Hymnische Coronaweihnacht

(Melodie: Vom Himmel hoch, da komm ich her):

Das Wort zu sagen ist erschwert,

drum wird Musik noch viel mehr wert,

als sonst schon – Seuche hin und her – :

Es klinge rein die Weihnachts-Mär.

(Melodie: Brich an, du schönes Morgenlicht):

Geborn ist Christus, Gottes Sohn.

Der Heiland bringt uns Freud und Wonn

aus Bethlehem, der Davids-Stadt:

Wie gut, wer dies im Herzen hat.

Des Engels Botschaft leuchtet klar:

Nur, was vom Himmel kommt, ist wahr!

Wir Schwachen richten gar nichts aus,

es komme denn aus Gottes Haus!

(Melodie: O Heiland, reiß die Himmel auf):

In diesen Tagen ist viel Leid

und mancherorts auch großer Streit.

Wer sehnt sich nicht nach Besserung

in starkem Heil und neuem Schwung?

(Melodie: Brich an, du schönes Morgenlicht):

Allmächtig ist „Corona“ nicht.

Mariens Kind führt uns zum Licht.

Hier liegt’s im harten Krippelein:

Derhalben lasst uns dankbar sein

und öffnen unsre Herzen weit,

bewegen dort, was uns erfreut:

Der Engel und der Hirten Klang

bewahr uns unser Leben lang!

(Der ganze Text kann auch zu je vier Zeilen auf die Melodie der ersten Strophe gesungen werden: Vom Himmel hoch, da komm ich her)

Das gab es tatsächlich einmal: Unbetreutes Denken!

Ein Beispiel von vor nunmehr vierzig Jahren

Waffen nach Saudiarabien? Der Bundeskanzler sprach sich dafür aus. Panzerlieferungen sollten es sein, aber die Frage kam auf, ob die nicht womöglich die Sicherheit des Staates Israel gefährden könnten. Helmut Schmidt hielt dies für unwahrscheinlich, das Königreich mochte also seiner Meinung nach das gewünschte Gerät bekommen. Das war im Jahre 1981. Eine neunte Klasse saß in einem Gymnasium irgendwo in Nordwestdeutschland über einem Deutschaufsatz. Das Interview mit dem Kanzler wurde per Kassettenrekorder eingespielt, und wir sollten uns schriftlich und zeugnisnotenrelevant dazu äußern.

Einige Tage später erhielten wir unsere umfangreich korrigierten Arbeiten vom Lehrer zurück. Der entschuldigte sich ja immer bei uns, wenn er es nicht gleich zur nächsten Deutschstunde geschafft hatte, alles durchgesehen und benotet zu haben. Er war neugierig genug, sofort nachzugucken, wer was gemeint und argumentativ begründet habe. So auch diesmal: Sein Lesepensum bot wieder Anlass zur Bewunderung – und sein Auffassungsvermögen hatte ihn nicht im Stich gelassen. Es gab zwei Einsen. Die so ausgezeichneten Jungs hatten aber mitnichten ähnliche Ansichten zu Papier gebracht. Gelinde gesagt, sie waren zu völlig unterschiedlichen Standpunkten gelangt.

Während der eine pragmatisch das Öl, den Westen an sich mit seinen arabischen Verbündeten und die Möglichkeit, dadurch auch Israel zu schützen, ins Feld der Argumentation brachte, sah der andere, bergpredigtbesoffen, allein den Vers aus Matthäus Kapitel 5 Vers 9 als den Stein der Weisen an. Ich habe danach übrigens nie wieder derart bekennend-biblisch geredet oder geschrieben. Und trotzdem: Unserem Deutschlehrer, noch im letzten Kriegsjahr als Soldat eingesetzt und sogar kurzzeitig in französische Gefangenschaft geraten, galt das starke und überzeugende Wort an sich mehr als die inhaltliche Einzelmeinung. Mein Klassenkamerad war nicht der „Nazi“, und ich war nicht der „linke Spinner“ – sondern wir wurden von diesem Lehrer als besonders sprachfähige, differenziert denkende und redlich argumentierende junge Menschen wahrgenommen.

Mein Deutschlehrer ist vor neun Jahren gestorben. Bei meinem letzten Besuch zeigte er sich ganz angetan von neuerlicher Lektüre ausgerechnet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seines Lieblingsschriftstellers Thomas Mann. Dabei hätten wir ihn immer eher mit Herrn Settembrini aus dem „Zauberberg“ vergleichen wollen. Aber sein Humanismus war eben weiter als das, was uns heutzutage als „alternativlos“ angedient wird. Auch ein Naphta (Gegenpart des weltläufigen heiteren Italieners in dem epochalen Roman) muss seine Rolle spielen dürfen, und sei es, um sich selbst zu läutern … Hans Castorp, Tonio Kröger, Hanno Buddenbrook … – sie haben eigentlich keine festgezurrte Meinung, sie sehen, gleich dem reinen Tor Parsifal, auf das Reinmenschliche …

Vor sechs Jahren dann starb völlig unerwartet im siebenundneunzigsten Lebensjahr jener Weltpolitiker, der nie gleichgeschaltete Meinungen mochte, der sich über Rechtschreibreformen und Rauchverbote hinwegsetzte, der seiner evangelischen Kirche nur noch deshalb die Treue hielt, weil sie Künstler wie Johann Sebastian Bach und Bischöfe wie Eduard Lohse hervorgebracht hatte. Helmut Schmidt starb an jenem 10. November, der zugleich der 256. Geburtstag des geschichtskundigen Dichters Friedrich Schiller war. Ich würde mich gern täuschen, wenn es nicht stimmte, dass seit sechs Jahren die Welt noch einmal kälter, gleichgültiger, ungebildeter und zugleich erregbarer geworden ist.

Wo ist die hohe Kunst des Argumentierens hin? Ich habe sie stets gern gepflegt – solange es noch formidable Mitstreiterinnen und Mitstreiter gab! – und ihre Notwendigkeit darin begründet gesehen, entgegen allen hartherzigen Eindimensionalitäten sowohl von „Rechts“ als auch von „Links“ die urwüchsig-dramatische Schillersche Gedankenfreiheit hochzuhalten. Deren guter Gebrauch schließt nämlich die Fähigkeit ein, sich jederzeit in die Position des Gegenübers einzufinden. Ohne solchen Diskurs aber bricht sich eine Regulierungswut Bahn, deren Gehabe rasch diktatorisch und zuletzt tyrannisch wird. An diesem Punkt regt sich also erstaunlich unerschütterlich mein „westliches“ Herz: in einer bundesdeutsch-grundgesetzlich geprägten Vorstellung von Meinungsfreiheit, die ich mir unbedingt erhalten wissen will für unsere in dieser Hinsicht durchaus gefährdete Gesellschaft.

Dies bin ich nicht dem heutigen saudiarabischen König schuldig (denn der fragt nicht danach), auch nicht anderen Herrschern nah und fern, deren Weisheit derzeit zu wünschen übriglässt – aber durchaus meinem verehrten Deutschlehrer, der weder für noch gegen Schmidts Panzerlieferungen agitierte, sondern vielmehr unserer schönen deutschen Sprache das gelehrte und wunderbar überlegene Wort redete.

Unerhörte musikalische Wünsche

Als Bundeskanzler werde ich gewiss nicht in die Annalen eingehen. Doch der Große Zapfenstreich für Frau Dr. Angela Merkel anlässlich ihrer Verabschiedung hat in mir die Frage hervorgerufen: Was wäre wenn? Welche drei Musikwünsche hätte ich gern erfüllt haben wollen?

Der scheidenden Kanzlerin spielte die anlassgeprägte musikalische Formation zunächst ein Lied von Nina Hagen, womit die Herkunft der bisherigen Regierungschefin aus der DDR noch einmal deutlich wurde. Anschließend kamen die roten Rosen der Knef zu Gehör, sicherlich auch als eine Hommage an Berlin gedacht. Und zum Schluss erklang der Choral „Großer Gott, wir loben dich“, ein ökumenischer Gruß der Pfarrerstochter.

Wie müsste es bei mir aussehen? Ich gestehe, dass mir meine musikalischen Vorlieben und dementsprechenden Kenntnisse eher hinderlich denn hilfreich sind. Bearbeitungen für ein Musikkorps wünschte ich daher für Stücke, die ich aus eigener Praxis gerade nicht so gut kenne – sonst würde ich nur auf die Auslassungen, Kürzungen oder Entschlackungen achten, was dem unmittelbaren Hörgenuss nicht unbedingt förderlich wäre. Genuine Musik für Klavier, Orgel oder Vokalchor blieben also in meinem speziellen Fall eher unberücksichtigt.

Was dann lieber? Ich neige zu Eindrücklichem ohne Plattheiten. Und wenn es um deutschsprachige Schlagerstars geht, fiele meine Wahl unter anderem auf: Udo Jürgens. Während seiner Tournee 1987, also in meiner Jugend, hat er das eigens komponierte Lied auf einen Text von Friedhelm Lehmann dargeboten: „Atlantis sind wir“! Das ist in seiner musikalischen Vielschichtigkeit bei modern-romantischer Grundhaltung auf die Länge hin hoffentlich unvergesslich! Ich bekenne mich an dieser Stelle zum Mythos der untergegangenen Insel, wenn er beispielgebend in solch einer klanglichen Verkörperung erscheint.

Als zweiten Titel – und da habe ich Sting, Metallica und Freddie Mercury zwar gern im Sinn gehabt, jedoch in ihrer Komplexität nicht antasten wollen – bin ich dann einem sinfonischen Satz von Johannes Brahms erlegen, dem dritten aus seiner Dritten! Was für eine zu Herzen gehende Melodik, welch schmelzende Harmonik! Mich persönlich an Hamburg und Wien erinnernd, zwei unter meinen gefühlt fünfundzwanzig Lieblingsstädten!

Mein letzter Wunsch wäre das Kirchenlied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Vom Textdichter und Melodienschöpfer Georg Neumark gibt es dazu einen eigenen vierstimmigen Satz. In welchem Arrangement auch immer, der Dreiertakt müsste bitte gewahrt bleiben. Insofern kommen Bach-Versionen ausnahmsweise nicht in Betracht. „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, / verricht das Deine nur getreu“ …

Eine musikalische Abfolge ohne Schütz, Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner, Wagner, Schönberg … Die schwiegen dann eben für einmal: ganz still und dadurch vielleicht umso nachhaltiger geehrt. Ein echter Klassiker erklänge übrigens sowieso: Joseph Haydn mit jener Melodie, die ohne sein Zutun zu unserer Nationalhymne wurde. Ein schönes Lied, zu erleben am besten im Stehen sowie ohne Zittern und Zagen.

Nun denn: Ich habe gut reden – so als Nichtbundeskanzlerin …