Wir haben keine Angst – und dann?

Beeindruckend, wie die Menschen in Kataloniens Hauptstadt Barcelona ihrer Trauer Ausdruck verliehen, obwohl aus dem ungeliebten Madrid (man will sich ja abspalten) der Ministerpräsident („…niemals vergessen, dass Spanien ein geeintes Volk ist“, meinte er bei diesem Anlass sagen zu müssen) und sogar der König (in schlichtem schwarzen Anzug mit einer ebensofarbenen Krawatte) anwesend waren. Am Ende skandierten alle: „Wir haben keine Angst!“

Aber ist das die ganze Wahrheit? Klingt das nicht mittlerweile ein bisschen wie ein brav aufgesagtes Gedicht, das die Öffentlichkeit gerne hört? Haben sich nicht allzuviele einzelne Personen diesen Slogan zueigen gemacht? Sind die Passanten, die auf den Ramblas von Journalisten befragt wurden, denn wirklich jener Meinung, die sie da treu in die Mikrophone hineinsprechen: „Schrecklich das Ganze – aber es muss ja weitergehen“ / „Ich lasse mich in meinem Lebensstil von diesen Terroristen nicht einschüchtern – das genau ist es ja, was sie wollen“ / „Wir müssen uns wohl daran gewöhnen – da kann man nichts machen“ und so weiter …

Wieder einmal werde klar, wie wenig sich offene Gesellschaften gegen solche Anschläge schützen könnten, insinuieren Moderator*inn*en (war die Reporterin in Barcelona mit einem Mao-Anzug bekleidet?) unserer gängigen bundesdeutschen Medien. „Diesen Mördern werden wir nicht gestatten …“, hebt die Bundeskanzlerin an (in einem Blazer, der ebenfalls Mao-Look-Erinnerungen hervorrufen könnte): Habe ich recht gehört? Das ist diese Schildersprache: „Rauchen nicht gestattet“. „Gestatten?“ heißt so viel wie: „Erlauben Sie?“ – und davon wäre hier die Negation zu bilden. Als ob Terroristen vorher um Erlaubnis für ihre Taten zu bitten pflegen, was dann geprüft und abschlägig beschieden worden wäre. Wenn sie es dennoch tun – eine Ordnungswidrigkeit: „Nicht erlaubt“ heißt nicht „Verboten“ …

Mit solchen der Höflichkeit geschuldeten Umständlichkeiten hält man sich in diesem Milieu erfahrungsgemäß eher zurück. Die lachen sich doch eins, wenn sich da jemand vor ihnen aufbaut und verlautbart: „Ich werde Ihnen das Morden, mit dem Sie unsere Freiheit und unsere Werte verachten, nicht gestatten“ … Oh. Dann stecken sie das bei Edeka in Barmbek geklaute Küchenmesser kleinlaut ein, lassen die eben noch in hochgereckter Hand drohend umklammerte Axt langsam und züchtig im Rucksack verschwinden … und sie treten natürlich sofort in die Eisen des weißen Lieferwagens? Ja? Töten nicht gestattet? Alles klar!?

Der Kanzlerkandidat von der SPD sagt, er sei mit der Kanzlerin übereingekommen, den Bundestagswahlkampf für ein oder zwei Tage ruhen zu lassen – aber nicht abzubrechen. Da sollen wir uns also freuen, dass man auf die Länge hin überhaupt noch Wahlkampf erleben darf. Und Einsicht haben in die angebliche Selbstverständlichkeit, dass in solch schweren Stunden alle Bundesbürger über die Parteigrenzen hinweg zusammenhalten, um „dem Terror keinen Platz zu lassen“. Nun, der Herr ist ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments. Er denkt sicherlich großräumiger als wir, die Kleinen – aber denkt er auch groß? Es wäre doch zumindest denkbar, dass dem Terror gewehrt werden könnte, wenn die nationalen Begrenzungen wieder richtige Grenzen wären: Nicht undurchlässig, aber eben kontrolliert im Sinne eines guten großen landesväterlichen Prinzips …

Diese verständnisheischend angekündigte Wahlkampfruhe verstehe ich nicht. Wäre nicht gerade jetzt Gelegenheit, das Ruder herumzuwerfen und endlich laut und deutlich alle Zurückhaltung fahren zu lassen? Rhetorisches Einerlei („betroffen, wütend, traurig“ / „Wir müssen jetzt aufpassen, dass unser Zorn auf die Mörder nicht den Rechten in die Hände spielt“ / „nicht spalten lassen“ &cetera) hat den Terror ja nicht weniger werden lassen. Und: Ist es eigentlich verantwortlich, wenn uns die Repräsentanten des Staates zwar auffordern, unseren individuell-freiheitlichen Lebensstil einfach (trotzig) weiterzuführen, aber sich mehr und mehr außerstande sehen, die Rahmenbedingungen dieser Freiheit ganz handfest zu garantieren? Warum eigentlich können Grenzen nicht geschlossen oder zumindest lückenlos durch geeignetes Personal überwacht werden? Dass man weiß, wer da alles zu uns kommt. Das ging doch früher auch, und das ganz ohne den neumodischen digitalen Klimbim.

Besonders eindrücklich fand ich vor rund dreißig Jahren beispielsweise die Grenzen zwischen Spanien und Frankreich (Bahnhof Perpignan) oder zwischen Österreich und Deutschland (Bahnhof Salzburg): Die links und rechts durch Metallgeländer eingezäunten Passagierzonen ließen ein Nebeneinandergehen schlicht nicht zu. Im Gänsemarsch bewegten sich die Reisenden an den Passkontrollen vorbei. So hatten alle Beteiligten den nötigen Überblick. Das dauerte natürlich seine Zeit – aber ein dickes Buch hatte man (auch und gerade als junger Mensch) immer dabei; und die heutigen Ablenkungen durch das je eigene Smartphone sind ja auch nicht von schlechten Eltern …

Es ist eigenartig. Wir einfachen schutzlosen Bürger sollen am besten, so „ermutigt“ man uns, weitermachen wie bisher: Also den islamistischen Terror völlig ausblenden und vergessen – aber was tun eigentlich die staatlichen Organe? Haben die uns etwa ausgeblendet und vergessen? Es scheint so. Sonst würden die Politiker öffentlich im Vorfeld der Bundestagswahl ihre jeweiligen Pläne, den Terror zu bekämpfen, kontrovers und gern auch erhitzt (jedenfalls mit spürbar vollem Einsatz) darlegen. Aber so? Wenn Ruhe die erste Bürgerpflicht hier sein soll, dann sagen uns –  auf die Spitze getrieben –  diese  nichtwahlkämpfenwollenden Mandatsbewerberinnen und Mandatsbewerber: „Dann sterbt mal schön“; der nächste Anschlag kommt ziemlich bald und sehr bestimmt, er ist nicht aufzuhalten, man muss ihn als Schicksal / Naturereignis / Gottesgericht begreifen: und schon ist wieder etwas geschehen. Aber man kann daran angeblich sogar „reifen“ (so wurde unsere derzeitige gesellschaftliche Situation im Fernsehen schöngeredet) : Turku, Wuppertal … Ehrlich gesagt, auf solch eine bereichernde Lebenserfahrung kann ich getrost verzichten.

Soll ich nach wie vor unbeschwert im Supermarkt einkaufen gehen, wenn ich weiß, dass im nächsten Moment mich einer von denen abstechen könnte, die damals bei ihrer papierlosen Einreise nach Deutschland den staatlichen Stellen buchstäblich durch die Lappen gegangen sind? Ich war nie gut in Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber so viel gesunden Menschenverstand habe ich durchaus, solch ein Szenario nicht auszuschließen. Da funktioniert nicht mehr das, was man im Straßenverkehr „Vertrauensgrundsatz“ nennt. Und genau das – wieder leider ganz buchstäblich – ist in Nizza, Berlin, London und nun in Barcelona geschehen.

Im Wahlkampf aber soll es um „Gerechtigkeit“ gehen oder darum, dass wir in Deutschland „gut und gerne leben“ können. Dies ist justement jenes Blabla, das die Dschihadisten erfreuen wird. Mal wieder gegen das Wohlleben der Christen ankämpfen! Seit Saladins Zeiten haben sie solches in ihren Augen gnadenlos (positiv gemeinter Begriff, zeugt ja von Härte und Tapferkeit) getan. El-Quds zurückerobert, den Kreuzrittern wieder entrissen, damals, 1187 nach der Kuffar-Zeitrechnung. Gewiss, später kam noch einmal ein veritabler römisch-deutscher Kaiser in die Stadt, krönte sich in der Grabeskirche selbst zum König von Jerusalem. Aber das wurde vom Papst nicht anerkannt, weil Friedrich II., Staufer und Stupor Mundi, zu diesem Zeitpunkt exkommuniziert war. Ein Gebannter durfte gar keinen Kreuzzug durchführen geschweige denn anführen. Was haben sich die „Franken“ damals selbst für ein Bein gestellt!

Als die Kreuzfahrerei in Europa eigentlich schon in Verruf stand und man das zwei Jahrhunderte währende Kapitel abzuschließen im Begriff war, rief noch einmal ein König zum Kampf gegen die arabisch-türkischen Herren im Heiligen Land, Ludwig IX. von Frankreich, recht rasch nach seinem Tode „der Heilige“ (santo subito): Dieser Ruf erscholl durch halb Europa und fand Gehör auch im Wangerland, also in der Heimat meiner Vorfahren ( N.B.: Bin ich nicht auch schuld an dem heutigen Terror, der doch, recht politisch korrekt besehen, bloß Gegenwehr ist???). Zwischen Wangerooge und Spiekeroog fuhr man hinaus aufs offene Meer, setzte die Segel, traf sich mit anderen Verbänden und gelangte Anno Domini 1270 übers Mittelmeer zu den Ruinen von Karthago, wo nunmehr die Residenzstadt Tunis sich befand. Weiter kam man nicht. Der König erkrankte und starb dort. Im Nahen Osten fiel dann eine christlich eroberte Stätte nach der anderen zurück an die muslimischen Herrscher: Fernwirkungen dieses sogenannten Siebten Kreuzzuges.

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Von alten Geschichten wie diesen zehren noch die heutigen Dschihadisten, sofern sie ihren Kampf nicht als inneres, also geistliches Geschehen verstehen, sondern eben als handgreifliche, ja militärische Pflicht. Wo wir in Westeuropa uns so aufgeklärt und friedliebend wähnen und dabei leicht von uns auf andere schließen, frönen die islamistischen Terroristen nichts anderem als der Gewalt gegen unsere Zivilisation. Die uns selbst kaum noch erinnerlichen historischen Daten werden dem Abendland (und also auch mir persönlich) nachgetragen und vorgehalten, als hätten sie sich gestern erst ereignet. Dass die islamische Welt aus der Epoche der Kreuzzüge damals letztlich als Sieger hervorging, scheint da von keinem gesteigerten Interesse zu sein. Aber auch bei uns weiß das ja so gut wie niemand mehr.

Vor solch einer geschichtlichen Unbildung, wie sie auf beiden Seiten offensichtlich herrscht, habe ich aber in der Tat: Angst. Die Terroristen töten wahllos und machen einfach alles blindwütig kaputt. Kann man diesen ideologisch Verführten und menschlich-religiös zutiefst Verdorbenen (wie eine frühere Bischöfin meinte:) „mit Liebe begegnen“? Eher stellen wir hart, aber realistisch fest: Da gibt es nichts zu erziehen oder zu argumentieren, man muss sie sich einfach vom Leibe halten – beziehungsweise vom Leibe gehalten wissen (nämlich durch den treusorgenden Staat, welch altmodisch klingender, jedoch einzig möglicher notwendiger Gedanke). Alles andere ist hoffnungslos naiv.

Wer von einem IS-Fanatiker auf die eine Wange geschlagen wurde und ihm dann vermeintlich schön bergpredigtmäßig auch die andere hinhält, bekommt eben nochmal eine geknallt – und sollte sich freuen, wenn er so, halbwegs ungeschoren, davonkommt. Jedenfalls verpufft hier von Jesu weisem Wort der ganze Witz: Denn der Ausspruch „funktioniert“ nur unter der Voraussetzung, dass beide Beteiligten die gleichen kulturellen Voraussetzungen mitbringen und wechselseitig die Provokation der anderen Wange als solche verstehen, womit ein neuerlicher Schlag eben ausbleibt. Diese Gewitztheit sollte man bei Mördern wie denen von Barcelona eher nicht voraussetzen und es darum erst gar nicht darauf ankommen lassen.

„Wir haben keine Angst“ – einer Stadtbevölkerung wie der in Barcelona (wo man von Westgoten, Arabern und Franken bis hin zu Anarchisten, Kommunisten und Faschisten alles bisher ausgehalten hat) nehmen wir solch eine Haltung ab. Aber diese bewundernswert trotzige Furchtlosigkeit muss von der Politik verlässlich umfassend geschützt sein. Wenn nicht, dann hat das staatliche Gewaltmonopol keinerlei Bestand mehr. Sollte es so weit kommen, lebten wir nur noch post libertatem, also in einem Zustand nach der Erledigung sämtlicher bürgerlicher Freiheiten, deren Ideal ihrer Verwirklichung im Individuum einmal geistige Antriebskraft für unser ganzes christliches Abendland gewesen ist. Solch eine „nachfreie“ Situation würde keineswegs bestimmt durch eine „andere“, „neue“, gar „bereichernde“ Kultur; vielmehr fänden wir uns unter einer grausamen Willkürherrschaft wieder und wären zugleich (auf uns selbst geworfen) geknechtet von unseren niedrigsten Instinkten –  diese wiederum würden geweckt durch einen unbändigen unkultivierten unzivilisierten Überlebensdrang: Drum rette sich, wer kann.

Foto: Detail aus der „Historischen Bildkarte des Jade-Gebietes“ von Dettmar Coldewey, Wilhelmshaven 1960.