22G+

Musikalisches Doppeljubiläum MMXXII: In den hundert Jahren zwischen 1722 und 1822 wurden Altes und Neues Testament erschaffen.

Vor drei Jahrhunderten schrieb Johann Sebastian Bach (1685-1750) das Deckblatt zum ersten Teil seines Wohltemperierten Klaviers, in eindrucksvoller Schönschrift. Und genau zwei Jahrhunderte ist es nun her, dass Ludwig van Beethoven (1770-1827) die Komposition seiner letzten Klaviersonate abschloss, in kalligraphisch nicht ganz so einwandfreier Niederschrift.

Es muss aber auch gesagt werden, dass Bachs berühmtes Werk überhaupt erst im Jahre 1801 vollständig gedruckt erschien: bei Simrock in Bonn am Rhein, der Geburtsstadt Beethovens! Da waren knapp achtzig Jahre schon vergangen! Der Komponist von insgesamt zweiunddreißig offiziell gezählten Klaviersonaten hingegen sah die Veröffentlichung seines Opus 111 schon im gleichen Jahr seiner Fertigstellung. Doch war die Zeit in den 1820er Jahren auch verlegerisch längst reif und empfänglich geworden für das umfangreiche Schaffen dessen, der „nicht Bach, sondern Meer“ heißen sollte, wie der dritte Wiener Klassiker einmal bemerkte.

Ihm selbst, dessen 250. Geburtstag wir vor kurzem, so gut es eben ging, gefeiert haben, war Bachs Wohltemperiertes Klavier von Kindheit und Jugend an vertraut. Schon lange vor Drucklegung dieses epochalen Werks kursierten im Bachschen Haus, also zu Lebzeiten des Köthener Hofmusikers (1717-1723) und späteren Leipziger Thomaskantors (1723-1750), handschriftliche Kopien, angefertigt von Familienmitgliedern und Schülern. Die wurden wiederum abgeschrieben und so weiter und so fort … – so dass sich diese Musik buchstäblich „unter der Hand“ rasch verbreitete, um von Kennern und Liebhabern in ganz Europa studiert und gespielt zu werden.

Durch die Vermittlung des für seinerzeit schon ältere Musik empfänglichen Barons Gottfried van Swieten (1733-1803) kannten bereits Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) solche Abschriften und ließen sich durch sie zu eigenen Bearbeitungen anregen. Dem österreichischen vormaligen Botschafter in Berlin, der 1777 mit etlichen kopierten barocken Musikalien in die Habsburgermetropole zurückgekehrt war, entging auch nicht, dass der Jungstar Beethoven bei seinen ersten staunenerregenden Auftritten im Wien der 1790er Jahren gern aus Bachs Wohltemperiertem Klavier spielte.

Dem Bonner Hofmusiker und Wiener Starpianisten „Ludwig van“ waren Kenntnis und schöpferische Aneignung von Bachs Wohltemperiertem Klavier durch den Bonner Hoforganisten Christian Gottlob Neefe (1748-1798) zuteil geworden: Der stammte aus Chemnitz, war Thomaner in Leipzig gewesen, zudem studierter Jurist und lebenskluger Musiker in einer fahrenden Schaustellertruppe, ehe man in der gleichermaßen superkatholischen wie aufgeklärt-toleranten kurkölnisch-fürstbischöflichen Residenz zu Bonn die Gaben dieses evangelischen Freimaurers entdeckte und nichts dagegenhatte, dass er seine mitgebrachten Bach-Noten pädagogisch wertvoll einsetzte.

Neefes Unterricht prägte nachhaltig Beethovens künstlerische Laufbahn. Namentlich noch im ersten Satz von Opus 111, in den zweistimmigen laufwerkartigen Passagen, meint man den „alten“ Bach im energischen c-Moll präludierend und in der Durchführung sogar ein wenig fugierend herauszuhören.

Der ganze Kosmos Beethovenscher Klaviermusik ist, wie jede Komposition für besaitete Tasteninstrumente, überhaupt nur in solcher harmonischen Fülle möglich geworden dadurch, dass man in der Bachzeit die reine und die mitteltönige Stimmung zur „wohltemperierten“ weiterentwickelte – eine physikalische Glanzleistung! Man meliorisierte die Intervalle so, dass alle zwölf Töne der chromatischen Aufeinanderfolge innerhalb einer Oktave gleichberechtigt als Grundtöne fungieren konnten. Ohne kleine Schummeleien ging das nicht – aber hier führt einmal die Überlistung der Natur zu schönen Ergebnissen. Um solch neu gewonnene kreative Freiheit theoretisch und praktisch zu demonstrieren, stellte Bach seine Präludien und Fugen je paarweise zusammen, gleichnamiges Dur und Moll direkt hintereinandergeschaltet und dann in dieser Manier halbtonschrittweise aufsteigend jeweils die nächsten beiden Paare …

Den 24 wohltemperiertklavieristischen Pärchen aus Köthen ließ Bach in Leipzig zwei Jahrzehnte später (1742/44) noch einmal so viele folgen, gewissermaßen bei Durchsicht seiner Bücher: Den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Also zweimal 24 Präludien & Fugen, 48 Stücke pro Teil, 96 insgesamt! Stundenlang lässt sich darin stöbern und daraus spielen – das machte Bach selber gern: Wenn er keine Lust hatte, einem Schüler ausführlich Klavierstunde zu erteilen, dann setzte er den auf einen Stuhl und sich selbst ans Instrument, vergaß die Zeit und füllte sie zugleich aus … Einer der derart zum Zuhören geheißenen Eleven hat später berichtet, es sei ihm wie wenige Minuten vorgekommen: also alles andere als langweilig!

Das erste Paar bei Bach steht in C-Dur. In flexibler, sozusagen mutierter Betrachtung ist Beethovens letzte Klaviersonate in ihrer Zweisätzigkeit ebenfalls paarweise angelegt, c-Moll/C-Dur. Die hochdramatisierte Frage, warum es denn in Opus 111 keinen dritten Satz gebe, ist, bei aller geistreichen musikphilosophischen Auseinandersetzung bis hin zum „Doktor Faustus“ (1947) eines Thomas Mann, wenig aussagekräftig für die traktierte Sonate selbst: Hier hat Beethoven eben den zweisätzigen Typus grundgelegt, ähnlich wie bei den beiden kleinen Klaviersonaten Opus 49 (Nummer 1: g-Moll/G-Dur// Nummer 2: G-Dur/G-Dur) oder bei den gewichtigen Opera 54 (F-Dur/F-Dur) und 90 (e-Moll/E-Dur). Auch Haydn und Mozart haben zweisätzige Sonaten hinterlassen, ganz zu schweigen von den vielhundert Einsätzigen des Bach-Zeitgenossen Domenico Scarlatti …

Von den gebrochenen Akkorden ohne Melodie im ersten Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier bis hin zur Arietta-Melodie nebst ihren harmonisch und rhythmisch immer ausziselierteren Variationen im letzten Sonatensatz Beethovens ereignet sich ein musikalischer Höhenflug, der seinesgleichen in der Weltgeschichte sucht. C-Dur in allen Facetten: daraus ergibt sich alles weitere. Zwischen Bach und Beethoven.

Das verlangt mehr, bis nahe an den Punkt, den Bogen zu überspannen. Klingt dann ein „neues C-Dur“ auf, etwa in Beethovens Diabelli-Variationen, in Franz Schuberts Wandererfantasie, gar in Robert Schumanns Toccata und Fantasie? Von 22 ab geht die Geschichte jedenfalls weiter: Und die Dominante von C ist immer noch G! Danach kommt noch was. Wie 1722 und 1822 geschehen, so lässt sich das für unser 2022 vielleicht ja doch auch hoffen. Zweiundzwanzig perfekte Partizipien schlage ich hier vor zur Beschreibung von Entstehung, Umgang und/oder Aneignung musikalischer Werke, ganz unverbindlich:

22G gesetzt – gespielt – gehört – gekonnt – geübt – genossen – gefühlt – gelesen – gemocht – gelobt – geschrieben – gedruckt – gesungen – gelungen – geschaffen – gelernt – geplant – gebaut – geklärt – gelehrt – gerühmt – geschafft plus gerngehabt … 🙂

Biblische Ausmaße – und damit sei geschlossen, wie oben begonnen! – kommen mit Hans von Bülow (1830-1894) ins Spiel: Der Pianist und Dirigent hat Bachs gesamtes Wohltemperiertes Klavier und sämtliche 32 Klaviersonaten Beethovens in diesen erstaunlichen Zusammenhang gebracht: „Das wohltemperirte Clavier ist das alte Testament, die Beethoven’schen Sonaten das neue, an beide müssen wir glauben.“

So ultimativ ausgerüstet wünsche ich allseits ein klangvolles Jahr 2022!

Bach

Am 21. März 1685 wird in Eisenach der laut Neuem Brockhaus (1960) „größte Tonmeister aller Zeiten“ geboren, Johann Sebastian Bach. Er ist das jüngste von acht Kindern des Stadtpfeifers Ambrosius Bach und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Lämmerhirt. Die Musikerfamilie Bach ist in mehreren Zweigen im ganzen thüringischen Raum verbreitet – seit der Einwanderung des „Stammvaters“ Veit Bach Anfang des 17. Jahrhunderts als protestantischer Glaubensflüchtling aus Ungarn.

Der kleine Johann Sebastian besucht die Lateinschule in Eisenach, wo fast 200 Jahre vorher auch Martin Luther die Schulbank gedrückt hat. Eisenach liegt unterhalb der Wartburg, wo der Reformator einst als „Junker Jörg“ lebte; hier hatte er die Arbeit an seiner bahnbrechenden hochdeutschen Bibelübersetzung begonnen, die auch in der Bach-Familie als Hausbuch Grundlage allen Lebens ist.

Aus dem vertrauten Urort evangelischer Kultur wird Bach jedoch allzubald herausgerissen: Als er acht Jahre alt ist, stirbt seine Mutter; mit zehn Jahren, nach dem Tod auch des Vaters, ist er Vollwaise. Vielleicht liegt in dieser frühen Lebenstodeserfahrung der Keim für die Ernsthaftigkeit und Vollkommenheit seiner Musik als einer in sich abgeschlossenen tröstenden Welt gegen den untröstlichen nur-irdischen Alltag.

bach

Sein älterer, schon erwachsener Bruder Christoph nimmt ihn zu sich nach Ohrdruf. Dann, von 1700 bis 1702, in der Michaelisschule zu Lüneburg, eignet sich der aufgeweckte Junge alle damals gängigen musikalischen Fertigkeiten an der Orgel, am Cembalo und auf der Violine an. Von der alten Hansestadt aus unternimmt er Fußreisen nach Hamburg, um die dortigen Organisten zu hören und ihre Werke zu studieren. Besonders inspirieren ihn die Choralfantasien des Johann Adam Reinken. In Lüneburg selbst bildet sich Bach im Umfeld des weithin berühmten Orgelmeisters Georg Böhm weiter. Manchmal kommt auch die fürstliche Kapelle aus Celle in die traditionsreiche Salinenstadt und bringt französisch geprägte höfische Musik zu Gehör.

Erste Anstellungen führen Bach nach Weimar, Arnstadt und Mühlhausen, also wieder nach Thüringen. Von Arnstadt aus wandert er Anfang Oktober 1705 nach Lübeck; dafür hat er einen dreiwöchigen Urlaub gewährt bekommen. An der dortigen Marienkirche hört er den Kirchenmusikdirektor Dietrich Buxtehude, vertieft sich in dessen Werke und besucht die weitbekannten adventlichen „Abendmusiken“ – da hat er den Urlaub bereits kräftig überschritten: Erst im Januar 1706 kehrt er nach Arnstadt zurück – aus den drei Wochen sind gut drei Monate geworden. – 1707 heiratet er seine entfernte Verwandte Maria Barbara Bach.

Von Mühlhausen geht Bach als Hoforganist und Kammermusiker wiederum nach Weimar. Hier kommen sechs seiner Kinder zur Welt, unter anderem Wilhelm Friedemann (*1710) und Carl Philipp Emanuel (*1714, dessen Taufpate: Georg Philipp Telemann). Viele Orgelwerke entstehen, unter vielen anderen die berühmte Toccata und Fuge d-moll mit der signalhaften Wechselnote zu Beginn. Überdies legt er ein „Orgelbüchlein“ an, in dem er eigene Liedbearbeitungen nach der Ordnung des Kirchenjahres beispielhaft zusammenstellt.

Bach wendet sich 1716 an den Hof des Fürsten von Anhalt-Köthen. Der Weimarer Dienstherr will seinen Konzertmeister jedoch nicht gehen lassen und steckt ihn in eine Arrestzelle. So ist Johann Sebastian Bach wohl der einzige unter den ganz großen abendländischen Komponisten, der einen Gefängnisaufenthalt erlebt – wenn auch nur für einen Monat: dann gibt der Herzog seinen Widerstand auf und lässt Bach ziehen.

In Köthen findet der nunmehrige Kapellmeister und „Director derer Cammer-Musiquen“ völlig andere gesellschaftliche Verhältnisse vor als an seinen bisherigen Dienststellen. Für ihn gibt es hier keine unmittelbaren kirchenmusikalischen Betätigungsfelder; denn die Fürstenfamilie gehört dem evangelisch-reformierten Bekenntnis an. Bach hält sich in Köthen zur kleinen lutherischen Gemeinde; dort ist er als regelmäßiger Abendmahlsgast verzeichnet.

Der Komponist widmet sich der Haus- und Hofmusik. Das „Wohltemperierte Klavier“ und andere bedeutende Werke für Tasteninstrumente entstehen, außerdem die „Brandenburgischen Konzerte“. Mit dem Fürsten ist Bach freundschaftlich verbunden. Aber die Wirksamkeit in Köthen wird schicksalhaft überschattet, als 1720 seine Ehefrau stirbt. Nach Ablauf der Trauerzeit heiratet Bach 1721 die Sängerin Anna Magdalena geb. Wülken, mit der er insgesamt 13 Kinder hat, unter den das Säuglings-und Kindesalter überlebenden die späteren Musiker Johann Christoph Friedrich (*1732) und Johann Christian (*1735).

Im Jahr 1722, nach dem Tod des Leipziger Thomaskantors Johann Kuhnau, bewirbt sich Bach auf die freigewordene Stelle. Er sucht seit längerem städtische Umgebung, um seinen ältesten Söhnen ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Zum 1. Sonntag nach Trinitatis 1723 tritt er das Amt des Kantors an der Thomasschule und des städtischen Musikdirektors über die Hauptkirchen in Leipzig an. Hier eröffnet sich dem nunmehr 38jährigen Künstler ein reiches, aber auch mühsames Betätigungsfeld. Den Thomanern hat er nicht nur Musikstunden, sondern auch Unterricht in den Fächern Latein und Religion zu erteilen. Um zu letzterem befähigt zu sein, hat er sich vor Amtsantritt einem theologischen Examen unterzogen, im Sinne der ihm vertrauten lutherisch-orthodoxen Glaubenslehre.

Musikalisch-kompositorisch gehört fortan zu Bachs Aufgaben, an jedem Sonn- und Feiertag – ausgenommen nur die Zeiten vom 2. bis 4. Advent und die Sonntage in der vorösterlichen Fastenzeit – Kantaten aufzuführen. Die kann man heutzutage regelmäßig in den Sendungen mit geistlicher Musik im Radio hören; Bachs Werke sind frei zugänglich, fernab von jeglichem Spezialistentum. Sie gehören zum allgemeinen Bildungsgut zumal im protestantischen Deutschland.

Bach verschreibt sich der Anforderung, Kantaten zu komponieren, mit Herzblut – er legt in bezug auf diese gottesdienstlichen Stücke für Soli, Chor und Orchester zunächst mit Feuereifer los, sieht er doch die faszinierende Möglichkeit, mittels seiner eigenen Musik zu predigen, also Sonntagsevangelium, Hauptlied oder verwandte Texte in Klangrede so darzustellen, dass der Gemeinde sich der geistliche Reichtum der biblischen Botschaft erschließen möge.

Doch bald erlahmt sein Ehrgeiz, das Kirchenjahr vollständig und vielgestaltig musikalisch darzustellen. Er muss erkennen, auf wie wenig Verständnis seine Musik beim Rat der Stadt und in den Gottesdienstgemeinden stößt. Die Leipziger haben solch starken musikalischen Ausdruck nicht erwartet – und auf Dauer wünschen sie ihn auch nicht. Bachs Musik siedelt an der Grenze dessen, was man unter bürgerlich-anständiger Kirchlichkeit versteht – und überhaupt: Man empfindet seine Kompositionen als zu schwer.

Das meint man auch von den großen Passionsmusiken, die der Kantor im Wechsel für die Thomas- und Nikolaikirche einzurichten hat: Statt jedes Jahr eine neue Passion für den Karfreitagsabendgottesdienst zu komponieren, wiederholt er ab dem vierten oder fünften Amtsjahr seine bis dahin entstandenen Werke oder führt Musiken älterer Meister aus dem Archiv auf. Wie weit die Zeitgenossen die auf uns heute so ergreifend wirkenden Großwerke „Johannespassion“ (1724) und „Matthäuspassion“ (1727) aufgenommen und verstanden haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Hier und da wird der Vorwurf einer „opernhaften“ Musik laut.

Bachs Leipziger Zeit währt 27 Dienstjahre lang, bis zum Tod am 28. Juli 1750. Es sind nicht allein die Kantaten, Oratorien, Passionen und Orgelwerke, die später seinen weltweiten Ruhm begründen – hinzu kommen als Gelegenheitswerke die Motetten und die ganze weltliche Musik, welch letztere er vielfach für das von Telemann im Jahre 1701 gegründete Studentenorchester „Collegium musicum“ erschafft. Auch Bearbeitungen von Werken zeitgenössischer italienischer Komponistenkollegen entstehen, so zum Beispiel von Albinoni, Pergolesi oder Vivaldi.

Vier Großwerke gehen außerdem weit über den Leipziger Rahmen hinaus: Im Jahre 1736 widmet Bach zwei Sätze, „Kyrie“ und „Gloria“, dem römisch-katholisch gewordenen sächsischen Hof in Dresden: Beginn seiner spät vollendeten und im 19. Jahrhundert so betitelten „Hohen Messe in h-Moll“. Damit hat der Meister seinen „ökumenischen“ Beitrag geleistet. 1747 wird Bach in eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft aufgenommen, die „Mizlersche Societät“. Für sie schreibt er die „Kanonischen Veränderungen“ über Luthers Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, das „Musikalische Opfer“, nach einem Besuch am Hof in Potsdam Friedrich dem Großen gewidmet, und zuletzt die „Kunst der Fuge“, deren letzter Kontrapunkt, wo das Thema B-A-C-H mit den anderen Subjekten verknüpft werden soll, unvollendet bleibt.

Bachs Musik wirkt bis heute umfassend in ihrer Ausgeglichenheit zwischen einfachem Melodie-und-Begleitung-Satz und höchster harmonischer bis kühner Mehrstimmigkeit. Einige Stücke sind regelrecht populär geworden: Aus den Kantaten hat es „Jesus bleibet meine Freude“ bis hin zur Titelmusik einer Fernsehsendung gebracht; ein Satz aus den Orchestersuiten hat es in die Charts der Klingeltöne fürs Mobiltelefon geschafft – und ein anderer Suitensatz ist als die „Air von Bach“ gleichermaßen bekannt und beliebt.

All dies sind aber nur äußere Blüten, die in einer konsequent gepflegten Tradition wurzeln. Bachs Musik erwächst aus dem evangelischen Gottesdienst. Viele Liedstrophen, die wir bis heute gern singen, haben in den Passionen und im Orgelwerk ihr jeweiliges Gewicht. Bach hat die Choräle derart „authentisch“ harmonisiert oder sonst bearbeitet und sich dadurch so zueigen gemacht, dass ein französischer Komponist des 19. Jahrhunderts meint, er habe auch die Melodien selber geschaffen. Tatsächlich haben wir in unserem Gesangbuch aber nur eine einzige Weise, die von Bach stammt, nämlich die zum Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“.

Ansonsten deutet Bach aus, was an Texten und Melodien in Gebrauch ist – vor allem Verse von Martin Luther und Paul Gerhardt. Seine Lieblingsmelodie: „Herzlich tut mich verlangen“, heute vor allem bekannt durch das Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“. Das Leiden Christi sich zueigen machen, weil darin das eigene Leben in aller Tiefe aufgehoben ist: Es ist dieses innige Verständnis der Passionsgeschichte, das durch das Dunkel des Todes ins neue Leben führt. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst.“ Wer diese schwarzgefärbte Musik aus der Matthäuspassion je mit geradezu mystischer Hingabe verinnerlicht hat, wird diesen starken Eindruck im Glauben nie wieder vergessen.

Neben Bachs häufig vor seine Kompositionen gesetztem Motto S.D.G, „Soli Deo Gloria“ – allein Gott die Ehre!, lautet ein anderes: J.J., „Jesu juva“ – Jesu, hilf! Das ist ein Gebetsruf an den, der alles verwandelt. Die Grenze des Todes wird zum Leben hin überschritten. Inmitten aller Dunkelheiten der Passion Jesu werden die eigenen Finsternisse klar – das ist der erste Schritt zum Heil, durch klingendes musikalisch-bewegtes Geheimnis hinein ins ewige Leben, in Töne gebracht von ihm, den wir fromm mit dem schwedischen lutherischen Bischof Söderblom den „Fünften Evangelisten“ nennen oder abstrakt mit dem von Haus aus katholischen Komponisten Max Reger als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichnen – vielleicht ihn aber auch gleich ins ganz Große einer ozeanisch-rauschhaft-tiefen unauslotbaren Erfahrungswelt befördern mit dem universal und überkonfessionell denkenden Ludwig van Beethoven: „Nicht Bach sollte er heißen, sondern Meer.“

Foto: Bach-Denkmal in Eisenach.

Köthen, Chemnitz & cetera

„Köthen, Chemnitz: deren Sorgen

gehen uns ja gar nichts an;

hach, wir fühlen uns geborgen

in dem kuscheligen Wahn,

 

dass weit hinten, da im Osten,

mördrisch-brauner Mob regiert.

Nicht bei uns – doch wir ham Kosten

… und das Land dort hübsch saniert.

 

Was die bloß zu nörgeln haben!

Dankbarkeit geht ihnen ab.

Alles Nazis, Asseln, Schaben“ –

so hält man den Hass auf Trab.

 

Dass jedoch das Schloss zu Köthen

einstmals Weltgeschichte schrieb,

jede Missstimmung zu töten

einen Bach zu Höchstform trieb:

 

fein wohltemperiert die Töne

für Klavier entstehen ließ,

dass insofern alles Schöne

in Musices überfließ‘ —

 

dies und vieles weiter Großes

wird ganz heftig ignoriert.

Auch der Sohn des Künstlerloses,

so in Chemnitz schön floriert‘:

 

Christian Gottlob Neefe hieß er,

wirkte dann in Bonn am Rhein.

Schlug dort als berühmter Lehrer

eines jungen Ludwig ein.

 

Derart  van Beat hoffentlicher,

als man es wohl glauben mag,

ging Beethoven, seiner sicher,

brav nach Wien (und nicht nach Prag).

 

Nur durch Neefe lernte Hoven

Bachs Klavier, wohltemperiert,

kennen, lieben, auszubouwen –

wunderbar elaboriert.

 

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Sollten Antifantenwessies

jetzt nicht straff einsichtig sein,

lass ich nie Kulturwestmessies

mehr in meine Fühlwelt ein.

 

Leute, wer mir noch von Köthen

oder Chemnitz Böses sagt:

dem will ich wohl eine flöten,

bis er reuevoll verzagt!

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750) war von 1717 bis 1723 Kapellmeister am Hof zu Anhalt-Köthen. Dort entstand der erste Teil seines Wohltemperierten Klaviers (1722). Christian Gottlob Neefe (1748-1798) stammte aus Chemnitz, war seit seiner Zeit als Thomaner in Leipzig mit Bachs Werk wohlvertraut, wurde später Hoforganist in Bonn und als solcher in den 1780er Jahren Orgel- und Klavierlehrer des jungen Ludwig van Beethoven (1770-1827).
Abbildung: Nein, es ist kein Bachsches Klavierstück. Hier täuscht das Notenbild. Wir sehen Takte aus Beethovens Präludium f-moll WoO 55, veröffentlicht in Wien 1803, vermutlich unter Verwendung von Entwürfen aus der Zeit des Unterrichts bei Neefe in Bonn (um 1786/87).