Religio ex negativo

Der Islam sei mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar, sagt eine geborene Herzogin von Oldenburg. Die Nachfahrin eines der bedeutendsten europäischen Adelshäuser hat offensichtlich ihre eigene Familiengeschichte nicht verstanden. Für alle, denen warm ums Herz wird, wenn sie sich der altbekannten Begebenheiten erinnern, wie der Großherzog im Oldenburger Schlossgarten spazierte und dort seinen Untertanen ohne Ansehen der Person freundlich grüßend begegnete, ist nur noch Fremdschämen angesagt. Im oldenburgischen Staat herrschte bereits im neunzehnten Jahrhundert Pressefreiheit; und die Todesstrafe war abgeschafft. Liberal und friedlich ging es allerorten zu, und der Fürst verstand sich als Landesvater im besten Sinne des Wortes. In diesem Geist wurde durch Herzog Peter Friedrich Ludwig im Jahre 1786 die älteste bis heute existierende Sparkasse der Welt gegründet, im Sinne allgemeiner Fürsorge. Seit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, in dessen Folge dem evangelischen Herzogtum neue münstersch-katholische Gebiete zufielen, war man außerdem erfolgreich bemüht, den nun gefragten konfessionellen Ausgleich herzustellen und zu wahren. Sparkassengründung und Kirchenverständigung zeugen mithin von einem milden aufgeklärten Menschenbild, das andere leben und ebenso sich selbst entfalten lässt.

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Eine Ausgrenzung sowie die Unterstellung, eine Weltreligion wie der Islam sei nicht bundesdeutsch verfassungskonform, kann schließlich als Vorwurf auch Judentum und Christentum treffen. Keine der drei Buchreligionen kennt in ihren Ursprüngen so etwas wie Demokratie oder Aufkärung geschweige denn ein Bonner Grundgesetz oder einen modernen Berliner Politikalltag. Überhaupt muss man in bezug auf einen europäischen Kontext Fehlanzeige konstatieren. Orientalische, ja semitische Wurzeln sind in Moscheen, Kirchen und Synagogen gleichermaßen gegenwärtig! Was viele Menschen derzeit, insbesondere seit dem Reichstagsbrand unserer Tage am 11. September 2001 gegen die Muslime in einem herbeigeredeten „Kampf der Kulturen“ vorbringen, könnte man auch den Juden und den Christen in die Schuhe schieben. Fatal, wie nicht etwa die Täter einwandfrei ermittelt wurden, sondern was aus den schrecklichen Taten an gesetzgeberischen Folgen erwuchs.

Jedenfalls ist die Bibel in weiten Teilen nicht weniger blutrünstig als der Koran. Statt Nine-eleven einst missbraucht zu haben, um bürgerliche Freiheiten einzuschränken oder gar die Folter wieder anzuwenden, wäre es jetzt an der Zeit, etwas oldenburgischer, aber zugleich ohne hochwatende Storchenbeine, dem abgründigen Problem des weltweit in allen Religionen zunehmenden Fundamentalismus sich zu widmen. Als das Land noch eine Grafschaft war, gab es den Friedefürsten Anton Günther – der hat sein Oldenburg damals durch kluge Politik vor dem Dreißigjährigen Krieg bewahrt!

Es sind doch wohl solche historischen Beispiele, die uns Heutigen zu Vorbildern gereichen sollten. Und wenn man dann nicht gehört wird – tatsächlich wurde alles Oldenburgische stets gern belächelt, von den eigenen Leuten nicht ernstgenommen und ja auch im Jahre 1946 als Freistaat durch die britische Militärregierung eliminiert – , dann müssen eben verbale Holzhammermethoden in Anschlag gebracht werden. Seit Böhmermann wissen wir aufs Neue: Nicht die grausam Gewalttätigen werden zur Rechenschaft gezogen, sondern solche, die sich satirisch versuchen: und darin aber in Wirklichkeit eben weder Kurden, Jesiden oder Christen umbringen noch mit saudiarabischen Monarchen und deren Daesh-Ablegern gemeinsame Sache machen. Wer übertrieben frech und plump lästert, hat doch immer noch unendlich mehr Recht auf seiner Seite als ein Tyrann, der sich bloß beleidigt fühlt (wenn auch zum zweitausendstenmal) … oder? So legal es sein mag, dass der Künstler, wie geschmacklos er denn wirken mag, ein Ermittlungsverfahren an den Hals gehetzt bekommt und zugleich in Abwehr möglicher islamistischer Angriffe unter Polizeischutz gestellt werden muss, – so legitim ist es doch in einem Rechtsstaat wie dem unsrigen, dass er sagen darf, was er sagen zu müssen meint. Wenn unsere eigene Regierung das nicht so sieht – obwohl sie anders hätte entscheiden können – , ist das zwar auch ihr gutes Recht – aber „dann ist das nicht mein Land“ … oder so ähnlich …

Mein eigener nonchalanter Beitrag zur oberflächlichen Religionsdebatte unserer Tage geht spätestens seit der Auslöschung von Charlie Hebdo, dem Ausfall des Braunschweiger Karnevalsumzugs, den Novemberpogromen von Paris und dem abgesagten Fußballspiel in Hannover so, dass nicht einem bestimmten Glauben, sondern einer Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen zwischen Himmel und Erde die Leviten gelesen sein soll. Nicht die Abwesenheit von Religion macht die Welt besser, sondern ihr jeweils tieferes Verständnis. Zu einem solchen tragen die folgenden Verse allerdings nur indirekt bei – es sei denn, jemand macht sich die Mühe, tatsächlich die angeführten Schriftstellen aus Bibel und Koran nachzuschlagen. Und wer das nicht für nötig hält, sei doch bitte so tolerant gestimmt wie die guten traditionsbewussten Oldenburger, die einen weiten geistigen Horizont haben und vieles gelten lassen, auch wenn sie es im einzelnen nicht so genau nachbuchstabieren. Und im übrigen – das kann ja leider heutzutage nicht oft genug betont werden – soll das explizit Negative der nun folgenden Zeilen dem aufhelfen, wonach die Leute einen gebürtig Dresdner (!) Schriftsteller vornamens Erich fragten, der sich beharrlich allen Glättungen widersetzte: „Herr Kästner, wo bleibt das Positive?“ Aber vielleicht ist ja alles gar nicht so schlimm. Bittesehr:

Wie der Muslim, so der Christ / und der Jude: Terrorist! / Denn das ganze Bibelbuch / lässt sich lesen wie ein Fluch. / Daraus machten schon Zeloten / ihre Gläubgen zu Idioten. / Später dann die Kreuzesritter / wurden Massenattentäter. / In Paris war große Not: / Glaubt der Bischof dort an Gott? / Deutschland litt den großen Krieg / dreißig Jahre – gab es Sieg? / Soll allein Sur neun, Vers fünf / führn zum großen Nasenrümpf? / Wo doch schon im vierten Mose / einunddreißig-siebzehn lose / mal so eben Jungs und Frauen / unbarmherzig weggehauen? / Und auch unser Herr und Heiland / sprach laut Lukas zwölf doch weiland: / Frieden bringen auf die Erde? / Nein, nein, sondern: Zwietracht! – MERDE!!! / Ist der Ratschluss so entborgen: / Religion sei zu entsorgen? / JA!!! – Wie super wär die Welt, / wie gerecht, frei wie ein Held! / Niemand bräuchte mehr zu lesen, / was mit Abraham gewesen / und mit Mose, David, Jesus, / Mohammed, Apostel Paulus … / Alle, alle gleich verbieten! / Waren doch nur alles Nieten! / Auflösung des Abendlandes! / Ja, genau! – und schon verschwand es. / Alle Menschen freuen sich: / „Wichtig bin ab jetzt nur ICH! / Was ich nie verstanden hab, / liegt – wie schön! – im sichren Grab. / Muss mich damit nicht mehr quälen: / SO kommt Ruhe in die Seelen. / Na, wie super ist denn das? / Ja, so macht das Leben Spaß! / Ob fünf Pflichten, zehn Gebote, / jede Kirchenmusiknote, / Sabbatfeier, Gottesdienst, / Ramadan … – bloß Hirngespinst! / Alles, alles gilt nicht mehr. / Hach, da freue ich mich sehr!“  

Schade eigentlich, dass ich meinte, so viel im Vorfeld erklären zu müssen. Übrigens sind jetzt wieder die Störche im Oldenburger Land zu ihren Nestern zurückgekehrt. Ihnen geht es hier gut. Wäre es nicht schön, wenn auch die geborene Herzogin sich als eine verheiratete von Storch auf einer entsprechenden Station niederließe, um endlich mal wieder ordentlich weitherzig die freie Luft der Oldenburger Aufklärung in vollen Zügen einzuatmen? Und wenn schon das nicht klappt, dann vielleicht die voraufklärerische Variante lebendigen Odems: Der Klapper-Storch bringt die Kinder – und erschießt sie nicht.

Abbildung: Koran, erste Sure.

In dieser lieben Sommerzeit

Als die Winter noch Winter waren, mit viel Schnee und Eis … und die Sommer noch Sommer, mit viel Sonne und Eis … Schlittschuhlaufen auf zuverlässig zugefrorenen Wassern … „Brauner Bär“ braungebrannt am Kiosk gegönnt für fünfzig Pfennig … und so winters wie sommers kindlich glücklich.

Wenn es heutzutage winters noch Schnee gäbe, dann wären sofort die Genderisten & Co auf dem Plan: Wehe, es wird lustvoll an einem Schneemann gebaut – wo bleibt denn da die Schneefrau? Die Möhre im Gesicht – als naseweises Spiel mit Lebensmitteln verunglimpft, obwohl ja heutzutage kein Kind mehr lernt, Wurzeln abzuschrappen und kleinzuschnippeln, um sie dem Eintopf zuzuführen. Und Kohlespuren als Mund – igitt, politisch völlig inkorrekt im Hinblick auf die Energiewende … Es dürfte höchstens ein*e Schneemensch*in errichtet werden, ohne primäre Gesichtsmerkmale.

Aber haben wir nicht mal gelernt, dass ein Schneemensch gar nicht dingfest gemacht werden kann? Wer hat jemals den Yeti gesehen? Den heutigen Eifer*er*inne*n aber ist das egal. Daher ist es vielleicht ganz gut, dass kaum noch Schnee fällt. Die Klimaerwärmung erspart uns angesichts von leider erwartbaren politisch korrekten Gestaltlosigkeiten die brutalsten Geschlechterkampfdiskussionen.

Ebenso gefährdet wäre das Schöfeln: Es würde nur alle niederländischen Maler in ein schiefes Licht setzen, die es einst wagten, freie Bürger auf freier Fahrt über festgefrorene Kanäle bildlich darzustellen. Ist das nicht ein Angriff sowohl auf das Recht am eigenen Bild als auch auf die kommerziellen Eislaufhallen unserer Tage, die ganzjährig geöffnet haben wollen, also auch winters – wenn zugleich die Natur womöglich „umsonst und draußen“ solch eine Gelegenheit zum Schliddern böte? Das gute alte Motto des „Kultursommers“ in meiner Heimatstadt würde winters zu einem heißen Eisen.

Und: Wären sommers militante Tierschützer auf dem Plan, sie würden jeden erschießen, der einen „Braunen Bären“ produziert, verkauft oder konsumiert hätte, Karamellkern hin oder her. Wo bleibt denn da der Respekt vor der Fauna? Einen Bären schlecken? Oder gar einen Nachtfalter? Oder ein Wildpferd solchen Namens? Völlig tierfeindlich. Man muss heutzutage da sehr aufpassen. Eine Bekannte trug neulich einen Pelzmantel, den sie einst geerbt hatte und nun schon selber seit Jahrzehnten besitzt. Der bösartigen Beschimpfung „Tiermörderin“ konnte sie sich nur äußerst mühsam erwehren. Übrigens würde es auch denjenigen, die nicht an eine animalische Kreatur, sondern an einen Indianersohn dächten, der von einem Indianermädchen namens „Weiße Taube“ angeschmachtet wird, keineswegs besser ergehen: Eine Gesellschaft, in der „Negerküsse“ und „Mohrenköpfe“ nachgerade geächtet worden sind, wäre auch unerbittlich gegen solch braunes bäriges Milcheis mitsamt dadurch hervorgerufenen Schmetterlingen im Bauch – selbst wenn ein picassogestylter schneeweißer Vogel vor blauem Grund daherflatterte. Hugh!

Überdies: Fünfzig Pfennig – schrecklich verfänglich! Denn da konnte es seinerzeit passieren, dass man einen vielfachen Wert mit sich herumtrug und womöglich auch noch ausgab, ohne es zu wissen: „Bank deutscher Länder“ auf der Münze von 1950 war eine seltene, aber durchaus vorkommende Fehlprägung, und einen „Braunen Bären“ bezahlte man damit eben besser nicht. Solch ein Exemplar führte jeder wissende neunjährige Junge seiner kleinen Münzsammlung zu. Wir bedauern nun heutzutage aufrichtig alle jene Mitmenschen, die damals nicht aufgepasst und ihre falschen Fuffziger einem der beliebtesten, zugleich vergänglichsten galaktisch-gelatonischen Erzeugnisse geopfert haben. Und zeigen ihnen, gemäß heute verstärkt erwünschter Kundenbindung, eine LANGE NASE – soweit das noch geht …; denn jegliches bisher bärenstarke Bargeld soll ja demnächst total verboten werden. Die heißen Sommer der längst dahingeschmolzenen Siebziger – keine Eis-Ente! – machen’s möglich. Na toll.

Unter solchen Umständen fällt es mir schwer, noch einigermaßen beschwingt von mir persönlich zu erzählen. Darum nur so viel: Als ich in den frühen achtziger Jahren, nur einige Winter nach der sogenannten „Schneekatastrophe“ (über diese Benennung lacht heute noch halb Süddeutschland), den ersten Satz aus Beethovens nicht ganz unfrivoler G-Dur-Sonate Opus 14 Nummer 2 durchfingerte, fror plötzlich nicht etwa der Klavier-, sondern der Flötenteich zu. Dieses so benamte Gewässer wurde somit unversehens zum Objekt gymnasialen Außensportunterrichts. Das war ja was! Zwar hatte mein Fachlehrer zu Recht generell einen Rochus auf mich Unsportlichen. Aber nun ging es indes für einmal ums Schlittschuhlaufen: Alle notorischen Fußballjungs meiner Klasse versagten kläglich hackenumknickend schon beim ersten Aufrichten – nur dieser Eccard zog elegant seine Runden übers Eis. Der Lehrer war völlig verdutzt und fragte mich, woher ich das denn so schön könne. Ich antwortete keck, das könne ich eben. Niemals vorher oder nachher habe ich im Schulsport ein „Gut“ eingestrichen.

Also: Nicht erst ein Antonio Vivaldi macht uns durch seine allzu berühmten Violinkonzerte die VIER Jahreszeiten schön, sondern es genügt manchmal schon die simple Zweiteilung in Winter und Sommer. Ich lege Wert auf diese Reihenfolge. Und auf die unbegründete Aussage, etwas einfach zu können … „Wenn der Winter ausgeschneiet, / tritt der schöne Sommer ein“, dichtet der gute Paul Gerhardt. Eine Zeile, die binärcodischem Denken direkt entsprungen zu sein scheint. Null und Eins – alles andere ist schmückendes Beiwerk, im Ernstfall négligable. Gottfried Wilhelm Leibniz hat an solchen Versen gewiss seine Freude gehabt. Nur mit der Einschränkung, dass bei ihm nicht die Null, sondern die Eins Vorrang im Denken beansprucht. Sein oder Nichtsein war für den Nichterfinder des Leibnizkekses keine existentielle Frage mehr. Eher schien es ihm relativ einseitig um eine möglichst ungetrübte „liebe“ Sommerzeit zu gehen: „Um Alles aus dem Nichts herzuleiten, genügt Eines.“ Ist das eine optimistische Version der spätantiken Anschauung von der creatio ex nihilo?

Paul Gerhardt verhält sich zu Gottfried Wilhelm Leibniz wie die Generation der Trümmerfrauen (Fünfzigpfennigstück!) und Kriegsheimkehrer (Wolfgang Borchert, „Draußen vor der Tür“) zu den wohlgenährten aufbegehrenden Achtundsechzigern. Zwischen dem Friedensschluss von 1648 und der dem Kriegsende vom 8. Mai 1945 in den drei westdeutschen Besatzungszonen folgenden Währungsreform 1948 liegen genau dreihundert Jahre. „Hurra, wir leben noch“, sangen die Kinder der Stunde Null – und ähnlich klang es in den Jahren nach dem Ereignis von Osnabrück und Münster: „Gott lob, nun ist erschollen / das edle Fried- und Freudenwort“, dichtete Gerhardt damals in einem Lied, das bezeichnenderweise im gegenwärtigen Evangelischen Gesangbuch nicht mehr auffindbar ist. Aber es gibt ja von dem eigenartigen Dichterpfarrer noch ein „Sommerlied“ sui generis, vielgesungen in etlichen (mindestens fünfzehn) unterschiedlichsten Melodien, doch kaum je in seinen Abgründen ausgelotet. Ein „Brauner Bär“ kommt in ihm ebensowenig vor wie ein schwarzes Exemplar als Berliner Wappentier – obwohl dieses ja durchaus hätte besungen werden können – bei der biblisch-brandenburgischen Gemengelage in den ersten sieben Strophen.

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„Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben“ – zunächst unverschattet startet hier ein sonniges Gemüt. Wie konnte ein Robert Gernhardt bloß in seinem „Späten Spagat“ (2006) ausgerechnet dieses Lied auf seine eigene chemotherapeutische Tristesse hin umdichten und aus „Freud“ „Leid“ machen? Ich erkläre es mir so: Gernhardt hat Gerhardt gern. Eines unter vielen Häuptern der Neuen Frankfurter Schule blickt hier in die Tiefe. Wie fragil die sommerliche Schönheit ist, macht nämlich schon die zweite Strophe des Originals deutlich: „Die Bäume stehen voller Laub, / das Erdreich decket seinen Staub / mit einem grünen Kleide; / Narzissus und die Tulipan, / die ziehen sich viel schöner an / als Salomonis Seide.“ Der Erdenstaub wird nur notdürftig überdeckt mit Wiesen, Blumen oder Büschen – wenn auch dem Herzen diese Natur erfreulicher erscheint als der gesamte Reichtum des weisen Königs Salomo.

„Narzissus und die Tulipan“ – Frühlingsblumen: Osterglocken etwa (die gehören zur Familie der Narzissen) und eben Tulpen. Exotische Pflanzen, deren Import, Verbreitung und Beliebtheit der sogenannten „orientalischen Phase“ innerhalb der Geschichte der mitteleuropäischen Gartenbaukunst (in den sechs Jahrzehnten zwischen 1560 bis 1620) sich verdanken. Paul Gerhardts Landesherrn, den „Großen Kurfürsten“, hatte in jungen Jahren die unter adligen Jungspunden übliche Kavalierstour auch in die Niederlande geführt. Völlig begeistert war er mit edlen Tulpenzwiebeln und anderen Wurzeln persisch-türkischer Flora nach Hause zurückgekehrt, um sie im heimischen Lustgarten einpflanzen und hegen und pflegen zu lassen. Sozusagen Grüße von Konstantinopel nach Berlin. Die gab es mithin schon damals, nur mit dem kleinen – jetzt nicht mehr gefragten – Umweg via Amsterdam, wo eine Krankheit namens Tulpomanie – heute würde man durch die Blume von Spielsucht sprechen – Anno Domini 1637 den ersten richtig heftigen Börsenkrach der europäischen Neuzeit verursacht hatte.

Zu Spitzenzeiten wurde eine einzige Tulpenzwiebel zum Wert eines Grundstücks in allerbester Amsterdamer Lage gehandelt. Ganz ernsthaft, ohne einen Bären aufzubinden! Zumindest schien es eine Weile so. Dann platzte die Spekulationsblase, die begehrten Blumenwurzeln sanken auf ein Hundertstel ihres zuletzt gehandelten Wertes, to be or not to be. Bildlich gesprochen: Mitten im heißen Sommer brach der Kurs ein und krachte hinunter in bodenlosen tiefen Winter. Auf den Anzeigetafeln heutiger Börsen sieht so etwas dann immer aus wie ein Blitz, der unerbittlich niederschießt. Ein krachendes Sommergewitter ist nichts gegen solch eine Wucht, die ganze Existenzen vernichtet. Doch was hilft’s? Man muss sich berappeln „auf dieser armen Erden“: „Doch gleichwohl will ich, weil ich noch / hier trage dieses Leibes Joch, / auch nicht gar stille schweigen; / mein Herze soll sich fort und fort / an diesem und an allem Ort / zu deinem Lobe neigen.“

Jedes System, ob wirtschaftlich, politisch oder kulturell, ist nur dünner Firnis über dem Chaos – dessen „Vorstellung“ ja anderthalb Jahrhunderte später, zwar notgedrungen domestiziert, aber doch noch wirr genug, der große Joseph Haydn zu Beginn seiner „Schöpfung“ einigermaßen angemessen in Töne fasst. Werden hier, in fürchterlichem c-Moll, Frühling und Sommer der europäischen Aufklärung kompositorisch zu Grabe getragen? Landet zugleich Leibniz‘ „beste aller Welten“ auf dem vor Wintereinbruch herbstlichen Komposthaufen der Geschichte? Oder „trage“ ich vielmehr ganz für mich selbst „dieses Leibes Joch“ – hindurch… ??? Die Zeit zwischen 1648 und 1789 halten manche Historiker für die sympathische Blütezeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Never ending summertime. Weil die damalige deutsche Nachkriegszeit eben zusammengeht mit dem französisch dominierten siècle des Lumières, einem Zeitalter, das bis heute viele Menschen mit leuchtenden Augen als die „Aufklärung“ identifizieren und mit sommerlichem Sonnenglanz gleichsetzen.

Auch Kompostieren will gelernt sein. Es ist eine Wissenschaft, die viel mit dem Komponieren gemein hat. Nicht alles eignet sich für die Schichtungen in der abgelegenen Gartenecke respektive in den funkelnden Winkeln des Klanguniversums. Nichts soll auf den Haufen, was Ungeziefer anlockt – und ebenso darf, bei allem Mut über ein restaurativ-restriktives „Keine Experimente“ hinaus, „die Musik das Ohr niemals beleidigen, sondern muss doch allezeit Musik bleiben“ – Mozart – sogar in düsterstem c-Moll – in memoriam …

Leibniz, der neun Jahrzehnte vor dem nominellen Ende des Alten Reiches verschied, repräsentiert eine zuversichtliche Generation, die sich von den Erfahrungen etwa eines Paul Gerhardt endgültig gelöst haben will und die Zukunft in bunten Farben malt. Er denkt bisweilen in quasi multikulturellen Dimensionen, und das hat ihn immer befremdlich wirken lassen. Der Unterschied zu heutigem Einerleigerede, wo alles Besondere vorgeblich, im Namen von „Toleranz“ und so, „egal“ ist, liegt jedoch im sommerlich-binären Charakter seiner Äußerungen. Nicht (spaltbare) Atome sind ihm Urstoffe des Lebens, sondern von ihm so genannte „Monaden“, einzelne beseelte Kraftpunkte, die jeweils das Ganze in sich tragen und deshalb in, an und für sich selbst, ohne Verbindung zur nächsten benachbarten Einheit, ihrer eigenen Bestimmung nach wirken. „Monaden haben keine Fenster“, sie leben, weben und sind aus sich selbst heraus die Fülle der Schöpfung Gottes. Der Allmächtige ist mithin die Urmonade, mit dem allergrößten Überblick. Alle anderen Monaden sind ihm, dem Schöpfer, zugeordnet in aufsteigender Intensität des Bewusstseins, vom toten Holz, das an einem namenlosen Strand irgendwo in China angespült wird, bis hin zum allseits vernünftigen Menschen, der zum Beispiel dem kriegslüsternen französischen Sonnenkönig rät, mit seinen Soldaten lieber nach Ägypten zu ziehen als den Kaiserdom in Speyer zu zerstören …

Weil jede Monade in ihrer Eigentümlichkeit zugleich in sich vollkommen ist, kann es mehr als eine Wahrheit geben. Leibniz hat sich daher für die Überwindung konfessioneller Mauern eingesetzt, manch evangelisch-katholisches oder auch (innerevangelisch) lutherisch-reformiertes Verständigungsgespräch angeregt, die Idee einer einheitlichen dogmenfreien christlichen Kirche im Sinn. Nachkriegszeiten sind ja durchaus Chancen für die Ökumene, nach 1945 war das auch so. Damals wie heute jedoch versandeten die hehren Ideen, wurden auch bekämpft oder lächerlich gemacht. Geistigem Sommer folgt immer wieder stumpfe Eiszeit, ABER: Die Stimmen heiteren Lebens und vitaler Frische verstummen nie so gänzlich. Zur dreihundertsten Wiederkehr des Sterbetages Leibnizens wäre es ja angesichts der in unserem Grundgesetz praeambiliter erinnerten Verantwortung vor Gott und den Menschen unter Umständen und ganz vielleicht angezeigt, dem „Sommer deiner Gnad“ wieder mal Bedeutung zuzugestehen – der wunderschönen hellen Zeit der Urmonade!

Halten wir das aus? Ist nicht „nichts schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen“? Neigt sich unser langer westeuropäischer Sommer nach über sieben Jahrzehnten einem herbstlichen Ende zu, überreif abfallend wie eine nicht rechtzeitig abgeerntete und daher verfaulte Birne? Oder ist noch Zeit, „ein Apfelbäumchen zu pflanzen“? Müssen wir uns winterfestes Zeug zulegen, ohne aber recht zu wissen, aus welchem Stoff das denn am besten bestehen könnte? Gibt es vielleicht doch mehrere Wege, um durchzukommen? „Alternativen“ zu den vorgeblichen „Alternativlosigkeiten“? Wie, wenn tatsächlich nicht die Zerstörungskraft von Atombomben, sondern die Annahme von Leibnizschen Monaden die Realität unseres Lebens besser erfassen könnte? Warum soll es nur eine Wahrheit geben können? Was, wenn am Ende doch die aus binärem Denken sich gottergebende Eindimensionalität der „Eins“, also der creatio, das überschaubare Maß aller irdischen Dinge ist? Und es sich erweist, besser vom nihil zu schweigen? Denn leben wir nicht eher in der Schöpfung als im Nichts?

Leibniz hat aus den Möglichkeiten der lebendig-bewussten Entfaltung seiner Monaden auf eine „beste aller Welten“ geschlossen. Nicht Hybris war also die Motivation zu solch steilem Wort, sondern: – Hoffnung. Mit weitem Herzen und offenen Augen und Ohren sowie mit hellwachen Sinnen … Es geht um innere Haltung, auch wenn die Sonne gerade einmal nicht scheint. Sogar im finsteren Sumpf der „Mitteleuropäischen Sommerzeit“, die uns morgens im Dunkeln tappen lässt, also selbst in solch frech verordnetem Eingriff in den Gang von Zeichen, Zeiten, Tagen und Jahren, muss sich niemand um den eigenen Verstand bringen lassen.

Und wenn das alles zusammenbrechen sollte – ja, dann bleibt immer noch der Traum vom Braunen Bären und der Weißen Taube, zu Wildpferden zu werden, frei von allen Konventionen. Manitu macht’s möglich, phantasievoll in einem schönen Märchen. Freilich ist diese Umwandlung irreversibel: Aber die beiden werden, nach einigen Wirren, glücklich miteinander. Schnee und Sonne und Eis, heiterer Beethoven und ernster Haydn, dazu Ger(n)hardt, Leibniz und Mozart, heilsamer Spott über Genderwahnsinn und Bargeldverschmutzung, stattdessen winterlich sportive Schlittschuhreisen und sommerlich kindliche Strandbadbutjereien… Beste Zeit, umsonst und draußen, kann kommen!

Zur Abbildung: Paul Gerhardts fünfzehnstrophiges Sommerlied erschien erstmals in der „Praxis pietatis melica“ des Berliner Nicolaikantors Johann Crüger im Jahre 1653. Im gegenwärtigen Evangelischen Gesangbuch findet es sich unter der Nummer 503.