurichten vermochten sie nach messbaren Erfolgen und nachvollziehbaren Zahlen nichts – aber sie waren als wache Zeitgenossen beseelt von dem Gedanken, ihre Weltsicht auszubreiten in einer derart undogmatischen Manier, dass sie dann doch im stillen vielen anderen zu Vorbildern und Überlebenshilfen wurden.

Bei aller inneren Abgeschiedenheit wussten sie sich im Fluss der Geschichte. Der Sinn für Historie ist konstitutiv für unser christliches Abendland, seit es begann mit der Rückerinnerung an das Römische Reich in der karolingischen Renaissance. Später, im Humanismus, gab es wieder eine produktive Geistesbewegung, die sich als „Wiedergeburt“ der griechisch-römischen Antike verstand und die Neuentdeckung der biblischen Botschaft nach sich zog. Die Reformation ist ohne die humanistische Hochschätzung historischer Quellen gar nicht denkbar. Die Heilige Schrift wurde – zwar nicht zum ersten, aber zu einem entscheidenden Mal – als Zeugnis der Geschichte wahrgenommen.

Zugleich machte man sich daran, die Bibel in ihrem Verhältnis zur durch sie hervorgerufenen Kirchengeschichte zu untersuchen. Das führt bis heute zu einer kritischen Würdigung von allen möglichen Formen der moralischen Ausrichtung in den Gemeinden, der theologischen und philosophischen Erschließungsversuche sowie der unterschiedlichen Ansätze, Verstehensgrundlagen darzulegen.

Bei allen Zugängen, ob nun lebenspraktisch, erkenntnistheoretisch oder hermeneutisch, wurde und wird das Evangelium als geschichtsrelevant vorausgesetzt, hat es doch zum Inhalt die Begegnung des menschgewordenen Gottes zu einer bestimmten Zeit – und von daher: prinzipiell für alle Zeiten! Auf den Fuß folgt ein fundamentales Eingeständnis, nämlich in diesem Äon alles andere als unsterblich zu werden. Kreuz und Auferstehung wären ohne Erkenntnis von Unvollkommenheit und also Sterbenmüssen gar nicht notwendig.

Mit dem Sündenfall ist mithin die geschichtliche Dimension des Menschseins coram Deo gegeben. Daraus folgen die Unzulänglichkeiten aller einzelnen historischen Begebenheiten in dieser vergänglichen Welt. Der Himmel kommt zur Erde im Gekreuzigten und Auferstandenen, ohne dass damit den irdisch hier Lebenden irgendeine Perfektion zugesagt wäre. In christlichem Verständnis bleibt das Leben durchaus bis zuletzt spannend – und was dann Christus am Jüngsten Tag wirkt, ist nicht unsere Sache. Gott sei Dank!

Religiös-abendländisch durchzuhalten geht immer die einzelne Person an, die sich zu bewähren hat, ohne dass diese perfekt sein müsste. Sie würde sonst zur Selbstüberschätzung neigen und wäre zur Selbstgerechtigkeit prädestiniert. Es ist besser, sich irdisch sündig zu wissen und zugleich von Gott grundlos gerechtfertigt – anstatt sich im Besitz absoluter Wahrheit zu wähnen und daraus abzuleiten, Zwang auf andere auszuüben.

Biblische Hermeneutik geht von der Erlösungsbedürftigkeit eines jeden Menschen aus, ohne Unterschied. Daher wird es hier immer eine Differenz geben zwischen Botschaft und Anwendung in den Irrungen und Wirrungen menschengemachter Weltgeschichte. Die Interpreten eines heiligen Buches, die als ebenso unantastbar gelten und von ihren Zeitgenossen selbiges verlangen, haben diesen entlastenden Blick auf die Unvollkommenheit menschlichen Lebens hingegen nicht. Darum müssen dann Verdammung und Vernichtung letzte entscheidende böse Auswirkungen sein.

IMG_20170524_181440

Da kann man nur sagen: Wie gut, dass es die Bibel gibt. Sie enthält in sich bereits den Ursprung zu stetiger Prüfung, Erneuerung und Veränderung kirchlicher Formate an jedem Ort zu jeder Zeit von allen Menschen. Nichts ist endgültig, weil Gott selbst das Ziel der Geschichte ist.

Es wäre bitter nötig, im laufenden Jahr des Reformationsjubiläums diese anthropologische Grundkonstante Alten und Neuen Testaments breitenwirksam öffentlich zur Sprache zu bringen. Orangefarbene Plakate sind gut und schön: Doch Licht und Liebe, also Gelb und Rot, haben nur dann ausreichend Kraft und Gewicht, wenn sie sich der Sogwirkung islamistischer, kommunistischer und nationalsozialistischer schwarzer Löcher mannhaft und ganz ausdrücklich erwehren.

Wer sich die historische Wirklichkeit ansieht, stellt fest, dass es auch in der islamischen Welt seit jeher unterschiedliche Richtungen gegeben hat. Wie die Christenheit ist auch der Islam in verschiedene Konfessionen unterteilt, das bedeutet: in vielfältige Interpretationsansätze zum Verständnis des heiligen Buches. Reformation ist und war in den christlichen Kirchen immer dort möglich, wo zur Bibel das jeweilige Bekenntnis sich als ein geschichtlich bedingtes Gegenüber verhält. Das relativiert jede Form geistlichen Lebens, ohne dass irgendeine von vornherein undiskutabel wäre – so sie denn an der Heiligen Schrift sich redlich zu orientieren sucht.

Entscheidend ist, dass niemand allein „Recht hat“. Christliche Demut versagt sich jegliche Besserwisserei – und ist, so gesehen, im Grunde immun, wenn nicht gar: „autonom“ im Blick auf alle, die kurzschlüssig vom Allerhöchsten auf sich selbst und dann wiederum auf Gott schließen, nur um zu befinden, dass sie selbst und niemand sonst „perfekt“ seien. Mit solch einer ebenso egomanischen wie totalitären Weltsicht – und keineswegs etwa: weiten weisen Gottesschau! – wird die Geschichte selbst entsorgt, jener Fluss der Zeiten, der bei allen Überheblichkeiten doch auch immer der Korrektur Raum bietet: der Einsicht, der Umkehr – und somit erfahrener Gnade.

Foto: Aus einem Programmheft für den Evangelischen Kirchentag 2017.