Verdrängter Kaiser

Auf dem gerade zu Ende gegangenen Katholikentag in Stuttgart wurde das dortige Denkmal für Kaiser Wilhelm I. mit rotem Tuch verhüllt. Damit wollten die Veranstalter auf den bösen „Kolonialismus“ aufmerksam machen, der sich angeblich mit dieser Person verbindet.

Ich bin – wieder einmal – erschüttert über das historische Rumpfwissen heutiger Protagonisten. Der Erwerb von Kolonien war im jungen Deutschen Reich nämlich durchaus umstritten. Im übrigen fungierte als der eigentliche „starke Mann“ im frisch geeinten Deutschland bis zu dessen erzwungenem Rücktritt faktisch eben nicht der Kaiser, sondern Reichskanzler Bismarck – und der hat sich in dieser Hinsicht, bei allen Schwankungen, letztlich dagegen ausgesprochen! Dass dieser Lotse 1890 von Bord gehen musste, ist dann bereits Wilhelms Enkel, dem gleichnamigen „Zwo“, anzukreiden – wenn man denn schon einen „Schuldigen“ sucht und sich nicht die Mühe machen will, auch ihn, den letzten deutschen Kaiser, differenziert zu betrachten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir nehmen die Tat laienhafter Kirchenaktivisten hier und heute daher lieber zum Anlass für eine skizzenhafte Würdigung des von katholischen Gutmenschen in der Schwabenmetropole verhängten und verdrängten evangelischen Blaublütlers, liegt doch der Geburtstag des Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen nun 225 Jahre zurück: Am 22. März 1797 erblickte der Prinz in Berlin dieser Welt Licht, nach dessen „Mehr“ auf den Tag genau 35 Jahre später der sterbende Goethe in Weimar verlangen sollte. Als zweiter Sohn des Kronprinzen und baldigen Königs Friedrich Wilhelm III. und dessen Gemahlin Luise schlug „Wilhelm der Große“ früh die militärische Laufbahn ein. Dass er einmal selber wegen der kinderlosen Ehe seines Bruders, des preußischen „Romantikers auf dem Thron“ Friedrich Wilhelm IV., erst König und dann sogar Deutscher Kaiser werden würde, hätte zunächst niemand gedacht.

Wilhelm I. war übrigens – was nicht hinreichend im geschichtlichen Allgemeingedächtnis gegenwärtig ist – ein Jahrgangsgenosse von so unterschiedlichen „Promis“ wie Annette von Droste-Hülshoff (+1848), Franz Schubert (+1828) und Heinrich Heine (+1856). Im Unterschied zu diesen verhältnismäßig früh Verstorbenen erreichte er das biblische Alter von fast 91 Jahren. Der in den Berliner Revolutionstagen 1848 fälschlicherweise als „Kartätschenprinz“ zu unrühmlichem Namen gelangte präsumptive Thronfolger wurde, nach einer dreijährigen Zeit als Prinzregent an seines erkrankten Bruders Statt, dann 1861 tatsächlich preußischer König. Mit Bismarck als Ministerpräsident begann bereits 1862 heftiger Streit: der Verfassungskonflikt um die Heeresreform.

Die darauf folgenden Waffengänge gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) wurden freilich im Sinne von „Preußens Gloria“ und der Einigung Deutschlands überaus erfolgreich. Kritischen Nachgeborenen erschienen sie allerdings als Erweis von Militarismus und Nationalismus. Wilhelm selbst aber soll geweint haben, als man ihm 1870/71 den Kaisertitel aufnötigte: Er sah in diesem Akt das alte Preußen untergehen, jene europäische Großmacht, die sich nach dem Zusammenbruch 1807 zu einem modernen konservativ-liberalen Staat entwickelt hatte.

Geburtshelferin dafür war niemand anderes als die Mutter des zehnjährigen Wilhelm gewesen, eben jene legendäre Königin Luise, die einzige Person im königlichen Tross, die seinerzeit den Mut aufbrachte, sich mit dem „Ungeheuer“ Napoleon I. im ostpreußischen Tilsit an den Verhandlungstisch zu setzen. Dessen Neffen, Kaiser Napoleon III., hat Luisens nunmehr und wider ursprüngliches Erwarten königlicher Sohn dann 1870 unter umgekehrten Vorzeichen nach der Schlacht bei Sedan als Ergebnis einer Unterredung im Weberhäuschen Donchéry als Kriegsgefangenen „ab nach Kassel“ geschickt …

Ein Jahr zuvor war der König zum Namensgeber einer ganzen Stadt erkoren worden. Der preußische Kriegshafen im Jadegebiet, dessen sumpfigen Grund man 1852/53 dem Großherzogtum Oldenburg abgekauft hatte, hieß entsprechend seit 1869 „Wilhelmshaven“. Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 ging diese Bezeichnung auch auf die benachbarte oldenburgische Stadt Rüstringen über. Wilhelmshavens Einwohner hatten dann sofort mit Kriegsbeginn 1939 unter gegnerischen Fliegerbomben zu leiden.

Wilhelm I. – wir sehen es am Schicksal der nach ihm benannten Stadt – hat eher in seinen Funktionen denn durch seine Persönlichkeit größere Wirkung erzielt. Das unterscheidet ihn von seinem politischen Gegenspieler Bismarck, über den der Monarch bemerkte, es sei nicht leicht, unter solch einem Reichskanzler Kaiser zu sein. Dennoch hat man ihn verehrt. Als er gestorben war und die geneigte deutsche Öffentlichkeit es mit dem lärmigen Enkel Wilhelm II. zu tun bekam, sangen viele Menschen: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!“

Umstritten war Wilhelm I. zu Lebzeiten gleichwohl. Fortschrittlichen galt er als Reaktionär, keinen Deut besser als sein Bruder, der 1849 die ihm vom Frankfurter Paulskirchenparlament angetragene Kaiserkrone „im Namen des Volkes“ abgewiesen hatte. Auch er, Wilhelm, der mehrere Attentate überlebte, wollte partout im Sinne des überkommenen Gottesgnadentums regieren und wusste es nicht anders. Diese äußerst konservative Grundhaltung fand allerdings in den liberalen Gedanken seiner Gattin, einer geborenen Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Königin und Kaiserin Augusta, einen gewissen Ausgleich. Die zwei Kinder des Ehepaares haben jedenfalls dahingehend gewirkt.

Tochter Luise wurde mit dem Großherzog von Baden verheiratet. Dieser brachte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles sein Hoch schlicht auf „Kaiser Wilhelm“ heraus und umschiffte so den bizarren Streit um die Frage, ob der preußische König zusätzlich nun „Deutscher Kaiser“ oder „Kaiser von Deutschland“ sein solle. – Sohn Friedrich heiratete Victoria („Vicky“), eine Tochter der englischen Queen Victoria. Die liberalen Grundsätze der beiden blieben Blütenträume. Als der Sohn Wilhelms I. 1888 die Nachfolge seines Vaters antrat, untersagte ihm Kanzler Bismarck überdies die Kontinuität aus tausend Jahren: Nicht Friedrich IV. durfte er sich nennen, sondern er musste die Numerierung gemäß der preußischen Königsfolge annehmen: So wurde er auch auf der Ebene des Reiches Friedrich III.

Sein früher Tod nach nur 99 Tagen als preußischer König und deutscher Kaiser ließ seine Witwe als „Kaiserin Friedrich“ jenes ideelle Erbe antreten, von dem der Sohn, Wilhelm II., nur wenig wissen wollte. Stattdessen begann nun das sogenannte „Wilhelminische Zeitalter“ mit all den Widersprüchen, die bis heute unsere Gesellschaft prägen. Eigenwilliges Fortschrittsdenken verband sich aber eben erst ab damals tendenziell mit moralischer Großmannssucht und geistiger Selbstzerstörung. Hier hätte die woke Diskussion um deutschen Kolonialismus im gesamteuropäischen Imperialismus einzusetzen, nicht vorher. Denn ab da geriet schließlich ganz Europa ungewollt in den großen Krieg, der als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gleich den Keim zum Zweiten Weltkrieg in sich trug.

Dass der Stuttgarter Katholikentag vergleichsweise schlecht besucht war, hängt sicherlich mit vielen Dingen zusammen. Die eindimensionale Sicht auf einen protestantischen Hohenzollern wird womöglich auch den öffentlichen Eindruck verstärken, dass die deutschen Volkskirchen beiderlei Geschlechts nicht mehr unbedingt Orte und Zeiten für geschichtlich geschulte Weisheit bieten. Wo bleibt verantwortungsvolles historisch-informiertes Nachdenken? Ein rotes Tuch – oder, mit Fontane briestig-preußisch gesagt, ein weites Feld …

RR hdN ko

Der 6. August ist ein besonderer Tag, jedes Jahr. In den orthodoxen und katholischen Kirchen dieser Welt wird die Verklärung Jesu gefeiert. Auf dem Berg Tabor leuchtet sein Antlitz wie die Sonne; der auferstandene Christus blickt durch. In den Evangelien ist diese Szene ein erster Hinweis auf Passion und Ostern – darum steht ihre Lesung im liturgischen Kalender der lutherischen Kirche, in Abänderung der Tradition, am Letzten Sonntag nach Epiphanias an, also im Winter.

Mitten im Hochsommer, am heißen 6. August Anno Domini 1806, nahm das Duell zweier Kaiser eine denkwürdige Wendung: Der eine, Napoleon, konnte ein ganzes altes Reich nicht in sein neues einverleiben und selber dessen Imperator werden, weil der andere, Franz, seines, das vom Korsen begehrte, einfach kurzerhand auflöste. So erlitt ein mehr als achthundertfünfzig Jahre währender Staat sein Knocked-Out und wurde nie wieder – auch im übertragenen Sinne nicht – Gegenstand von irgendwelchen Boxkämpfen sprich grausamen Waffengängen, von denen doch die Zeit um 1800 so übervoll war.

Dieses Römische Reich, später heilig genannt und, nach Verlust der europäischen Dimension, seit dem fünfzehnten Jahrhundert nur noch deutscher Nation angehörig, hatte sich im Furor von Revolution, Terror und Kriegen endgültig überlebt. Kaiser Franz hatte das Ende kommen sehen und bereits zwei Jahre zuvor für sich und die Seinen ein „Kaisertum Österreich“ installiert, als Reaktion auf die Ausrufung eines französischen Kaiserreichs, ebenfalls 1804, welcher im Dezember desselben Jahres die eigenartige Selbstkrönung Napoleons in Paris folgte. So gab Kaiser Franz II. sein heiligrömischdeutsches Reich preis, um als Kaiser Franz I. von Österreich ungehindert weiterregieren zu können. Seine Gesamtregierungszeit umfasst also die Jahrzehnte ab seiner Wahl 1792 bis zu seinem Tod 1835 – vierzehn Jahre davon als deutscher König und römischer Kaiser, neunundzwanzig weitere als österreichischer Herrscher in der Nachfolge der traditionellen habsburgischen Erzherzöge.

Das Römertum ging habituell eher auf Napoleon über, der ja als „Erster Konsul“ 1799 reüssiert und zunächst den republikanischen Gedanken in der diesbezüglich aufgeheizten gesamteuropäischen Stimmung starkgemacht hatte. Sein Caesarentum wurde folglich von denen, die damals dachten und mitfieberten, vielfach als Verrat empfunden. Beethovens nachträglich-spontane Widmungsverweigerung seiner Dritten Symphonie an Bonaparte ist das vielleicht prominenteste Beispiel für den intellektuellen Umschwung jener Zeit. Napoleon wurde nun nicht länger als der tatkräftige Volkstribun einer neuen allgemeinen freiheitlichen Ordnung gefeiert, sondern als ein übler Machtmensch erkannt, der sich in der Folge in halb Europa als rücksichtsloser Kriegsherr und brutaler Militärdiktator entpuppte.

Der Griff nach dem Sein als Imperator „Empéreur“ schien andererseits folgerichtig: Nach vielen Jahrhunderten der seit der Reichsteilung von Verdun Anno Domini 843 zunächst von Aachen aus herrschenden Kaiser, während in Frankreich „nur“ Könige residierten, war nun, 1804 bzw. 1806 die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. Diese Gelegenheit, nach rund achteinhalb Jahrhunderten, konnte und durfte nicht ungenutzt bleiben! Aber bekanntlich war bereits im Jahre 1815 mit dem napoleonischen Kaisergehabe Schluss. Und auch sein Neffe, der von 1852 bis 1870 als Napoleon III. einem französischen Kaisertum vorstand, hat dieses nicht halten können. Anschließend setzte sich dann die Republik dauerhaft durch, wenn auch in fortlaufenden Numerierungen von drei bis (derzeit) fünf. 1871 ging die Kaiserwürde wieder nach Deutschland, aber auch nur für gut siebenundvierzig Jahre. Danach, seit Kriegsende 1918, war endgültig Schluss damit.

Weder die beiden Napoleons in Frankreich noch die zwei Wilhelms (im Gegensatz zu Friedrich, dem 99-Tage-Kaiser des Jahres 1888!) in Deutschland haben sich sonderlich auffallend um das Erbe des im Jahre 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches gekümmert. Alle möglichen geistigen und institutionellen Anknüpfungspunkte wurden der neuen Zeit geopfert, und die war, spätestens seit den Ergebnissen des Wiener Kongresses 1815, eher national ausgerichtet. Dass das verflossene „Heilige Römische Reich“ den Zusatz „deutscher Nation“ eher einschränkend verstanden hatte und keinesfalls chauvinistisch, spielte nun keine Rolle mehr. Den dahinterstehenden Gedanken einer zumindest westeuropäisch-kontinentalen Einheit von italienisch-französisch-deutschem Gepräge sah fürderhin kein Mensch. Karolingische und ottonische Großzügigkeiten wurden im neunzehnten Jahrhundert von allen Seiten eher ausgeblendet und kämpferisch bestritten denn positiv und schöpferisch in Anschlag gebracht.

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Es musste erst der Zweite Weltkrieg zum bitteren Ende gelangen, um die europäischen Völker in ihrem Widerstreit innehalten zu lassen. Weltweit geschah dies erst ab einem anderen 6. August, dem des Jahres 1945, als durch US-amerikanisches Militär die erste Atombombe über bewohntem Gebiet gezündet und die japanische Stadt Hiroshima zerstört wurde. Dass man mit der Gründung der „Vereinten Nationen“ und später mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ versuchte, eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen, ist verständlich und nach wie vor begrüßenswert. Wie schade, dass diese Organisationen nun selbst im Klein-Klein sich längst verloren haben. Die UNO ist zu kraftlos, um Kriege zu verhindern. Und die „Europäische Union“ dieser Tage macht den Eindruck eines bürokratischen Monsters, das angesichts von „Corona“ alle Hemmungen zum Gelddrucken ablegt – geistige Gestaltungskraft ist da mitnichten am Werk …

Der verklärte Christus ist in Vergessenheit geraten, und mit ihm seine Wirkmacht. Im ottonischen Kirchenbau wäre eine Kraftquelle neu zu schöpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute man aus den Trümmern eine neue Kirche nach alten Plänen: die Michaeliskirche zu Hildesheim erstand in ihrer ursprünglichen Gestalt. Ihr einstiger Bauherr, Bischof Bernward (in die Ewigkeit gerufen Anno Domini 1022), war zeitweilig der Erzieher des späteren Kaisers Otto III. – Klar: Die Umstände der ersten christlichen Jahrtausendwende sind längst vorüber. Aber dieses Bauwerk altdeutsch-neurömischer Kaiserherrlichkeit sowie bischöflichen Mönchtums überstand dann immerhin alle weiteren Höhen und Tiefen der Geschichte – sogar ihre Verwendung als Pferdestall und Irrenanstalt im Gefolge der durch die napoleonische Bedrängnis stattgehabten Säkularisierung. Hoffen wir, dass der Name des Erzengels Michael auch weiterhin die menschlich-gebrochenen Erinnerungen wachhält; denn, seien wir ehrlich: Wer ist schon wie Gott?

RR: Römisches Reich.
hdN: heilig, deutscher Nation.
ko: knocked-out. Hoffentlich nicht. Das göttliche Humanum möge leuchten wie die Sonne.
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