Märzgefallen

Gefallen im März 2020. Die Trauerweide in meinem Garten hat mir einmal mehr den Fall höchster Freude beschert. An ihren in die Tiefe fallenden Zweigen sprosst, wie jedes Jahr im Frühling, zartes junges helles Grün. Das ist in diesem Fall die gute Nachricht. Und nun die in Corona-Zeiten keineswegs zufällig schlechte: Da kommen sehr viele Fallzahlen auf uns zu. Nicht, wie es euch – und uns – gefällt, ist der Fall; sondern was uns fällt, wird dieser Welt zum Fall.

Gefallene Helden um die Iden des März: Caesar fiel am Fünfzehnten des Monats, vierundvierzig Jahre vor Christi Geburt und deren Versöhnung des adamitischen Sündenfalls. Beethoven starb am 26. März 1827 im Gefallen an dem schönen Wort Plaudite amici – comoedia finita est – „Freut euch, Freunde – das Lustspiel ist beendet“. Und am 22. März 1832 gefiel sich der liebe Gott auf jeden Fall an der letzten Sentenz des sterbenden Goethe von wegen „mehr Licht“.

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Die Märzgefallenen des Jahres 1848 post Christum natum sind dann namengebend geworden für die massenhaften Vorfälle in Wien am 13. März und in Berlin am 18. März, die längst fälligen Demonstrationen auf den Barrikaden – für die bürgerliche Freiheit. Vor allem waren es Handwerker, aber auch Intellektuelle und Künstler, die für den Fall von Pressezensur und allen sonstigen Eingriffen in die persönliche Freiheit sich stark machten. Österreichs Kanzler Metternich fiel und floh, Preußens Königspaar entfiel beim Trauerzug für die Gefallenen auf fordernden Zuruf des Volkes immerhin die Kopfbedeckung – für einen kleinen Augenblick jedenfalls.

Blutig und finster wurde es am 22. März 1945 (Goethes 113. Todestag), als angloamerikanische Bomben auf die uralte Stadt Hildesheim fielen. Tausendjährige Kirchenbauten und mittelalterliche Fachwerkhäuser wurden in unsinniger Zerstörungswut ein für allemal zu Fall gebracht. Damit fiel dort die kleinteilige kirchlich-adlig-bürgerlich-europäische Lebensleistung von Jahrhunderten gleichnishaft etlichen Fallstricken zum Opfer.

In jüngerer Geschichte fallen drei märzliche Wenden auf geschichtliches Interesse: Zum ersten die „geistig-moralische“ Wende vom 6. März 1983, sehr zum Missfallen meiner Generation. Zum zweiten die deutsch-deutsche Wende, die mit dem 18. März 1990 und somit auf den Jahrestag der Berliner Märzgefallenen fällt, die erste und letzte Wahl zur Volkskammer der DDR – bevor dieser Staat dann zusammenfiel und der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 beitrat. Zum dritten gibt es jetzt eine Corona-Wende, deren Fallzahlen wir abwarten müssen und deren Ende wir mit Beifall bedenken werden.

Die Spaßgesellschaft mit ihren „Gefällt mir“-Klicks hat wenig Substanz, wenn wir die rhetorisch eindrückliche Fallstudie des französischen Staatspräsidenten im Herzen bewegen und mit ihm im Chor einfallen, dass wir uns „im Krieg“ befinden. Fällig wären dann nämlich die an dem Virus Gestorbenen: für ein Denkmal der Gefallenen. Ein Fall von Helden im Jubiläumsjahr von Hegel, Hölderlin und Beethoven. Für alle drei Genannten fällt der Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Male an.

Mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 (Märzgefallene in Berlin 1848; DDR-Volkskammerwahl 1990) hat unsere Bundeskanzlerin womöglich unauffällig ihren Gefallen bekundet an historisch bedeutsamen Fällen, Einfällen, Ausfällen. Mir fällt dazu jedoch nichts weiter ein. Unsere Wirtschaftsordnung und das Geldsystem werden voraussichtlich ins Bodenlose fallen. Dass die Regierungschefin in ihrer Rede die Relevanz des Ausfalls von Gottesdiensten und generell kirchlichen Lebens so überhaupt nicht erwähnte, sollte übrigens auch einmal auffallen. Noch nicht einmal Gottes Segen (wie sonst in vielen Neujahrsansprachen) fiel ihr ein zu wünschen. Fallweises schreckliches Fazit: Dem christlichen Abendland geht es innerhalb unserer bisher so wenig anfälligen grundgesetzlichen Ordnung an den Kragen. Aber wem fällt das in dieser ungewissen Zeit groß auf?

Im Blick auf die bewährte föderale, republikanische, demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung wird vieles fallen und neu werden: Meine Trauerweide fällt in leuchtendes unparteiisches Grün. In diesen unsicheren Zeiten ist das ein tröstlicher Zufall. Aber Zufälle gibt es ja bekanntlich nicht. Dem Märzfall des Diktators Caesar sehen wir nach wie vor zwiespältig ins Auge. Die Märzgefallenen von 1848 verdienen unser herzliches Gedenken. Dem Märzgefallen anno 2020 gilt unsere Aufmerksamkeit.

Foto: Meine Trauerweide in fallenden Zweigen und freundlichem Grün.

HerbstSchlussPunkt

Jedes Vergehen kommt zum Ende. Wäre es anders, so gäbe es nichts als Erosion, Paralyse, Todesfraß. Darin läge dann eine seltsame Übereinstimmung von vereinzelter Straftat und allgemeiner Vergänglichkeit. Doch solch schreckenerregend erdachte Perpetuierung hartnäckiger Negation erfährt eine zunächst milde, dann immer deutlichere Abschwächung bis zum gänzlichen Verschwinden ihrer selbst. Irgendwann ist nämlich im richtigen Leben auch mit dem schwelgerischsten fin de siècle einfach Schluss; da wird ein Punkt gesetzt: fertig – aus.

HerbstSchlussPunkt (1)

Im Vorhof des Museums für anatolische Zivilisationen in Ankara ist die Kopie einer freistehenden hethitischen Steinskulptur aufgestellt. Die Plastik, die im Original aus dem dreizehnten Jahrhundert vor Christi Geburt stammt, stellt Tessup dar, den Wettergott des Himmels. Seine Kopfbedeckung zieren vier Hörner; flankiert wird seine Gestalt von zwei Löwen; die Rechte ist siegend erhoben, mit der Linken steuert er vielleicht einen Streitwagen: Bewehrte Macht über alle Himmelsrichtungen; ungebrochene Gewalt über alles, was da lebt und webt und west; beidhändige Tatkraft in wetterwendischer Willkür.

Doch das Großreich der Hethiter wurde vertilgt durch den Einbruch der sogenannten Seevölker um das Jahr 1200 der vorchristlichen Zeit … Anatolien sah hernach auf seinem Boden noch unzählige andere Kulturen kommen und gehen, in je ihrem Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sollte ein Oswald Spengler doch Recht gehabt haben mit der These aus seinem in diesem Herbst 2018 nach Christi Geburt hundert Jahre alt gewordenen Buch vom „Untergang des Abendlandes“, derzufolge jede Kultur aus sich selbst heraus wächst und in sich vergeht, ohne nennenswerten Einfluss von außen, quasi organisch, bar jeglicher kontinuierlichen Nachwirkung, mithin (kon)sequenzlos?

HerbstSchlussPunkt (2)

Blicken wir auf die andere Seite der Spiegelachse, die das imaginäre Jahr Null in unserer herkömmlichen Zeitrechnungsleiste bildet. Von den hethitischen Rätseln der Jahre um 1200 vor Christus landen wir in dem erst kürzlich aus unzugänglicher Wildnis in urbares Land verwandelten Grund und Boden der Epoche um Anno Domini 1200. Die Mönche des Zisterzienserordens schufen, gänzlich auf sich selbst gestellt, unter anderem hier im nebeligen Norden durch Forst-, Wasser- und Landwirtschaft die Grundlagen unserer heutigen mitteleuropäischen Zivilisation.

Aber die ursprünglich dazugehörige wetterfeste Kultur, die eigene Art zu beten, zu arbeiten und zu lesen, ist längst dem Vergessen anheimgefallen. Spätestens mit dem „Herbst des Mittelalters“, den Johan Huizinga für die flämisch-wallonische Welt so eindrücklich beschrieben hat, gingen Geist und Wissen, Handwerk und Kunst, wie sie sich innerhalb der tausend Jahre zuvor entwickelt hatten, in ihrer bis dato unbestrittenen Geltung still und, in entdeckungsfreudigem fortschrittsgläubigem Zeitgeist, weitgehend unbetrauert dahin.

HerbstSchlussPunkt (3)

Jedem Kulturpessimisten hingegen ist der jahreszeitliche Herbst ein Fest. Hier sieht er alles ausgebreitet, wofür er keine differenzierten Worte findet. Die Trauer des Herzens und der Seele wird ihm behelfsmäßig sozusagen eine Augenweide. Im Blick auf den Baum mit seinen welkenden Blättern an trübsinnig nach unten hängendem Zweigwerk vermeint er das Ende der Welt zu erkennen.

So „geerdet“ kann es da mitunter einen verhängnisvollen Umschwung geben: Der Philosoph wird zum Terroristen, gibt seine eigene Tradition hemmungslos wetternd preis. Kein schöpferischer Impuls wohnt ihm dann mehr inne, sondern es triumphiert die Aggression. Das Pikante dabei: Er wähnt sich auch noch gesamtgesellschaftspolitisch im Recht, wenn er nur gründlich allen Eigencharakter über Bord wirft, das Kind mit dem Bade ausschüttet, jegliches Autobiographische von Sprache, Sitte, Staatlichkeit, Sehnsucht, Schönheit, Substanz sui generis demonstrativ verachtet und sie denen madig macht, die in herzbetonter wie seelischer Trauer verbleiben, um diese innerlich durchzuarbeiten und gerade in fortwährender geduldiger Bewältigung neue Kräfte zu bekommen.

Mir scheint, dass die 68er-Bewegung, bei allen berechtigten kritischen Äußerungen und daraus folgenden Umwälzungen, aufs ganze gesehen die eigentümlich herbstlich-individuellen Stärken des Einzelnen völlig unterdrückt hat. Dieses diktatorische Gebaren fällt ihnen mittlerweile auf die Füße. Rechtschreibreform und Rauchverbot haben viele Bürger noch hingenommen. In Hinsicht auf Genderquoten und sonstige „Gerechtigkeiten“ aber sind mittlerweile etliche Zeitgenossen nicht zuletzt von jener rohen Humorlosigkeit genervt, mit der diese gedankenpolizeilichen „Anliegen“ exekutiert werden. Und bei den immer offizieller werdenden Verteufelungen von automobiler Fortbewegungsfreiheit oder deren Gängelung durch hohe Kraftstoffpreise sieht es schon ganz anders aus: Gelbwestfilme sind angesagt – vive la France!

HerbstSchlussPunkt (4)

Tiefstehende Sonne lässt vielleicht aufmerken. Dass die Monaden bei Leibniz fensterlos gedacht sind, müsste eigentlich schon zur Genüge irritieren. Und die Auffassung, geschichtliche Entwicklungslinien höben an und vergingen, ohne auch nur leiseste Spuren zu hinterlassen, ist zumindest anfechtbar. Es gibt bei Huizinga unter vielen schönen Sentenzen auch diesen aufschlussreichen Satz: „Das spätere Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist.“ Also ein Herbstabschnitt, auf Schluss und Zielpunkt eingestellt, aber doch so, dass zumindest die priviligierten Schichten in ihren eingeübten, womöglich auch eingefahrenen Ritualen und Gebräuchen souverän hantieren und ihre Rollen spielen konnten. Individuelle Lebenslust war, allem Verfall zum Trotz, nicht minder, sondern durchaus stark. Das frei kräftemessend wettspielerische Element nahm nicht ab, sondern zu. Und wer nicht dieser Hautevolée angehörte – also zu den allermeisten zählte – , lebte so vor sich hin in Mühe und Arbeit wie ehedem die gesamte geschichtlich greifbare Menschheit nach dem Sündenfall.

Solch von 68er-Seite wütend bekämpfter postlapsarischer Urgrund von Kultur und Zivilisation macht bei aller Rede vom frühlingserwachten Werden und herbstdämmrigen Vergehen den biblischen Stachel aus: wider die Lust und / oder den Frust am Untergang. Was sich jahreszeitenunabhängig, epochenübergreifend und erstaunlich allwettertauglich durchzieht, ist jene Schwäche, die es dem Menschengeschlecht letztlich versagt, eine durchgehend stabile, allzeit gültige und überall gleichermaßen anerkannte Herrschaft aufzurichten. Man möchte angesichts der historisch tausendfach verbürgten Fälle von Machtergreifung in wessen Namen auch immer ausrufen: Gott sei Dank. Aber zugleich ist dem alten Adam eine ihm ursprünglich total fremde, jedoch frohe Kunde ganz von außen göttlich eingeflößt, die es ihm erlaubt, mit neuen Augen seine dunkle Misere zu durchschauen.

Aus diesen Lichtstrahlen, die vor lauter Bäumen dann doch den Wald durchscheinen lassen, speist sich unser christliches Abendland. Möglich, dass sich dessen äußere Formen verändern werden und es insofern untergeht wie bisher noch jede von den unzähligen Kulturen, die geschichtlich verbürgt sind. Von den Hethitern über die Zisterzienser bis zur Trauerweide und zum Herbstwald mit sich ankündigendem niedrigen Wintersonnenstand über erstem Schnee: Von allen ist am Schluss doch etwas übriggeblieben. Die Hethiter sind das bisher nachweislich erste Volk mit indogermanischer Sprache; die Zisterzienser wirken in ihrer innovativen Art weiter: Die konnten richtig zupacken! Und mit den Bäumen gilt: Jegliches Vergehen nimmt ein Ende, findet friedlichen Beschluss, kommt zum Punkt, ganz standhaft. Hoffen wir auch diesmal das Beste.

Fotos: (1) Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara, 2014; (2) Mauerwerk ums Kloster Loccum, 2018; (3) Trauerweide, 2018; (4) Schlosspark in Rastede, 1979.
Zitat aus: Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (1941). Herausgegeben von Kurt Köster. Stuttgart 1987. Seite 83.

 

 

 

 

 

 

HerbstZeitLos

Kein Wortspiel ist ungeeignet genug, um hier nicht aufgegriffen zu werden. „Herbstzeitlose“ wird eine Blume genannt, die in feuchtwarmen Gefilden vom Sommer bis in den Herbst hinein blüht. Ihre Toxik macht sie seit jeher für die Medizin interessant, führt aber auch zu dem anderen Namen „Giftkrokus“. Heilende und tödliche Wirkung liegen also ganz nahe beieinander, und ihre „Losung“ besteht darin, die Herbstzeit anzukündigen.

In meinem Garten gibt es keine Herbstzeitlosen, dafür liegt er allzu bestimmt in Norddeutschland. Aber die Zeitlosigkeit – hier setzt nun meine kleine Mogelei am Wortstamm los=“ankündigen“=“wahrsagen“ ein – des Herbstes zeigt sich hier in der langsamen Verfärbung der Bäume – und besonders reizvoll an der Trauerweide, die hin und wieder gestutzt werden muss, um sich danach noch voller zu entfalten. Außergewöhnlich dauerhaft leuchteten dieses Jahr die Blätter der stämmigen Gewächse.

herbstleuchten im garten

Wie ja manches Wetter oder dessen Ausbleiben einfach nur sommerlich schön war, sofern wir die Mahnerinnen und Mahner von wegen menschengemachten Klimawandels einfach mal in den Senkel stellten und sie dort ungehört=ungestört weitermeckern ließen. Was geschah uns doch gleich während eines (neudeutsch so genannten) meetings am (ich weiß es noch wie heute) Donnerstag, dem 18. Oktober? Plötzlich und unerwartet machten sich plätschernde Geräusche bemerkbar, kleine Wassertropfen rannen außen am Fenster herab: Ein REGEN !!! Dass es so etwas noch gab! Wir klebten mit unseren Nasen an der riesigen Glasscheibe – an eine Fortsetzung der Terminabsprachen war für einige Minuten gar nicht zu denken …

Wind und Wasser aus Wolken waren zurück – auch die Wärme (im Nörgeljargon stets „Hitze“ gestöhnt) schwand irgendwann. Friesennerze und Regenschirme: Sie wurden gegen jegliches Erwarten nun doch wieder benötigt. Und mittlerweile haben wir auch unsere längst vergessenen dicken Jacken und Mäntel, aus welchen kaum erinnerten Schränken auch immer, neuerlich hervorgeholt. Irgendwann endet sogar der allerewigste (!!! größtmöglichster Superlativ !!!) Sommer, es verblühen stumm die Blumen, die Bäume werfen ihr Laub lautlos ab. Eigentlich selbstverständlich, aber dieses Jahr derart erstaunlich, dass es doch einmal zur Sprache gebracht werden muss. Wer weiß, wie lange sich die Natur Zeit nimmt, wiederum derart stark ihrem ureigenen Charakter stetigen gründlichen Wechsels Ausdruck zu verschaffen …

herbst in matteren farben

Schon wird die Leuchtkraft schwächer, das Licht ermattet. Sterben geht immer mit, hier und jetzt wird’s offenkundig sinnbildlich Ereignis. Bestelle dein Haus, werde niemals übermütig, verwirf nichts als „ungeeignet“, „unzeitgemäß“ oder gar lost in time, bleibe mild und dankbar. Das Zeitlos des Herbstes steht längst vor der Tür. Kein Gift kommt dagegen an. Alle Unkenrufe ertönen zur Unzeit und verhallen gottlob im Nirwana sprachlichen Unrats. Und einige Monde weiter im Lauf des Lebens, an selbigem Ort, sprießen die richtigen Krokusse. Wetten?