Zum Bleistift

Wer die Wendung „Zum Beispiel“ ein wenig verfremden und zugleich begrenzte Heiterkeit erzeugen wollte, sagte in der guten alten Zeit: „Zum Bleistift“. Damit wurde indirekt ein vertrautes Schreibutensil nachgerade geadelt.

Wenn ich zur Chorprobe gehe, habe ich stets solch einen kleingewordenen Schreiberling in meiner Hosentasche – um Vortragsanweisungen des Kantors sofort in die Takte hineinzukritzeln. Und wo es darum geht, für wissenschaftliche Zwecke ein Buch zu lesen, tätige ich Anstreichungen darin mit eben jenem immer zuhandenen griffelähnlichen Gebrauchsgegenstand. Das Vorteilhafte an Bleistiftnotizen ist ja, dass sie einem Radiergummi bei Änderungsbedarf oder im Irrtumsfall eben NICHT standhalten!

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B, H, HB – Weichheit oder Härte und alles, was dazwischen ist: Das ist nun jüngst in Bausch und Bogen durcheinander und ins Wanken geraten, seit der Vorwurf im Raum steht, beim Referendum in Italien über eine Verfassungsänderung hätten in vielen Wahlkabinen Bleistifte ausgelegen. Sollte sich dieser Verdacht erhärten und der eherne Grund dafür, Noten und Bücher niemals mit anderem als mit IHM zu beschriften – eben WEIL man seine Züge notfalls ungeschehen machen oder zumindest korrigieren kann – , nun als Ursache einer möglichen Annullierung des ganzen großen Wahlaktes sich erweisen, dann stünde nicht nur ein Kulturgut unverschuldet im Zwielicht, sondern mit ihm ein ganzes staatliches System – dieses allerdings, im Unterschied zu jenem: schuldHAFT.

Die politisch korrekte Elite könnte freilich aus solch einem Skandal etwas ganz anderes machen: eine Hetzjagd auf den Bleistift als solchen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ursache und Wirkung krass vertauscht würden. Der bewussten holzumhüllten Bleimine Vorteil, nichts in Stein zu meißeln, könnte unterderhand umgedeutet zum empörungheischenden Nachteil pervertiert werden – : nämlich Unentschlossenem, Veränderbarem, Unzuverlässigem Vorschub zu leisten, ja, gleich ob weich oder hart oder mittel, alles andere zu garantieren als Fälschungssicherheit – und damit abzulenken von dem, was in italienischen Wahllokalen klammheimlich versucht hätte werden können: die abgegebenen Stimmzettel im nachhinein noch zu manipulieren, sozusagen per Gummikommission … Eigentlich sollten Wahlvorstände ohne Ratzefummel tätig sein, oder?

Aber seit den eigentümlichen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika anno 2000 lässt sich leider alles Mögliche tagträumen, was bis dahin in einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen undenkbar schien. Damals, vor nunmehr sechzehn Jahren, meldeten die Radiosender noch einen Monat nach dem Wahltag (der fand im November statt), also Anfang Dezember: „Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen ist weiterhin völlig offen.“ Das klang in meinen Ohren seinerzeit so, als seien die Wahlhelfer dort drüben, jenseits des Großen Teiches, mit der Situation eklatant überfordert und total hilflos.

Bekanntlich mussten schließlich Gerichtsurteile Klarheit schaffen: Denen zufolge wurde George W. Bush die Mehrheit der Wahlmänner zuerkannt. Nachdem die „New York Times“ dann wenige Monde später im August 2001 die Ergebnisse einer unabhängigen Untersuchung der Vorgänge um die Wahl 2000 für Ende September angekündigt hatte, geschah und erschütterte Nine-eleven. Danach war sogar die NYT still und widmete sich fortan anderen Themen, zeitgemäßeren sozusagen. Ein Satz lag seitdem in der Luft, wurde aber nicht ausgesprochen und geriet zum Glück auch wieder in Vergessenheit: Niemand hat die Absicht, eine Verschwörungstheorie zu errichten.

Viel interessanter war und ist und bleibt die Frage, warum die Auszählung der 2000er US-Wahl so undurchsichtig verlief. Man hatte offensichtlich zu sehr auf die maschinelle Automatisierung gesetzt: Statt Zettel mit Stift kamen vielfach unausgereifte Geräte zum Einsatz, welche in die den manchmal wohl völlig unalphabetisierten Wählern ausgehändigten Wahlkarten Löcher stanzen sollten: Allein, die Handhabung war vielfach unbeholfen oder auch nachlässig, so dass die Markierungen oftmals zwischen den Zeilen erfolgten oder aber auf dem Feld eines Kandidaten, dem der Wähler seine Stimme gar nicht hatte geben wollen. Technik also, die begeisterte.

Die diesjährigen Wahlumstände in Amerika sind problematisiert worden durch den Einsatz des Internet. Hier und dort mussten Stimmenauszählungen wiederholt werden, weil das Neuland-Netz eben doch nicht so präzise arbeitet wie der engagierte ehrenamtliche Mensch, der sich mit Kreide und Schwamm bewaffnet, um auf Zuruf hin die Striche im traditionellen Fünferpack zu realisieren – vier senkrecht nebeneinander, einer dann quer angeschrägt, von links unten nach rechts oben alle bisherigen berührend: und fertig ist das Pentapäckchen!

Im Vergleich zu solchen amerikanischen Verhältnissen wäre der jetzige italienische Urnengang eigentlich gut in den Griff zu bekommen gewesen. Die meisten Einwohner von bella Italia können ja lesen und schreiben. Aber wer hat schon damit gerechnet, dass BLEISTIFTE zum Einsatz kommen würden? War es nicht schon peinlich genug, dass im benachbarten Österreich nunmehr eine Bundespräsidentenstichwahl repetiert werden musste, weil man im Frühjahr vielerorts schlampert ausgezählt und zudem die Briefwahlstimmen eher denn vorgeschrieben geöffnet hatte? Ich frage mich langsam, ob Westeuropa seine Vorzüge, weswegen alle Welt doch gern zu uns kommen möchte, willentlich verschleudert. Jetzt werden also Bleistifte diskriminiert. Die Opfer werden getreten, statt dass die Frage verhandelt wird, wer aus welchen Gründen die armen Freunde in die Kabinen abkommandiert hat.

Solche Dinge wären doch von vornherein vermeidbar gewesen. Hier nun schafft man gewissermaßen sehenden Auges peinliche Wackelfakten, die in der Folge Anfechtungsklagen nach sich ziehen. Dass im aktuellen Fall die Bleistifte als die Bösen ausgemacht sind, tut dabei besonders weh. Da kaut etwas und spitzt zugleich an: Ich finde, diese ganzen „Orga-Teams“ und „Kommissionen“ und und und sollten sich an die bescheidenen Ratschläge des Schreibers dieser Zeilen halten, erprobt seit seiner ersten Wahl zum Klassensprecher vor zig Jahren:

Alle Wahlberechtigten bekommen papierne Zettel ausgehändigt, auf denen sämtliche Kandidaten beziehungsweise die verschiedenen Positionen zu strittigen Sachthemen ausgedruckt aufgelistet sind. Bei jedem Namen oder Anliegen stehen gleichgroße Kreise entweder für „Ja“ oder „Nein“. Einen Kuller von den beiden darf man mit einem Kreuzchen versehen. Das Schreibwerkzeug muss dokumentenechte Spuren hinterlassen beim Ankreuzvorgang. Am Ende des Tages werden die Wahlboxen durch das vorgesehene vereidigte ehrenamtliche Personal geöffnet und die Stimmzettel gesichtet, sortiert nach „Ungültig“, „Gültig“, „Ja“, „Nein“, „Enthaltung“ … Die Auszählung ist eine Mischung aus Vielaugenprinzip (sic!) und Protokollnotizen und Wandtafelmitschriften.

Kontrolldurchgänge erleichtern vor Ort die Feststellung des Ergebnisses. Während dieses ganzen Verfahrens sind an und für sich keine technischen Hilfsmittel nötig außer Papier und Kugelschreiber. Zudem sind wache Augen, klare Ansagen und ordnender Verstand von nicht zu unterschätzendem Vorteil. Wenn man dann, nach abgeschlossener Auszählung, noch einen Fernsprechapparat zur Verfügnung hat, um das Wahlresultat der nächstvorgesetzten Stelle zu melden, dann ist doch eigentlich alles gut.

Ich weiß wirklich nicht, warum diese völlig normalen Vorgänge so schwierig geworden sind. Sogar die Fortschrittlichen unter den Geheimdiensten sind dem Vernehmen nach von allerlei technischem und digitalem Gerät wieder ab und schreiben alles, was sie meinen festhalten zu müssen, wieder wie früher auf laut klappernden mechanischen Schreibmaschinen: Jeder kraftvolle und die Einzelfingermuskulatur stärkende Tastenanschlag wird so zum unmissverständlichen Treffer!

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Der Freund aller Noten und Bücher indes wäre somit rehabilitiert – einfach deswegen, weil er von vornherein bei Wahlen und im Schlapphutmilieu nichts zu suchen hat – und also dort keiner Anwesenheitspflicht unterliegt! Er ist frei, auch in Österreich oder Italien zum Bleistift … ähm: zum Beispiel.

Fotos: Ob im Oratorium „Paulus“ von Felix Mendelssohn oder in der Adventskantate „Machet die Tore weit“ von Georg Philipp Telemann: Ein Bleistift findet immer die richtigen Worte.

Geht jetzt die Welt unter?

Die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika haben den Kandidaten der Republikanischen Partei, Donald Trump, als Sieger hervorgebracht, sofern die Elektoren ordnungsgemäß kurz vor Weihnachten ihre Stimmen abgeben – und daraufhin das erwartete Ergebnis am Dreikönigstag bestätigt wird. Mit der Amtseinführung am 20. Januar 2017 ist es geschafft. Der 45. US-Präsident kann dann mit der Wahrnehmung seiner Repräsentationsaufgaben und mit der angekündigten ihm eigenen Tatkraft in den Regierungsgeschäften durchstarten.

Diese nüchternen Feststellungen seien in bewusst scharfem Kontrast geäußert zum heftigen Wahlkampf sowie zum Geheul bei uns, diesseits des Atlantischen Ozeans. Wo gehobelt wird, da fallen bekanntlich Späne. Warum regen wir Deutschen uns eigentlich ob des Ergebnisses so auf? Als Obama seine erste Wahl gewann – im Jahr 2008 – , da bejubelten die Menschen hierzulande einen Messias. Sogar das Friedensnobelpreiskomittee in Oslo ließ sich von dieser angeblichen Lichtgestalt derart blenden, dass es ihr die hohe Auszeichnung als Vorschusslorbeer zuerkannte. Doch Barack („Segen“) the President ließ, gemeinsam mit Außenministerin Clinton, in der Folgezeit faktisch kaum einen jener schmutzigen Kriege aus, die derzeit das Antlitz unserer Erde schänden.

Heute nun verteufeln dieselben Leute, die damals sinngemäß oder gar wortwörlich sangen: „Hey, Obama, leuchte!“, einen Wahlsieger, den sie noch gar nicht kennen. Gewiss ist nur: Trump passt in kein vorgefertigtes Szenario. Das macht die weitverbreitete Angst vor ihm einerseits verständlich. Was will der Mann wirklich?, fragen viele. Andererseits: Da agiert jemand völlig unabhängig von den üblichen Kampagnen, rotzt seine Ansichten raus – und wird genau dafür gewählt! Was den einen ein mulmiges Gefühl beschert, ist den anderen geradezu Anreiz, ihn zu unterstützen: in dem Bestreben, den sogenannten Eliten eins auszuwischen. Artikuliert sich da eine Ahnung, die Welt könne verändert werden ohne die ehemals Bürgerbewegten, die schon längst das Establishment bilden? Ist man deswegen so erregt, weil die eigenen Felle davonzuschwimmen droh(n)en?

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Not my President – so skandieren Demonstranten in den USA, in vermeintlicher Anlehnung an die glorreichen Zeiten, da jede Art von Betroffenheit als Druckmittel eingesetzt werden konnte, um das eigene werte Befinden für bare Münze zu nehmen und als absolute Realität hervorzukehren, der sich alles andere unterzuordnen habe. In wutbürgerlicher Absicht setzen sie das als alternativlos, von dem sie bauchgefühlig meinen, es sei identisch mit dem Gutenwahrenschönen – ohne gesteigerte Rücksicht auf die öffentliche Ordnung. Pressionen sind dann diejenigen ausgesetzt, die eine andere Sicht auf die Dinge haben und sich unterstehen, diese ihre Meinung auch noch vernehmlich kundzutun.

Schon brechen Internetseiten wegen übergroßen Ansturms zusammen – von denen man sich in manchen Kreisen erhofft, sie würden praktische Tipps geben zur Auswanderung nach Kanada. Und vielleicht kommen einige bald auch auf die Idee, von New York aus der Freiheitsstatue den Rücken zu kehren und back to good old Germany zu schippern, Endstation Bremerhaven? Nichts ist ja in diesen verrückten Zeiten undenkbar. Sich ihrer eigenen Ansichten felsenfest sichere Pilgermütter könnten dann an der Columbus-Kaje Signale aussenden, mit ihnen all jene Antennen erreichen, die sich strecken und recken nach dem Slogan: „Nicht in meinem Namen“ – als ob es auf solche geballten Selbstgerechtigkeiten ankäme!

Komplementäres Denken ist falsch. Jetzt soll Hillary so gut sein wie Donald böse? Aber auch das Gegenteil stimmt wahrscheinlich nicht: Mrs. Rodham Clinton als kriegslüsterne Zicke, die sich mit dem bundesdeutschen Betonfrisur-Röschen und dessen Chefin im Kanzleramt verbündet – versus Mr. Drumpf samt seiner pfälzischen Abstammung, der mit Putin und Schröder einen trinken geht, und schon ist der Weltfriede gerettet … Zwar mag der Philosoph Peter Sloterdijk auch knapp dreißig Jahre nach seinem Wort richtig liegen, sogar in dem einzigen Land der Welt, das von gleich zwei Frauen regiert werde, gehe es deshalb nicht besser zu als anderswo – aber nirgends hat andererseits die Erfahrung irgendwelche Fortschritte verzeichnet, so dass etwa herrschende Männer zur Vernunft gekommen wären. Maggie & Liz haben damals, Ende der Achtziger, ebenso eisern – und im übrigen: very British – Kurs gehalten wie – auf seine Weise – Birne in Bonn. Frauenpower unterscheidet sich in nichts von den despektierlich so genannten „patriarchalischen Strukuren“, die es vorgeblich „aufzubrechen“ gelte. Macht ist Macht, gleich, wem sie zufällt.

Wer nur ein bisschen sich mit Glaubensdingen befasst, weiß, dass keine echte Religion auch nur minimalen Raum lässt für das unumschränkte Schalten und Walten einer einzigen politischen Person, Institution oder imperialen Hybris. Kult wird da allein dem zuteil, was NICHT eingebunden ist in die Welt der Abstimmungen oder Putsche, Kriegserklärungen oder Rebellionen, Demonstrationen oder Revolutionen. Zufällige Geschichtsereignisse können niemals absolute Vernunftwahrheiten werden, wissen wir sinngemäß spätestens seit Lessing. Das gilt auch hier und heute. Ohne Hillary kann durchaus auch manches besser werden; und mit Donald bricht keinesfalls die Apokalypse an. Das Ende ist schließlich immer nahe! An Wahlausgänge lässt es sich nicht ketten. Ob es jetzt unmittelbar bevorsteht oder sich noch Jahrtausende Zeit lässt, weiß wahrlich nur Gott allein.

Statt also den Teufel an die Wand zu malen, wäre es angesagter, sich folgende Sätze übers Bett zu hängen: „Donald Trump wird unser Präsident sein. Wir schulden ihm Offenheit und die Chance, das Land zu führen. Unsere verfasste Demokratie fordert eine friedliche Machtübergabe.“ Das sagt die – Wahlverliererin! Hillary Rodham Clinton: ganz stark. Während sich hierzulande viele in Ratschlägen und Ermahnungen an den „Neuen“ in den USA unschicklicherweise überbieten, ja sogar eigenmächtig den Weltuntergang ausrufen, ist die im Kampf ums Weiße Haus Unterlegene selbst fair und gefasst – mit einem vorbildichen Vertrauen in die verfassungsmäßig vorgesehenen Regularien. Also bitte keine Panik.

Foto: Auswandererstadt Bremerhaven.