Tafeln wie bei den Essenern

Der Kalauer „Kein Essen in Essen“ war bald gegessen. Und dass die Essener an der Ruhr nicht leiden mögen, ist sicherlich ein ehrlicher frommer Wunsch. Im Bad Essen zu fassen sollte ebensowenig verhindert werden wie das römisch-katholisch geprägte oldenburgische Essen am Fasten. Essener verteilen sich auf mehrere Orte gleichen Namens sowie ganz verschiedene Zeiten der bekannten Menschheitsgeschichte. Seit der homo sapiens sein Wesen treibt, also im ureigenen Inter-Esse west, gibt es kollateral immer auch Tafelbesatz sowie Mitesser. Nichts hebt oder senkt die Stimmung mehr als ein gutes oder schlechtes, ein reichliches oder mageres, ein vorhandenes oder kein Essen.

Krankenflussheilkunde (Essen/Ruhr), Bäderkultur (Bad Essen) und Fastentradition (Essen/Oldb) verweisen dabei wie im Vorübergehen auf unsere historischen Wurzeln in Hellas, Rom und Israel. Und sollte dieses essenisch außergewöhnliche Zungenragout vokabelgelehrt mit dem Eschenbaum zu tun haben, dann winken mithin Zweiglein auch aus germanischer Urzeit den Kollegen im – gemäß der anderen etymologischen Möglichkeit: – Essen = Osten freundlich zu. Da kommen klar orientierte Tafelfreuden auf, viel völkerverbindender, als man es okzidental je gedacht hätte. Das liegt in der von jeglichen vier Winden, also vor irgendwelchen individuellen vier Wänden unabhängigen Natur der Sache; denn als erstes der allen Menschen unterschiedslos gemeinsamen Trias, vor dem Trinken und dem Dach überm Kopf, rangiert eben bekanntlich (ich neige hier auffällig zu Wiederholungen) das – ja genau: das Essen.

Lautstark getönte Rempeleien durch selbstbewusst fremdgesteuert sich permanent penetrant im Überlebenskampf vermeinende Jungmännertrupps an den Tafeln der Essener zulasten von armen Witwen und Waisen sind hingegen eher unmenschlich und folglich in unserem Zusammenhang nicht überliefert … – obwohl es in anderer Hinsicht gewiss auch dort an der Kenntnis von bei uns bis etwa in die Mitte der achtziger Jahre allgemein gültigen Benimmregeln mangelte: Die Tischsitten dürften sehr anders als im nunmehr bald vollends dahingerafften bürgerlichen Zeitalter ausgesehen haben. Es muss damals beim Essen einigermaßen grob zugegangen sein. Hier gibt die jüngere Texttradition eine deutliche unmissverständliche Auskunft: „Jesus sprach to siene Jüngers: / Lasst de Gabels, nehmt de Fingers.“

Wir können noch weiter zurückgehen: Der wahre Tafelberg liegt womöglich nicht am Kap der Guten Hoffnung, sondern in biblischer Steinwüste, dort, wo Mose vom Berg Horeb / Sinai die zwei Tafeln des Gesetzes den Adressaten brachte und angesichts der Ausschweifungen seiner Lieben strukturell ebenso wüst wütend wie diese feiernden – fast hätte ich gesagt: fressenden – Männlein und Weiblein seine steinernen Mitbringsel am Felsen zerschmetterte. Ersatz musste also her, zwar in Stein gemeißelt wie beim ersten Mal, aber eben nicht mehr mit der ursprünglichen essenziellen Autorität behaftet. Jedenfalls gibt es seither niemanden auf der Welt, der die Zehn Gebote unverbrüchlich eingehalten hätte. Und wäre das sprichwörtlich gewordene Goldene Kalb aus essbarer Substanz gewesen, würde man noch heute entweder von der psychologisch freudvollsten Totemmahlzeit oder aber von der gottlosesten jemals stattgehabten Grillparty reden – Motto: „Essen und Schlafen“ …

Selbsternannte Ausnahmen von der orgiastischen massa perditionis hat es freilich immer mal wieder geben wollen, erpicht darauf, dass tout le monde über ihr essenzgebendes Betragen in die Geschichtsbücher hineinschreiben möge: „Das war spitze“ – in schroffer Abgrenzung zum plebs, zur vulgären Meute, zum Brechtschen malmot „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“: tafelspitz sozusagen. Völlig regelfixiert, aber eigentlich verrannt im Wahn, vollkommen zu leben, wandelten solche Sekten komplett unlustig, ironiefrei und humorlos vo/ergeblich als ein Herz und eine Seele – was, wenn es denn nicht im Massenselbstmord endete, stets kulminieren sollte in gemeinsamen Mahlzeiten. Man gut, dass irgendwann die Christen kamen: Mit ihren rein karitativ verstandenen Sättigungsmählern befestigten und bestätigten sie den antiken Grundstein für eine weltliche Liturgie, die im sozialen Gedanken bis heute hin wirksam ist. Das Abendmahl hingegen war früh davon getrennt; hierher gehört das fromme Bewusstsein, eben nicht perfekt zu sein und daher auf göttliche Gnade zeitlebens angewiesen zu bleiben: Nur deshalb konnte / kann es als Sakrament gelten und somit heilsame eucharistische Kraft behalten.

Ein recht überhebliches Beispiel von nicht vollzogener Unterscheidung zwischen profan und sakral sind hingegen die Essener. Hier sehen wir ihre Tafel:

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… – besser gesagt das, was von ihr nach über anderthalb Jahrtausenden noch übrigblieb. Ist es nicht bemerkenswert, dass auch die asketischste, keuscheste, weltentsagendste Gruppierung, die sich denken lässt, einen Speisesaal benötigt? So, wie es in jedem Kloster ein Refektorium und an jeder Universität eine Mensa gibt, versammeln sich auch die echten Essener zu bedürfnisstillender Runde und machen ihre Phagsen. Ob sie sich dabei auch sarkophag, also fleischverzehrend betätigt haben, wissen wir nicht so genau. Immerhin kann ihnen ein gewisses todesmutiges Verhalten attestiert werden, sofern sie identisch sind mit einer jener endzeitlich ausgerichteten Gemeinschaften, wie sie in der Zeit um Christi Geburt in und um Israel existiert haben.

Vom Leder gezogen haben sie auf jeden Fall mit ihren Schriftrollen, die seit anno 1947 in Felshöhlen am Toten Meer gefunden worden sind. Die Forschungsergebnisse und noch vielmehr die Spekulationen, was für Leute es waren, denen wir diese Funde und Kunde verdanken, schießen seither ins Kraut, sind Legion geworden, gehen auf keine Kuhhaut = füllen unendlich viele Pergamentblätter = Schreibmaterial aus Tierhäuten. Auch Papyrnes entdeckte und entzifferte man dort in Qumran und Umgebung, seit ein paar Hirtenjungen zufällig darauf gestoßen waren und manches davon in der Folge zu richtig Barem machten. Zum Essen gehört ja auch Geld. Wer nicht selbst Grund und Boden besitzt, muss sich Phagäres mit Pekuniärem beschaffen. So erschreckend einfach leben heutzutage auch Millionen Abendlandbewohner dahin; manche nur graduell von den Jungs aus Nahost darin unterschieden, dass sie etwas mehr Annehmlichkeiten genießen dürfen: denn in der Tat, die Konsumkultur ist ein klein wenig ausladender. Aber im Prinzip gilt hier wie dort: Das Essbare ist gnadenlos gekoppelt ans Einkommen.

Die Essener, von denen unter anderem Philo von Alexandrien und Flavius Josephus berichten, müssen in zeitgenössischer Wahrnehmung schräge Vögel und komische Käuze gewesen sein. Aussteiger, religiöse Sonderlinge, Eigenbrötler. Ihnen lag an unbedingter Frömmigkeit, sie studierten, wenn sie ihr landwirtschaftliches Tagewerk vollbracht hatten, die heiligen Schriften, pflegten ihre Gebete mit den dazugehörigen rituellen Waschungen, hielten ihr Fasten peinlich genau ein und schufen so, im Vollzug asketischen Lebens, ihre eigenen Regeln in einer eigenen Welt fernab von Städten und Dörfern. Als echte Männer einer verschworenen Gemeinschaft lehnten sie die Ehe und sonstigen weltlichen Tand entschieden ab. Sie entwickelten in ihrem abgehoben-abgesonderten Denken die Erwartung eines Endkampfes der Mächte von Licht und Finsternis, wobei das Helle über die Hölle siegen würde. So verfassten sie, die eher unpolitisch und gewaltabstinent leben wollten, die „Kriegsrolle“, eines der charakteristischen lederbeschriebenen Stücke, mit denen sie den Forschern des zwanzigsten Jahrhunderts dann den Kopf verdrehen sollten.

Ob Johannes der Täufer oder gar Jesus von Nazareth diese Höhlenmenschen vom Ende der Welt kannten, vielleicht bei ihnen in eine religiös-spirituelle Lehre gegangen waren und/oder zumindest zeitweilig sich ihnen angeschlossen hatten, sind nichts als letztlich unbeweisbare Vermutungen – denn im gesamten biblischen Textkorpus werden an keiner einzigen Stelle die Leute von Qumran geschweige denn die Essener namentlich erwähnt. Umgekehrt sind die Schriftrollen vom Toten Meer gedanklich oft nahe am Alten und Neuen Testament, auch dort, wo sie über die Kommentierung von Propheten und Psalmen weit hinausgehen. Sie bezeugen die Erwartung nahen Weltendes – und weil ihre Verfasser und Leser sich auf der richtigen Seite wähnen, hoffen sie für sich selbst auf ein ewiges Leben im Himmel.

Mit Fried und Freud essen sie gemeinsam und lassen dabei Platz für den Messias, damit er bei ihnen zu Tisch sitzen / liegen mag, wenn er kommt. So gerät jede Mahlzeit zum Gottesdienst derer, die schon jetzt näher dran sind am Heil als die vielen anderen Unerleuchteten, die beim Hereinbrechen der Apokalypse Fürchterliches zu gewärtigen haben. In Abschottung und auch Verwerfung sehen die Essener letztlich vor allem auf ihre eigene Erlösung. Sie grämen sich mit Arbeit, Fasten und Enthaltsamkeit jeglicher Art, wollen immer nur „geistlich“ sein … Der kluge Philo ordnet sie treffend und durchaus bewundernd den Thaumaturgen zu = vulgo Traumtänzern.

Mit den Schrecken des Jüdischen Krieges (66 bis 135 nach Christi Geburt) verliert sich auch die Spur der Qumrangemeinde. Bis zur Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer wusste man von ihrer Existenz nur durch Darstellungen bei den genannten und noch einigen weiteren Autoren, die sie als „Essäer“ oder eben „Essener“ bezeichnen – mit Betonung auf der zweiten Silbe … Ob dieser Begriff eher „die Täter (der Thora)“ – also diejenigen, die wirklich die Weisungen des Mose voll und ganz praktizieren – , oder eher „die Frommen“ meint, ist in der diesbezüglichen Wissenschaft nicht eindeutig entschieden. Beidemal hören wir allerdings einen unbedingten Anspruch auf die eigene Exklusivität heraus. Mit der weltumspannenden Weitsicht des biblischen Geistes, so er denn irgendwo heutzutage wirklich weht, hat das wenig bis gar nichts zu tun. So mögen die Essener unter sich vielleicht sogar auch mal fröhlich gewesen sein, die Zeitgenossen außerhalb aber wurden an den höheren Höhlenhellen und schließlichen spirituell-schönen Sonnenstrahlen ausdrücklich nicht beteiligt.

Wer aus bloßer Ichsucht Platz sich verschafft an der Tafel der Essener, hat aber in jedem Fall sich auszurichten an den herrschenden unverrückbaren Regeln. Wenn das schon für die mit Betonung auf der zweiten Silbe gilt, um wieviel mehr bei denen, die zuerst betonen?! Und das ist es doch wohl, was die Ehrenamtlichen in Essen/Ruhr bewog, die Reißleine zu ziehen. So sehr christliches Engagement sich unterschiedslos an alle wendet, umso deutlicher muss die Ansage ausfallen, wenn diese tätige Nächstenliebe ausgenutzt wird und für die arme Oma nichts mehr übrigbleibt zum Essen. Krankheiten kurieren, Bäder betreiben, Fastenzeiten frommen – also für leibgeistseelisches Wohlergehen so sorgen, dass niemand bevormundet noch vernachlässigt wird: das war einmal der Anspruch, unter dem unsere Gesellschaft sich nach zwei schrecklichen Kriegen neu formierte. Dies tat man in dem hellwachen Bewusstsein, dass die jüdisch-christliche Tradition sowie das griechisch-römisch-humanistische Erbe die eigene Kultur in ihrer Essenz gut geprägt hatten, in weiser Unterscheidung von geistlich und weltlich Regiment. In jenem hat fader Traubensaft nichts verloren; und in diesem ist niemand genötigt, sich über Lebensmittel, die haram seien, zu beschweren. Und dass die wirklich Bedürftigen stets Vorrang haben (so es denn Tafeln dieser Art überhaupt geben muss in unserem reichen Land), dürfte sich eigentlich von selbst verstehen.

Wenn wir in unserem lieben Deutschland hier und jetzt auch den aus dem Orient und sonst aus aller Herren Länder Neuhinzugekommenen diese Botschaft vermittelt haben werden, in aller Strenge und Klarheit, dann dürfte demnächst auch an den Tafeln der Essener kein Streit mehr sein. Hoffen wir, wie immer einigermaßen historisch informiert, nur das Beste.

Abbildung: Speisesaal in Qumran. Unter Verwendung eines Fotos aus: Hans Bardtke, Die Handschriftenfunde am Toten Meer, Band 2: Die Sekte von Qumran. Berlin 1958.