Ob solche Folgen erwünscht sind?

Die Coronapandemie zeitigt Effekte, die bis vor kurzem noch rundweg strafbar waren. Das Vermummungsverbot galt unangefochten. Radikalinskis aus sämtlichen extremen Ecken, lechts wie rinks, wurden entsprechend dingfest gemacht – im Zeichen einer offenen Gesellschaft, die sich dem Grundsatz „Mehr Demokratie wagen“ verpflichtet wusste. „Gesicht zeigen“ war angesagt in allen Variationen. Das offene Visier, der herzhaft entwaffnende Blick, das freundliche Zwinkern aus freiem Antlitz, die Beziehung von Angesicht zu Angesicht, unbedingt persönlich und eben zutiefst menschlich: all das machte das Leben wesenhaft abendländisch aus.

Dann kam bekanntlich die Seuche, und viele Wochen später, nachdem sich das Virus schon längst breitgemacht hatte, auch eine „Maskenpflicht“ in bestimmten Alltagsbereichen. Nur wurde gleich mitgeteilt: Medizinisch wirksame Schutzschürze würde es für den plebs keinesfalls geben; man solle sich notfalls mit normalen Tüchern ausstatten, das genüge schon. Na wunderbar. So dringend konnte es also um die Volksgesundheit nicht bestellt sein. Darum holte ich, in beflissener Umsetzung der dringenden und zugleich irgendwie höchst nachlässigen offiziellen Empfehlung, mir mein olles Palituch (modern in den 1970/80er Jahren) hervor:

Back To The Seventies

Aber die alljährlich sich als unbesiegbar erweisende Sonne bewirkte weitere Schritte, um hienieden im regierungsamtlichen Klein-Klein die Einzelpersönlichkeit zu entwerten:

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Nicht nur, dass jetzt ein Mundnasenschutz (MNS) in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen getragen werden muss; und besonders ängstliche Mitmenschen ihr angebliches Schutztextil auch darüber hinaus aufsetzen, etwa beim Spaziergang, auf dem Fahrrad oder gar in Gottesdiensten. Als ob frische Luft, freier Fahrtwind oder die mittlerweile sprichwörtlich gewordenen „Aerosole“ nachgerade schädlich seien … Vorauseilender Gehorsam, wohin der erstaunte gesunde Menschenverstand auch blickt. Nun scheint in solch vermaledeiten Zeiten von Frühjahr und Sommer noch öfters mal die Sonne: Da benötigt man unbedingt getönte Augengläser – und zu allem hygienisch-hysterischen Überfluss noch ob des figurativen Figaro-Finales eine so richtig finale Finesse:

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Weil nämlich das Haareschneidenlassen derzeit so unendlich kompliziert gemacht wird, von der ausschließlich telefonischen Anmeldung über den geforderten Nass-Schnitt bis hin zur irgendwie kontaktlos zu geschehenden Gesamtprozedur, gibt es mittlerweile Zeitgenossen, die sich um ihren wirrwildwachsenden Schopf nicht weiter scheren (!) und ihn im Zweifelsfall doch lieber unter einer Kopfbedeckung zu zähmen versuchen.

Also: MNS ist Standard. Sonnenbrille deucht den Coolen unerlässlich. Mütze scheint schicklicher als Barhaupt. So schnell zerrinnt die bürgerliche Hochkultur schöner Seelen. Burkaträgerinnen und Mitläufer im „Schwarzen Block“ erfüllen da doch wunderbar staatstragend die aktuellen Vorgaben zur vollsten Zufriedenheit. Es tut mir leid: Da bleibt einem, ehrlich gesagt, mit dem Titel von Grabbes Komödie aus deutschem Vormärz (1822) gesprochen, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung ziemlich erschreckend vorhersehbar im Halse stecken.

Sich regen bringt Regen – oder auch nicht

Damals brachte Regen nicht nur Segen. Man musste mit Reagan rechnen, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Oder mit saurem Regen. Und natürlich mit dem kontaminierten Spinat in der Folge von Tschernobyl. Es waren sozusagen schreckliche Zeiten. Alle hackten auf uns bundesdeutschen Normalbürgern herum. Die Franzosen spotteten über le Waldsterben und Großbritanniens Premierministerin wollte my money back. In solch schweren Zeiten, da mundnaseschützende Maulkörbe noch nicht schicklich waren, griff man in armen studentischen Zirkeln zu schwarzen Regenschirmen.

bethel regenschirm II

Die hatten etliche Vorteile. Man konnte sich verbergen beim kleinsten Anflug von Niesen und Husten, ohne doch völlig zu vereinsamen. Um es ganz lebensnah zu sagen: Wenn jemand in unserem Studentenwohnheim Zeichen solch einer Krankheit zu erkennen gab, schlüpfte er/sie (es gab’s 1986 noch nicht) hinter eines dieser dunklen weitgespannten Utensilien, ließ sich die Haare wachsen und lachte sich eins. Dabei galt grundsätzlich die Verabredung: Am dritten Tage auferstanden von den Toten. Glaubensstark und humorvoll zugleich. Wahres Christentum.

Manchmal mussten überängstlichen Mitbewohner*inne*n zusätzliche Lektionen erteilt werden. Dann konnten Schutzschirme durchaus zu Stichwaffen mutieren. Wer das unangemessen fand, dem/der stand es frei, die Wohneinheit und den dazugehörigen Flur zu verlassen und sich ein schickes Appartement unterwärts des mons sacer mühsam zu suchen. Ja, ein „Heiliger Berg“ mit allen biblischen Zutaten war dieser Ort allemal. Aber immerhin gab es eine grundsätzliche Chance für die Abtrünnigen: Die Stadt Bielefeld existierte noch. Erst seit Mitte der neunziger Jahre ist diese Aussage durch eine Verschwörungstheorie pandemischen Ausmaßes fraglich geworden.

bethel regenschirm I

Mit Schirm, Charme und Zarathustra (zwischen links und rechts balanciert) wurde oben über und hinter der teuteburgerwaldgewirkten Promenade ein Wille zur Macht unverhohlen mannhaft zelebriert. Nietzsche hätte sich gefreut – und wir waren seinerzeit fröhlicher Urständ teilhaftig, ohne unfrohe Ängstlichkeit. Also damals, WIR, Student*inn*en einer neuen Welt: beschirmt, beschützt, begleitet von schlichtem Glauben und immer gern haargenau daneben, angenehm getrennt von Friseurterminen aller Art – in sicherer unangemeldeter Ferne von Sturmhauben oder Einmalplastikumhängen sowieso … Es waren schöne glänzende Zeiten. Und die zählen erinnernswerterweise anregend genau JETZT.

Nachtrag: Regsamen Geistern möge hier noch der photographische Beleg dafür geliefert werden, dass es sich bei dem Taschenbuch zur Rechten wie zur Linken tatsächlich um Nietzsches Zarathustra gehandelt hat:
nietzschesegen
Links zeigen, rechts erklären – Fingerfertigkeit in hoc signo, schwarzbeschirmt. In allen haarigen Angelegenheiten immer gut drauf und rege dabei.