Von Kugeln und Keksen

Es scheint angebracht, diesmal vorab und schön politisch korrekt einen „Warnhinweis auf mögliche Auslösereize“ (Wikipedia) zu geben, vulgo eine Triggerwarnung vorauszuschicken. Denn: Zwar sind, anders als die Überschrift vermuten lässt, nachfolgende Zeilen mitnichten der aufziehenden Vorweihnachtszeit geschuldet – jedoch lassen sich Anklänge an das bei manchen mentale Allergien hervorrufende Christfest nicht gänzlich vermeiden. Dieser Beitrag entspringt einerseits einem Erschrecken über die Banalisierung ererbter Bildungsgüter und andererseits einer Bejahung erbaulichen Umgangs mit jener – nicht mit jenen!!! – Alles klar? Gehen wir vielleicht doch gleich lieber in medias res!

Wer sich einmal durch das Gedränge in der Salzburger Getreidegasse gequält hat, rührt nie wieder freiwillig eine Mozartkugel an. Allzu offensichtlich ist angesichts des täglichen fremdenverkehrten Lindwurms die touristikunternehmerische Abzweckung: ohne jedweden geistigen Nähr- und Mehrwert geschweige denn irgendeine neue musikalische Erkenntnis. Schräg wird dortiges Treiben schon allein durch den historischen Umstand, dass sich das frühzeitig aus dieser Welt hinweggeraffte namengebende Genie nirgends unverstandener gefühlt hat als in dieser seiner Geburtsstadt, der Residenz seines Landesherrn. Immer verspätet und von oben herab (als seien es Leibeigene) behandelte der Hof die Anliegen der Musikerfamilie, bis es dem Fünfundzwanzigjährigen schließlich reichte.

Kostproben aus einem Brief an den Vater, Vienne ce 9 de maj 1781, O-Ton W.A. Mozart: „Ich bin noch ganz voll der galle! – und sie, als mein bester, liebster vatter, sind es gewis mit mir. – man hat so lange meine gedult geprüft – endlich sie aber doch gescheitert.“ – „sollte ihnen aber der erzbischof ungeacht dessen die mindeste impertinenz thun, so kommen sie alsogleich mit meiner schwester zu mir nach wien – wir können alle 3 leben, das versichere ich sie auf meine Ehre – doch ist es mir lieber, wenn sie ein Jahr noch aushalten können – schreiben sie mir keinen brief mehr ins teutsche haus, und mit dem Pacquet – ich will nichts mehr von Salzburg wissen – ich hasse den Erzbischof bis zur raserey.“

Endlose Überzuckerung knapp hundert Jahre nach Mozarts Tod war dann die Methode, ehedem Unliebsames des eigenen – hier: salzburgischen – schlechten Gewissens wegen sich nachträglich gefügig und anheimelnd zu machen, gar im wortwörtlichen Sinne: mundgerecht. Mozart gerann „kugelrund“ zu einer Marke bonae noctis, allerdings mit dem persönlichen Vorteil, dass man hinter dem Konterfei auf dem Umhüllungspapier der Pistazien-Marzipan-Nougat-Kreation bis zum heutigen Tag immer auch den Ausnahmekünstler wahrnimmt, der sich in der ars musica tummelte wie kein zweiter – und dessen Werke seit über zweieinhalb Jahrhunderten zum Standardrepertoire aller Klangkörper des gesamten Erdballs gehören.

Hingegen laufen die Gebäckwarenhersteller vom Hohen Ufer nicht an solch einer langen Leine: Leibniz war und ist nur Eingeweihten vertraut, weswegen das auf ihn gemünzte Wort vom Erfinder des gleichnamigen Butterkekses keinesfalls völlig frei sich wähnen kann von der ernsthaft geäußerten Vermutung, er sei dies tatsächlich. Entsprechend unsicher essen seit Anno Domini 1891 Menschen in aller Welt das zweiundfünfzigfach gezähnte rechteckige Backwerk, ohne ihre mampfenden Backen back to the roots zu wenden. Schon Kleinkinder verlangen stumm handaufhaltend während frischluftiger Spazierfahrten aus ihrer Karre heraus rücklings immerfort nach einem neuen Exemplar dieses Nahrungsartikels, ohne Arg zwar, aber eben auch unbehelligt von den durch die sie schiebenden Erziehungsberechtigten ja eigentlich möglichen autoritativ eingeflößten Informationen, wer sich denn hinter diesem zu verzehrenden Namenszug eigentlich verbirgt.

Leibniz ist den Hannoveranern übrigens immer tendenziell suspekt geblieben – obwohl er vierzig Jahre im Dienste des dort ansässigen Hofes stand. Ob die Trauerfeier in der Neustädter Kirche im November vor jetzt genau dreihundert Jahren kurfürstliche Präsenz (in Form einer Delegation des englischen Königs) zierte, ist nicht zweifelsfrei zu belegen. Man verzieh ihm nämlich in adligen Kreisen nie, ein Buch nicht vollendet zu haben, das dem Herrscherhaus so nützlich, weil rühmlich hätte sein können. Die Geschichte der Welfen blieb stecken, wie so vieles in den weitausgreifenden Projekten des Universalgelehrten. Zwanzigtausend handgeschriebene Manuskriptseiten harren bis heute ihrer wissenschaftlichen Erschließung und Veröffentlichung. Der Philosoph Wilhelm Weischedel hat Leibnizens Art aber auch ohne Sichtung von undurchdringlichem Papierwust in seiner philosophischen Hintertreppe recht hübsch und treffend beschrieben. Über den Denker ist dort in köstlichem Präsens zu lesen:

„Zwar kann er aus den Quellen einige für das Fürstenhaus wichtige Tatsachen feststellen. Aber dann verliert er sich ins Allgemeine. Die Geschichte des Welfenhauses, so argumentiert er, kann nicht ohne Zusammenhang mit der Geschichte des Bodens betrachtet werden, den dieses Geschlecht beherrscht; darum muß man vor aller historischen Bemühung erst einmal Geologie betreiben. Aber auch das genügt ihm noch nicht. Denn der bestimmte Landstrich der Welfen ist ja ein Teil der Erde, und also muß man vor allen Dingen deren Entstehungsgeschichte untersuchen. So kommt der Historiker des Welfenhauses in einer ihm plausibel erscheinenden logischen Folge dazu, die Urgeschichte der Erde zu beschreiben. Kein Wunder, daß er nur wenig an die konkrete Geschichte kommt und daß der Kurfürst immer wieder ungeduldig nach dem Fortgang der Arbeiten fragt; ihm liegt ja, wie das bei Fürsten üblich sein soll, mehr am Ruhme seines Hauses als an der Entstehung der Welt.“

Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) sind nun allerdings sehr positive und nahezu zeitgleiche (1890: Mozartkugel, 1891: Leibnizkeks) Beispiele für das, was in anderen Fällen durchaus negativ zu Buche schlagen kann: Dazu muss man nicht erst ins angeblich finstere Mittelalter zurückgehen. Die schlimmsten Tyrannen sind in der Neuzeit seit der Aufklärung dingfest geworden, also im Zeichen von Zauberflöte und Binärsystem. Der vorgeblich lichte Sarastro und seine Widersacherin, die Königin der Nacht, sind zwar ebensowenig säuberlich in Gut und Böse einzuordnen wie Eins und Null, top oder flop – aber die Wirkungsgeschichten sowohl von Musik als auch von Mathematik seit Mozart und Multi-Leibniz heben leider auf solch Schwarzweißdenken ab und freuen sich womöglich gar an der regelrechten Ausblendung von Zwischentönen.

Verloren geht damit auch das Bewusstsein für das Unvollendete beider: Bei Mozart ist es die Schubert-Mendelssohnsche Dimension eines kurzen, innerlich aber übererfüllten Lebens, bei Leibniz die junggesellige längerlebige erdrückende „häusliche Misere“ Beethovenschen Ausmaßes. Was der mittlere Wiener Klassiker unter äußerster Zwangsanwendung (par exemple schloss ihn seine Frau im Zimmer ein, bis er die Ouvertüre zum Don Giovanni niedergeschrieben hatte) dann, wenngleich unter Stress und in fürchterlicher Hektik, immerhin doch letztlich gültig und erstaunlich säuberlich zu Papier brachte, zerfaserte in den Mußestunden des Hannoveraner Philosophen in bis heute unedierten Briefen und Entwürfen.

Aber: Sowohl Mozart als auch Leibniz sind gegen all solche Klischees und Eindimensionalitäten höchstwahrscheinlich deshalb immun, weil ihre Namen populär und ihre Werke unverstanden sind. Wie dichtete Lessing in bezug auf einen zopfigen Kollegen: „Wer wird nicht einen Klopstock loben! / Doch wird ihn jeder lesen? Nein. / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein.“ Man schmückt sich mit Stars und Sternchen, ohne sie in der Tiefe begriffen zu haben, gleichwohl deutlich (!) wissend, dass sie irgendwie (!) „groß“ sind. Wer an ihrer Größe teilhat, gehört – so die landläufige Vermutung – zum „Abendland“. Deshalb gehen ja in Dresden so viele Leute auf die Straße und demonstrieren für das Feiern von – Achtung: – Weihnachten, ohne allerdings je eine Kirche von innen gesehen zu haben geschweige denn das Bedürfnis zu verspüren, dieses jemals zu tun. Aber Kugeln am Tannenbaum und Kekse aufm Stubentisch – diese Beigaben will keiner von diesen eigentümlichen „Patrioten“ missen.

Ein kugelsicherer Scherzkeks weiß natürlich, dass hinter die Christfichte nur das Wissen vom Baum der Erkenntnis führt und die ursprünglich Sarai Geheißene deswegen Kuchen backen muss. In der älteren deutschsprachigen Forschung ist von „Stammüttern“ die Rede, seit der Rechtschreibreform von Stammmüttern (mit drei m). Eva zeichnet verantwortlich für the lost paradise, Abrahams Gattin für einigermaßen Spaß, bringt sie doch als uralte Frau das personifizierte Lachen zur Welt, den Stammhalter Isaak. Die von Adam und seinem Weibe mittels ermutigender Worte der Schlange verzehrte verbotene Frucht und der von Urmutter Sara zubereitete eng(e)lische Cake beherrschen seitdem unser vielfältiges kulturelles Treiben. Apfelkuchen müsste eigentlich von diesen biblischen Zeugnissen her (1. Mose 3 und 18) als die sündigste und zugleich erfreulichste Speise gelten, haram und halal zugleich.     

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Rote Kugeln und kleine Kuchen stehen also für paradiesische Verführung und ermöglichtes Unmögliche. Schlange und Engel bezirzen und verkündigen, bereiten den Weg fürs Weiterleben jenseits von Eden ebenso wie fürs Überleben des allzu sterblichen Gottesvolkes. Mondsichelmadonna und Alphaomega stürzen schließlich längliches Kriechtier und übermütigen Satan vom Thron (Offenbarung des Johannes) und erheben geweissagten Kopftritt (1. Mose 3, 15)  und gedeuteten Dreimännerbesuch (Hebräerbrief 13, 2) zur Erfüllung der Frohen Botschaft. Ohne Erbsünde keine Erlösung, ohne genüssliche Freude kein außergewöhnlicher Nachwuchs.

Salzburg und Wien sowie Hannover haben in dieser beider Hinsicht Hochbedeutendes hervorgebracht: Nichts trennt ja bekanntlich Österreicher und Deutsche so sehr wie die gemeinsame Sprache. Ein Wort wie „Paradeiser“ spricht es rundheraus an und aus: Kein Vergleich zu unserer „Tomate“ … Knallrot wie ein kommunistisches Manifest, den Beeren zuzuordnen denn gewöhnlichem Gemüse, allerdings nicht auf Bäumen herangereift, sondern eher an Stauden. Ein amerikanischer Exportschlager in Richtung Europa seit dem 16. Jahrhundert! Mozart hat sie gewiss gern gegessen, auf seinen Italienreisen garantiert, wo man die exotische Frucht bis heute als „Goldapfel“ – pomodoro – kennt. Übertroffen wird dies nur durch das hässliche Bonmot oder besser Ondit einer habsburgischen Prinzessin, die an den französischen Hof verheiratet wurde und als Königin Marie Antoinette auf dem Schafott endete: „Das Volk hat kein Brot? Dann soll es doch Kuchen essen“ … Solch ein Dauergebäck, erdacht vor allem für Soldaten im Felde, ersann dann später eben von hoher Warte aus die Firma Bahlsen. Sie schuf damit zugleich ein neues deutsches Wort: „Keks“, ein Plural, lautgleich mit den englischen cakes.

Tomatisierte Küchelchen könnten sich somit erweisen als Einlösung der Rede vom Runden, das ins Eckige muss. Die Quadratur des Kreises: Hier wird’s Ereignis! Die Kugel als Sinnbild der Unendlichkeit, weil ohne Anfang, ohne Ende, transformiert sich mühelos in eine fass- und essbare Gestalt mit Ecken und Kanten. Johann Eccard und Immanuel Kant werden phonetisch-assoziativ zu Freunden von Wolfgangus Chrysostomus Theophilus Mozart und Gottfried Wilhelm Leibniz. Die schönste Motette unter den Frauen: „Übers Gebirg Maria geht“ – und die Kategorienlehre unter den Bedingungen von Zeit und Raum weisen mit einem Male gemeinsam auf Täufer und Christkind … Wer hätte das gedacht?

Musikalische Vollkommenheit in der „besten aller Welten“ – wie traumhaft wäre das! Ein Universum breitet sich da vor innerem Ohr und Auge feierlich aus, und es steht zu hoffen, dass es Bestand haben wird. Den freimaurerisch inspirierten Herrscher einer „Toleranz“ bloß in Es-Dur braucht es dazu ebensowenig wie die an sich niedlichen Monaden, die allerdings „keine Fenster“ haben und somit wenig umsichtig gedacht sind. Aus sich selbst heraus perfekt ist nichts in dieser Welt, und vielleicht ist dies der – wenngleich sympathisch entschuldbare – Grund dafür, dass Mozart wie Leibniz bei allen guten Absichten den Kern des menschlichen Lebens dann doch nicht so richtig erfasst haben. „Zu gut für diese Welt“, aber doch auch unentbehrlich für diese arme Erde. Und wer es schafft – wie diese beiden – , Gaumenfreuden zu bereiten, ist, nach allem gedanklichen Hin und Her, wohl tatsächlich göttlicher Abkunft.

Niemand muss die Vermutung des Theologen Karl Barth teilen, die Engel im Himmel würden vor Gottvater Bach spielen, wenn sie aber unter sich seien: Mozart; und kein Mensch wird genötigt, die Unionspläne gutzuheißen, die Leibniz für Katholiken und Protestanten ventilierte – aber bei jedem Kugel- und Viereckverzehr sollte doch die Meinung sich verbreiten, dass ein friedliches Europa nur in Ansehung solcher Persönlichkeiten eine Chance hat. Insofern sind die Produkte von 1890/91 weder banal noch trivial noch sonst irgendwie abzukanzeln. Vielmehr halten sie große Geister im kollektiven Gedächtnis wach. Entsprechend benamte Kugeln und Kekse müssen ja nicht gleich erschrecken lassen vor der unbestrittenen Tatsache, die nun wieder alle erregt, obwohl ihr ja zweifelsohne auch freundliche Aspekte innewohnen – und die da lautet: Weihnachten kommt immer so plötzlich. Insofern nehme ich meine eingangs formulierte Triggerwarnung, die ich dort für angebracht hielt, nun, zu guter Letzt, und in wiedererstarkt stolzem Bewusstsein, dass diese political correctness wirklich NIEMAND braucht, mit allergrößtem Bedauern liebend gern zurück.

Zitatnachweise: „Ich bin noch …“: Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe. Herausgegeben, ausgewählt und mit einem Nachwort von Horst Wandrey. Zürich 1997, Seiten 257 und 260. – „Zwar kann er ..“: Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen im Alltag und Denken. 22. Auflage, München 2001, Seite 172.
Abbildung: Tomatenschlangen 1978. Bleistift an selbstgefertigter Pappschablone (Ausschnitt).

Geht jetzt die Welt unter?

Die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika haben den Kandidaten der Republikanischen Partei, Donald Trump, als Sieger hervorgebracht, sofern die Elektoren ordnungsgemäß kurz vor Weihnachten ihre Stimmen abgeben – und daraufhin das erwartete Ergebnis am Dreikönigstag bestätigt wird. Mit der Amtseinführung am 20. Januar 2017 ist es geschafft. Der 45. US-Präsident kann dann mit der Wahrnehmung seiner Repräsentationsaufgaben und mit der angekündigten ihm eigenen Tatkraft in den Regierungsgeschäften durchstarten.

Diese nüchternen Feststellungen seien in bewusst scharfem Kontrast geäußert zum heftigen Wahlkampf sowie zum Geheul bei uns, diesseits des Atlantischen Ozeans. Wo gehobelt wird, da fallen bekanntlich Späne. Warum regen wir Deutschen uns eigentlich ob des Ergebnisses so auf? Als Obama seine erste Wahl gewann – im Jahr 2008 – , da bejubelten die Menschen hierzulande einen Messias. Sogar das Friedensnobelpreiskomittee in Oslo ließ sich von dieser angeblichen Lichtgestalt derart blenden, dass es ihr die hohe Auszeichnung als Vorschusslorbeer zuerkannte. Doch Barack („Segen“) the President ließ, gemeinsam mit Außenministerin Clinton, in der Folgezeit faktisch kaum einen jener schmutzigen Kriege aus, die derzeit das Antlitz unserer Erde schänden.

Heute nun verteufeln dieselben Leute, die damals sinngemäß oder gar wortwörlich sangen: „Hey, Obama, leuchte!“, einen Wahlsieger, den sie noch gar nicht kennen. Gewiss ist nur: Trump passt in kein vorgefertigtes Szenario. Das macht die weitverbreitete Angst vor ihm einerseits verständlich. Was will der Mann wirklich?, fragen viele. Andererseits: Da agiert jemand völlig unabhängig von den üblichen Kampagnen, rotzt seine Ansichten raus – und wird genau dafür gewählt! Was den einen ein mulmiges Gefühl beschert, ist den anderen geradezu Anreiz, ihn zu unterstützen: in dem Bestreben, den sogenannten Eliten eins auszuwischen. Artikuliert sich da eine Ahnung, die Welt könne verändert werden ohne die ehemals Bürgerbewegten, die schon längst das Establishment bilden? Ist man deswegen so erregt, weil die eigenen Felle davonzuschwimmen droh(n)en?

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Not my President – so skandieren Demonstranten in den USA, in vermeintlicher Anlehnung an die glorreichen Zeiten, da jede Art von Betroffenheit als Druckmittel eingesetzt werden konnte, um das eigene werte Befinden für bare Münze zu nehmen und als absolute Realität hervorzukehren, der sich alles andere unterzuordnen habe. In wutbürgerlicher Absicht setzen sie das als alternativlos, von dem sie bauchgefühlig meinen, es sei identisch mit dem Gutenwahrenschönen – ohne gesteigerte Rücksicht auf die öffentliche Ordnung. Pressionen sind dann diejenigen ausgesetzt, die eine andere Sicht auf die Dinge haben und sich unterstehen, diese ihre Meinung auch noch vernehmlich kundzutun.

Schon brechen Internetseiten wegen übergroßen Ansturms zusammen – von denen man sich in manchen Kreisen erhofft, sie würden praktische Tipps geben zur Auswanderung nach Kanada. Und vielleicht kommen einige bald auch auf die Idee, von New York aus der Freiheitsstatue den Rücken zu kehren und back to good old Germany zu schippern, Endstation Bremerhaven? Nichts ist ja in diesen verrückten Zeiten undenkbar. Sich ihrer eigenen Ansichten felsenfest sichere Pilgermütter könnten dann an der Columbus-Kaje Signale aussenden, mit ihnen all jene Antennen erreichen, die sich strecken und recken nach dem Slogan: „Nicht in meinem Namen“ – als ob es auf solche geballten Selbstgerechtigkeiten ankäme!

Komplementäres Denken ist falsch. Jetzt soll Hillary so gut sein wie Donald böse? Aber auch das Gegenteil stimmt wahrscheinlich nicht: Mrs. Rodham Clinton als kriegslüsterne Zicke, die sich mit dem bundesdeutschen Betonfrisur-Röschen und dessen Chefin im Kanzleramt verbündet – versus Mr. Drumpf samt seiner pfälzischen Abstammung, der mit Putin und Schröder einen trinken geht, und schon ist der Weltfriede gerettet … Zwar mag der Philosoph Peter Sloterdijk auch knapp dreißig Jahre nach seinem Wort richtig liegen, sogar in dem einzigen Land der Welt, das von gleich zwei Frauen regiert werde, gehe es deshalb nicht besser zu als anderswo – aber nirgends hat andererseits die Erfahrung irgendwelche Fortschritte verzeichnet, so dass etwa herrschende Männer zur Vernunft gekommen wären. Maggie & Liz haben damals, Ende der Achtziger, ebenso eisern – und im übrigen: very British – Kurs gehalten wie – auf seine Weise – Birne in Bonn. Frauenpower unterscheidet sich in nichts von den despektierlich so genannten „patriarchalischen Strukuren“, die es vorgeblich „aufzubrechen“ gelte. Macht ist Macht, gleich, wem sie zufällt.

Wer nur ein bisschen sich mit Glaubensdingen befasst, weiß, dass keine echte Religion auch nur minimalen Raum lässt für das unumschränkte Schalten und Walten einer einzigen politischen Person, Institution oder imperialen Hybris. Kult wird da allein dem zuteil, was NICHT eingebunden ist in die Welt der Abstimmungen oder Putsche, Kriegserklärungen oder Rebellionen, Demonstrationen oder Revolutionen. Zufällige Geschichtsereignisse können niemals absolute Vernunftwahrheiten werden, wissen wir sinngemäß spätestens seit Lessing. Das gilt auch hier und heute. Ohne Hillary kann durchaus auch manches besser werden; und mit Donald bricht keinesfalls die Apokalypse an. Das Ende ist schließlich immer nahe! An Wahlausgänge lässt es sich nicht ketten. Ob es jetzt unmittelbar bevorsteht oder sich noch Jahrtausende Zeit lässt, weiß wahrlich nur Gott allein.

Statt also den Teufel an die Wand zu malen, wäre es angesagter, sich folgende Sätze übers Bett zu hängen: „Donald Trump wird unser Präsident sein. Wir schulden ihm Offenheit und die Chance, das Land zu führen. Unsere verfasste Demokratie fordert eine friedliche Machtübergabe.“ Das sagt die – Wahlverliererin! Hillary Rodham Clinton: ganz stark. Während sich hierzulande viele in Ratschlägen und Ermahnungen an den „Neuen“ in den USA unschicklicherweise überbieten, ja sogar eigenmächtig den Weltuntergang ausrufen, ist die im Kampf ums Weiße Haus Unterlegene selbst fair und gefasst – mit einem vorbildichen Vertrauen in die verfassungsmäßig vorgesehenen Regularien. Also bitte keine Panik.

Foto: Auswandererstadt Bremerhaven.