Kohls Übergriffe auf mein Leben

Dreimal hat Dr. Helmut Kohl, der nun mit 87 Jahren verstarb, in mein Leben eingegriffen. Das finde ich im nachhinein noch erstaunlich und durchaus bedenkenswert; denn sein Einfluss auf mich war rein medialer Natur. Das Fernsehen gebiert Ungeheuer, manches Ondit trat hinzu – und das sage ich gerade wegen der lateinischen Sentenz De mortuis nil nisi bene – das letzte Wort ist kein substantiviertes Adjektiv, das einzelne liebreizende Dinge meinen könnte, sondern ein Adverb, so dass der Satz nicht etwa übersetzt lautet: „Über die Toten nur Gutes“ (das wäre: bonum), sondern: „Über die Toten nur gut“, im Sinne von: insgesamt richtig, angemessen, ordentlich. Der Spruch ist also gerade keine Einladung zu anekdotenhafter, doch ansonsten substanzloser Lobhudelei, sondern eine sowohl Inhalt als auch Form umfassende Mahnung, bei der Wahrheit zu bleiben.

Es steht mir nicht zu, das gewaltige weltgeschichtliche Lebenswerk dieses Mannes zu beurteilen – dafür haben wir „in diesem unserem Lande“ Heerscharen von bestallten und/oder berufenen Journalisten sowie solchen, die es werden wollen oder doch zumindest gern wären. Die ziehen jetzt ihre vorbereiteten Lebensläufe aus den Schubladen, bringen sie auf den letzten Stand und veröffentlichen sie ansprechend kommentiert. Manche Irrtümer findet man da fortgeschrieben, und sei es in Form von despektierlichen Witzen, über die seinerzeit Pennäler von meinem Schlage lachen konnten, z.B. diesen hier: Präsident Reagan, Premierministerin Thatcher und Bundeskanzler Kohl treffen verspätet in Moskau ein. Sie werden vom der englischen Sprache mächtigen Staats- und Parteichef Gorbatschow empfangen, und eine Person nach der anderen entschuldigt sich: Reagan: „I’m sorry“ – Thatcher: „I’m sorry, too“ – Kohl: „I’m sorry, three“ …

Als „Birne“ (Titanic), tolpatschig, linkisch, ungehobelt und eben auch fremdsprachenfrei wurde der Kanzler in den mittleren Achtzigern von seinen Gegnern ins Lächerliche gezogen, und wir freuten uns wie Bolle, mittenmang dabei sozusagen. Den „schwarzen Riesen“ doof zu finden war Kult, und wer dazugehören wollte, machte unbesehen mit. Meine heimlichen Sympathien galten höchstens dem vormaligen rheinlandpfälzischen Regenten in der Mainzer Staatskanzlei, der dort mit Beschallung durch Musik von Vivaldi oder Mozart in Wollsocken an Sandalen herrscherlichen Freuden frönte. Und Respekt zollte ich ihm, als er sein schönes bequemes Ministerpräsidentenamt verließ, nachdem er als Kanzlerkandidat die Bundestagswahl 1976 zwar verloren, aber beachtliche 48% für seine Union geholt hatte und hernach im Bonner Parlament als Oppositionsführer eine neue Rolle fand, um von dort seinen Einfluss beharrlich auszubauen, FJS 1980 zum Trotz.

„Er kann es nicht“, sagte Franz Josef Strauß (der nach eigenen Worten lieber Ananaszüchter in Alaska geworden wäre denn Aspirant fürs Bundeskanzleramt) über seinen vorgeblichen „Männerfreund“. Dieser letztere ließ es sich nicht verdrießen und gab dem bayrischen Ministerpräsidenten die (aussichtslose) Chance zum Griff auf den mächtigsten Posten, den diese Republik zu vergeben hat. NB: Ebenso großzügig ließ Frau Merkel den Bayern-MP Stoiber anno 2002 abschmieren. Drei Jahre später war sie Kanzlerin. Zwei Jahre nach der Stoppt-Strauß-Wahl, also 1982, war die in einem bisher nicht inkriminierten Facebook-Beitrag so bezeichnete „Birne meiner Jugend“ am Ziel aller Träume.

Kohl nahm mir „meinen“ Kanzler

Vor dem Fernseher, 1. Oktober 1982. Bundestagsdebatten per Rundfunkapparat oder TV-Gerät zu verfolgen war in jener Zeit unter Normalbürgern eine weitverbreitete Tätigkeit, bei der kritisches und geduldiges Zuhören eingeübt werden konnte, ohne dass der Unterhaltungsfaktor außenvorbleiben musste. Als Klassiker galten die Rededuelle zwischen Bundeskanzler Schmidt und CSU-Vorsitzendem Srauß, vom brummeligen SPD-Solisten Wehner („Sie Diffeldoffel, Sie“) oder der feinen F.D.P. -Dame Hamm-Brücher gar nicht erst zu reden. Einen schweren rhetorischen Stand hingegen hatte CDU-Chef Kohl; wir bemitleideten ihn wegen seines angelernt wirkenden unschuldbeteuernden Augenaufschlags hinter der biederen Kassenbrille und seiner langweiligen Art insgesamt.

Noch am Tag des konstruktiven Misstrauensvotums sollen F.D.P. -Abgeordnete bei der CDU/CSU-Fraktion angefragt haben, ob man nicht eine andere Person als Schmidt-Nachfolger benennen könne … Aber an dem Machtmenschen aus Oggersheim führte nun, nach bereits neun Jahren Parteivorsitz und seinem guten Abschneiden bei der Wahl ’76 kein Weg mehr vorbei. Ich kauerte mich in eine Sofaecke, wie betäubt allein von der bloßen Vorstellung, am Abend dieses Fernsehtages keinen Kanzler Schmidt mehr zu haben. Allzu lebendig stand mir noch das Foto vom tränenüberströmten Willy Brandt im Mai 1974 vor dem erinnernden Auge: nach den Intriguen von Onkel Herbert und dessen in Moskau geäußertem Satz, der Kanzler bade gern lau, war die Enttarnung des Beraters Guillaume als DDR-Spion nur der letzte Anlass gewesen, die Spitze im Palais Schaumburg auszutauschen. Und jetzt, gut acht Jahre später, sollte ich erneut umlernen und mich umstellen müssen?

Mir wollte nicht einleuchten, was man gegen den energischen, sprachgewandten, sachorientierten, scharfsinnigen und zugleich musischen Abgeordneten „Schmidt-Bergedorf“ in seiner weltweit angesehenen Regierungsführung ernsthaft einwenden könnte. Im direkten Gegensatz zu ihm wirkte Kohl eigentümlich tumb, kolossal-unbeholfen … – aber eben auch verschlagen, unberechenbar trotz oder gerade wegen dieses notorischen äuglichen Plinkerns. Junge feingliedrige Menschen empfanden diese massige barocke Erscheinung als Zumutung mit Tendenz zur Bedrohung. Mit solch einem Typen allein in einem Raum würde man selbst völlig wehrlos an die Wand gedrückt werden … dachte ich so bei mir. NB: Die letzte Audienz, die er seinem an den Rollstuhl gefesselten Nachfolger im Parteivorsitz gewährte – es ging um die Parteispendenaffaire – , endete so (glaubt man Augenzeugen): Schäuble konnte aus eigener Kraft die Ausgangstür nicht öffnen, und Kohl, der einfach hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb, half ihm nicht. Mehr Demütigung ist kaum vorstellbar.

An jenem Herbsttag in Bundeshaus zu Bonn am Rhein wurde dann in der Tat Helmut Kohl, wie allgemein erwartet, zum Kanzler gewählt. Helmut Schmidt gehörte zu den ersten Gratulanten, mit knappem Handschlag und strähnenweise heruntergefallener Haartolle, derangiert und erschöpft wirkend. Aber nicht die Spur einer Träne: Bis zuletzt ganz das Gegenteil vom Star der „Willy-Wahl“ 1972, der nur zwei Jahre später so tief fiel … Nun also der andere vom „doppelten Helmut“ (wie es im Blick auf den 1976er Bundestagswahlkampf der Stern formuliert hatte) – und, so ergänze ich, die andere der doppelten Hannelore. Mehr als die Namensgleichheit der sich ablösenden Kanzlerehepaare schien es an Gemeinsamkeiten aber nicht zu geben. Ab nun warteten wir gespannt darauf, was die in Aussicht gestellte „geistig-moralische Wende“ denn inhaltlich bieten würde.

Das böse Wort von der „Wenderegierung“ traf in erster Linie die Partei mit den drei Pünktchen, die ja hauptverantwortlich zeichnete für Schmidts Sturz. Genscher, Mischnick und Lambsdorff traf unser innerer Bannstrahl, aber es half ja nichts, diese Politiker waren bald wieder obenauf und bekleideten Regierungsämter wie zu Zeiten der sozialliberalen Koalition. „Ich stimme so ab wie die Mehrheit“ , das schien das Motto der F.D.P. zu sein, und mir fiel die Anekdote ein von Bundeskanzler Brandt, als er in Moskau mit feinem auftrumpfendem Lächeln eine Spitze setzen will und nach irgendeinem Vertragsabschluss darauf hinweist, diese jetzt paraphierte Vereinbarung müsse nun demnächst noch vom heimischen Bundestag demokratisch abgesegnet werden; „denn bei uns entscheidet ja die Mehrheit“ – Breschnew darauf zu Brandt: „Bei Ihnen, da regieren fünf Prozent!“

Kohl verhinderte meine Teilnahme an einer Bundestagswahl

Zeitungen, Radio und Fernsehen, Mitte Dezember 1982 bis Anfang März 1983. Noch immer schäume ich, wenn die Rede auf den 6. März 1983 kommt, jenen Tag, den Kohl sich ausersehen hatte für vorgezogene Neuwahlen zum Deutschen Bundestag. Dafür bediente er sich des Instruments der Vertrauensfrage, in der Absicht, dass sie von einer Mehrheit der Parlamentarier nicht positiv beschieden würde. So votierten also jene Abgeordneten, die zweieinhalb Monate zuvor Kohl gewählt hatten, nunmehr zunmindest nicht für den eigenen Kanzler – indem sie sich nämlich der Stimme enthielten in der Hoffnung auf ein insgesamt satteres Wahlergebnis für die neue Regierungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. – Bundespräsident Karl Carstens spielte bei diesem fadenscheinigen Manöver mit, löste kohlwunschgemäß den Bundestag auf und machte damit den Weg für die vorgezogenen Neuwahlen am besagten Märzsonntag frei.

Erst mit dieser Entscheidung kam mir eine Episode aus der Fernsehberichterstattung am Abend der Wahl 1980 wieder in Erinnerung: Franz Josef Strauß hatte sich vor Lachen kaum halten können, und diese Fröhlichkeit des Verlierers irritierte damals außerordentlich. Aber gleichzeitig war der F.D.P. -Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher gefragt worden, ob er tatsächlich eine Neuauflage der sozialliberalen Koalition über vier weitere Jahre garantieren könne, woraufhin er seeeehr zögerlich und leise sich die Antwort spürbar abrang, sinngemäß: „Das hab ich doch gesagt“ … Und wie rot waren da die abstehenden ihm eigenen Außenministerohren geworden!

Nun also, zur Jahreswende 1982/83, war klar, dass ich nicht wählen durfte! Am regulären Bundestagswahltermin im Herbst 1984 wäre ich locker achtzehn Jahre alt gewesen, aber eben nicht im Frühjahr 1983! Alle in meiner Schulklasse und im Freundeskreis waren zutiefst empört. Wir konnten machen, was wir wollten, es würde uns nichts bringen. Der neue Kanzler ließ uns völlig hilflos zurück, und in ohnmächtiger Wut sprachen wir fortan sehr forciert erst recht nur noch von „Birne“ und spotteten über die „geistig-moralische Wende“ , wie sie vor Ort in Gestalt der neuen „Popper“ -Mode Einfluss gewann: „Was lacoste die Welt?“ – Später wurde dann auch noch das Privatfernsehen eingeführt. Hätten wir am 6. März 1983 mitwählen dürfen, wäre natürlich alles ganz anders ausgegangen, na klar!

Niemand kann deshalb meiner Generation den Vorwurf machen, sie habe Kohl von vornherein keine Chance gegeben. Im Gegenteil, er hatte doch uns, aufstrebende interessierte potentielle Erstwähler, verschmäht! Bei der ersten Bundestagswahl, die ich tatsächlich dann mitmachen durfte, im Januar 1987, wählte ich den Abgeordnetenkandidaten der Kanzlerpartei also bewusst nicht. Ein feuchtäugiger Kohl und ein entsprechend (?) feuchtfröhlicher Strauß waren an jenem denkwürdigen Wahlabend fernsehweise zu besichtigen …

Der Groll wirkte weiter. Das Wort von der „Gnade der späten Geburt“ etwa rief Spott hervor. Wir 83er-Betrogenen wollten einfach nichts Berechtigtes an diesem Ausspruch finden, ignorierten fleißig frühere Voten des CDU-Vorsitzenden, zum Beispiel seine Einlassung in der Wahlkampfsendung von 1980, in der er, gegen Kanzler Schmidt gewandt, auf den eigenen Bruder verwies, der im Krieg gefallen war. Dieses Ereignis hatte Kohl derart verinnerlicht, dass es ihm Ansporn geworden war, jeden Schlagbaum in Europa niederzureißen und jede nur irgendwo drohende militärische Eskalation mit den Mitteln der Diplomatie und der Wirtschaft im Keim schon zu ersticken.

Kohl und Schmidt waren hier im Grunde einer Meinung: trotz biographisch bedingter Unterschiede, die ja vor allem die Geburtsjahre betraf: 1930 Ludwigshafen, aber 1918 Hamburg. Dieser Helmut musste in den Krieg, jener Helmut knapp nicht mehr. Die derzeitige Bundesverteidigungsministerin sollte sich das einmal zu Gemüte führen, anstatt, wenn sie nicht gerade abgerundete Ecken bei Panzern einfordert, Fotos von notgedrungen Wehrmachtsangehörigen abzuhängen. Was bildet die sich eigentlich ein?

Wie gesagt, statt genau hinzuhören ziehen wir den Kanzler der Geschichtsklitterung und machten uns auch sonst lustig über sein abtrainiertes Pfälzisch, das dann zu solch irren phonetischen Phänomenen wie dem Begriff „Gechichte“ führte, die „hochdeutsch“ gemeinte Alternative zur saumagenkompatiblen „Geschischte“ …

Kohl missachtete die Konfession seiner Ehefrau und somit meine

Venezia, Palazzo Ducale, August 2002. Eben noch waren wir, Teilnehmer einer deutschsprachigen Führung durch den Dogenpalast, voller Verachtung am Denunziantenbriefkasten vorbeigegangen, da kamen wir landsmannschaftlich übergreifend ins Gespräch; denn in der Gruppe waren einige aus Ludwigshafen, und es stellte sich überdies heraus, dass es sich um Glieder einer evangelischen Kirchengemeinde handelte, die da unterwegs waren. Nun dauerte es nicht lange, dass die Rede auf ein Datum gut ein Jahr zuvor kam, nämlich den 11. Juli 2001. Da hatte die Trauerfeier für Hannelore Kohl geb. Renner stattgefunden, an keinem geringeren Ort als im Kaiserdom zu Speyer. So kochte der Ärger mitten im Dogenpalast zu Venedig wieder hoch, in deutlicher Erinnerung an seinerzeit gedruckte Schlagzeilen wie diese: „Katholische Totenmesse für eine Protestantin“ …

Statt für hätte es sachlich richtiger wohl gegen heißen müssen. Doch das für die Ehegattin des früheren Bundeskanzlers zuständige evangelische Pfarramt hatte keine Chance, den Gottesdienst liturgisch oder homiletisch zumindest mitzugestalten. Die Familie Kohl setzte sich auf ganzer Linie durch und ließ der gebürtigen Berlin-Schönebergerin und aufgewachsenen Leipzigerin ein römisch-rheinisches Requiem zelebrieren, so, als sei dies völlig selbstverständlich beziehungsweise „alternativlos“ . Eine neuerliche öffentliche Protestation von Speyer wie weiland auf dem Reichstag anno 1529 blieb aus, die Gemeinde aus der „Protestantischen Kirche der Pfalz“ litt still und nur auf Anfrage laut – dazu musste unsereiner erst ins Machtzentrum einer verflossenen Seerepublik reisen: Mille grazie alla Serenissima!

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Übrigens: Wo Kaiser Konrad und Kaiserin Gisela ruhen, kam Hannelore selbstredend nicht hin – und auch Helmut wird, wenn ein Stockwerk höher das Auferstehungsamt beendet ist, mitnichten sein Grab in der Krypta finden. Bei den verblichenen Herren des Domkapitels soll er hingebettet werden. Genug weit weg vom Kohlschen Familiengrab in Ludwigshafen, wo nun Eltern und deren Schwiegertochter einigermaßen endgültig ohne den berühmten Sohn auskommen müssen. Derweil zanken sich dessen Nachkommen mit der etwa gleichaltrigen Stiefmutter, und irgendwie ist man als schlichter westdeutsch und gesamteuropäisch denkender Durchschnittsbürger  mit einemmale nicht ganz unglücklich darüber, mit solchen Streithanseln keinen näheren Kontakt gehabt zu haben.

Kohl hatte auch gute Seiten

De mortuis … Das Beste an Kohl war seine Fähigkeit, alles Unangenehme „auszusitzen“. Darob ist er heftig gescholten worden; aber wer je eine auch nur kleine politische Rolle eingenommen hat, weil er in ein übergeordnetes Amt gewählt wurde, weiß, wie nötig es manchmal ist, sich nicht aufscheuchen zu lassen im Namen eines noch so heftig eingeforderten immerwährenden Aktionismus. Die damals Ende November 1989 durch Hannelore in ihre Reiseschreibmaschine getippten „Zehn Punkte“ für die Schaffung einer deutsch-deutschen Konföderation wurden von Kohls Gegnern derart auseinandergenommen und wütend bekämpft, dass man im nachhinein eigentlich nur bewundernd dasteht und sagen muss: Da begann er, erratisch, wie so oft, die deutsche Einheit mit Umsicht und taktischem Geschick und sanfter wiewohl entschiedener Diplomatie meisterhaft zu organisieren.

Dass im Nachgang zur Währungsunion zum 1. Juli 1990 mit dem viel zu günstigen Umtauschmodus für das DDR-Geld ein Bundesbankpräsident zurücktrat, wurde wenig später kompensiert durch die Konstruktion einer „Europäischen Zentralbank“ nach bundesdeutschem Muster und auch mit Sitz in Frankfurt am Main. Allerdings verhallte das damit gegebene Signal ungehört: Die meisten der bisherigen EZB-Präsidenten stammen aus ehemaligen Weichwährungsländern (Frankreich, Italien), und dementsprechend sieht die Geldpolitik heutzutage aus. Das ist beileibe nicht Kohl anzulasten – zu kritisieren ist er allerdings an dem Punkt, dass er im „Euro“ ein Allheilmittel gesehen hat, gesamteuropäischen wie bundesdeutschen Interessen gleichermaßen entsprechen zu können.

Mit niedrigeren Beweggründen südeuropäischer Staatsbanken hat er seinerzeit nicht rechnen wollen und können. Schlagbäume zu beseitigen, wo auch immer, also ganz idealistisch, war sein unermüdliches Anliegen. In seiner Sicht der Dinge hat er hier die Chance zur Überwindung des Eisernen Vorhangs als Dienst am sich vereinigenden Europa wahrgenommen und in verblüffendem Tatendrang durchgesetzt. Der „Birne“-Spott verstummte zu Recht, die Fragen indes, welche offene Grenzen und „europäische“ Geldflutungsaktionen heutzutage aufwerfen, sind drängender denn je und harren nicht etwa geschickten Aussitzens, sondern entschlossenen Handelns.

Kohl konnte ja bisweilen aus der Haut fahren – gegen einen einzelnen Eierwerfer bei einer Wahlkampfveranstaltung in Halle an der Saale nahm er höchstpersönlich die Verfolgungsjagd auf und wurde nur mühsam durch seine eigenen Personenschützer gestoppt: daraus entstand umgehend das ironische Plakat „Aufeinander zugehen“ … Jede in „linken“ Kreisen darüber geäußerte Abfälligkeit gerät indes zur Hybris, wenn verkannt wird, wie im Grunde menschlich der „Kanzler der Einheit“ da agierte. Jedenfalls wüsste ich derzeit niemanden von den jetzigen aktiven Politikern zu benennen, der die nötigen „Eier“ hätte, für seine eigenen gesellschaftlichen Ziele derart umfassend und ohne gesteigerte Rücksicht auf Sicherheitsbedenken urtümlich einzustehen. In solchen Momenten waren Kohl Übergriffe durchaus positiv: lehrreich und vorbildlich.

Abbildung: Krypta im Dom zu Speyer; nach der Vorlage einer Ansichtskarte aus den frühen achtziger Jahren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hieronymus Wolf

Wenn Martin Luther eine Reise antreten wollte, musste er sich zunächst eines lästigen Brauchtums erwehren: Philipp Melanchthon pflegte seinem Freund nämlich in bester Absicht stets gern ein Horoskop zu erstellen, berechnete sorgsam die Konstellationen der Himmelskörper, um daraus dann einen günstigen Abreisetermin festzusetzen und überhaupt Verlauf wie Ziel der Unternehmung unter einem guten Stern zu wissen. Dem Reformator aber waren solche Künste derart zuwider, dass er sich nicht scheute, des Magisters Bemühungen, bei aller Liebe, heftig zu beschmunzeln.

Humanistische Spökenkiekerei versus biblisches Vertrauen: Für Luther war es vernünftiger, mal im Notfall und ganz spontan mit dem Tintenfass den Widersacher zu beschmeißen, als ausziseliert und methodisch zähflüssig-lebenslänglich sich an eine Wissenschaftlichkeit zu binden, die ja doch nur Stückwerk sein konnte … Wenn Gott will, dann wird es gut. Und wenn nach eigenen Begriffen etwas scheitert, dann mag auch dies für etwas „gut“ sein. Luther verstand seine Humanisten wahrscheinlich besser, als die sich selbst verstanden hatten. Er lebte drauflos, wo ängstliche Gemüter lieber langatmige Sitzungen anberaumten, durchführten und am Ende ebenso nichtsnutzig wie „ergebnisoffen“ auseinanderfließen sahen.

Aber – aufgepasst: Das Luthersche wurde eben längst nicht immer das Lutherische! Die impulsive Persönlichkeit Luthers hat (und in anderen Fällen können wir sagen: glücklicherweise) nicht unmittelbar auf die Kultur der lutherischen Kirche und ihre Traditionsbildung durchgeschlagen. Da war im Zweifel der liebe Magister Philippus vor. Es steht zu hoffen, dass im laufenden 500-Jahres-Jubiläum der Wittenberger Reformation auch einmal diese Dinge zur Sprache kommen … Nicht alles, was unter dem kirchlich „Lutherischen“ firmiert, ist auf Luthersches zurückzuführen, und andersherum gilt: Luther ist der seinen Namen tragenden Kirchenformation immer wieder im Laufe der Geschichte Stein des Anstoßes sowie der anregenden Aufregung geworden. Stromlinienförmig geht – gottlob – anders.

Eine sklavische Gefolgschaft im Sinne eines sozusagen „lutheristischen“ Personenkultes hat es also nie gegeben. Der Begriff „lutherisch“ leitet sich eher von den „Lutheranern“ her und müsste eigentlich „lutheranisch“ heißen, nämlich in Hinsicht auf die theologisch durchgebildeten Anhänger der Wittenberger Kirchenerneuerung. Die vom zwischenzeitlich wartburgerfahrenen Junker Jörg selbst abgelehnte Bezeichnung impliziert gerade nicht individuell Biographisches wie Lutherbier, federkielschwingende Playmobilfigur oder gar Anhängsel vom „Herrn Käthe“ – von Düsseldorfer Luderlümmeltüten ganz zu schweigen. Ob sich und uns die leitenden Gremien der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Gefallen getan haben, als sie seinerzeit eine „Lutherdekade“ ausriefen statt ein Jahrzehnt zur Wittenberger Reformation, sei deshalb dahingestellt.

Der Aberglaube eines Melanchthon machte nun aber unabhängig von solchen semantischen Erwägungen buchstäblich Schule oder fiel zumindest bei manchen Studenten auf bereits zuvor familiär verdunkelt bereiteten Boden: Einer der Vorlesungshörer des hochberühmten Gräzisten an der neugegründeten Universität zu Wittenberg war nämlich in den 1530er Jahren ein gewisser Hieronymus Wolf. Wer den Namen hier das erste Mal liest, den sollte kein intellektuelles Mangelempfinden beschleichen: Man muss diesen Herrn nicht kennen; er geht gänzlich in seinem wissenschaftlichen Werk auf. Aber indem er einen kulturgeschichtlichen Begriff erfand, hat er unser speziell abendländisches Bewusstsein vielleicht mehr geprägt, als uns landläufig bewusst ist.

Stubengelehrter entdeckt eine versunkene neue Welt

Vor über fünfhundert Jahren, am 13. August 1516, wurde er in Oettingen am Ries geboren und wuchs in Nürnberg und Nördlingen auf, unter seelisch belastenden Umständen. Seine Mutter verfiel dem Wahnsinn, da war der Sohn noch ein Kleinkind. Der Vater starb infolge eines Unfalls, was den Zwanzigjährigen bewog, pflichtbewusst die Vormundschaft für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Aber immer wieder versuchte er sich auch, schon im Kindesalter auffällig geworden durch außergewöhnliches Interesse an Geschichte, Philologie und Philosophie – dementsprechend gefördert von wohlmeinenden Lehrern – , als Weltbürger: in Paris, Basel und vor allem dann viele Jahre im fuggerischen Augsburg. Im Oktober 1580 ist er in der Reichstagsstadt gestorben, ledig und ohne leibliche Nachkommen.

Keinem der Ausflüge in die große weite Welt war längere Dauer beschieden: Misstrauen und Aberglaube ließen ihn aus allen Orten schnell wieder entweichen; unstet und flüchtig brachte er seine Tage zu, weil er überall Mordanschläge witterte in Form von vergiftetem Essen oder sonstigen tödlichen Verhexungen. Depressionen wechselten ab mit enorm zuversichtlichen Schaffensphasen; dem eben noch niedergeschlagenen Gemüt folgten hochgestimmte Entdeckerfreuden, vor allem in seinem höchstpersönlichen Bereich, dem von ihm überhaupt erst als solchen benannten Kosmos der byzantinischen Geschichte und Kultur.

Wie so viele Experten auf ihrem Gebiet, so hat auch Hieronymus Wolf niemals einen Ort aufsuchen können, der mit seinem Forschungsgegenstand nur annähernd in Verbindung gestanden hätte. Aber das war im humanistischen Selbstverständnis der Zeit auch gar nicht nötig: Von Bildungsreisen wie später im siebzehnten, achtzehnten oder gar neunzehnten Jahrhundert konnte der Normalbürger im Cinquecento nördlich der Alpen nur träumen. Bestenfalls kannte man jemanden, der gereist war und von seinen Erlebnissen erzählte. Vielleicht ließen sich interessierende schriftliche Überlieferungen aufspüren, ausleihen und lesen, gar käuflich erwerben und übersetzen. Wolf war ein ausgesprochener Bücherwurm, und seitdem er beim kunstsinnigen Jakob Fugger als Bibliothekar fungierte, standen ihm entsprechende pekuniäre Mittel zur Verfügung, Literatur anzuschaffen.

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Nun waren Studienreisen gen Anatolien damals sowieso äußerst selten. Noch keine hundert Jahre waren verflossen, dass Konstantinopel am 29. Mai 1453 von den Osmanen erobert worden war. Wahn und Wirklichkeit, Aberglaube und Orthodoxie stritten im Abendland seitdem heftig widereinander, wenn es um die kritische Bewertung und geistesgeschichtliche Einordnung dieses epochalen Ereignisses ging. Hieronymus Wolf hatte indes Bekanntschaft geschlossen mit einem Lebemann, der tatsächlich ins türkische Reich gereist und von dort mit geistlichen Schriften orthodoxer Mönche zurückgekehrt war. Fortan beschäftigte sich Wolf mit deren ihm ungewohnten Kirchen-Küchen-Griechisch, das er als Zeugnis einer eigenständigen „byzantinischen“ Kultur ansah und dementsprechend bezeichnete.

Ein Reich? Zwei Kaiser? Drei Kirchen?

Im Wolfschen Kunstwort „Byzanz“ und seinem Adjektiv steckt für jeden historisch informierten Fürsprecher des christlichen Reiches mit seiner Hauptstadt am Bosporus die befremdliche These, es habe ein „oströmisches“ Reich gegeben im Gegensatz zum im Jahre 476 untergegangenen „weströmischen“. Ein kaisertreuer Bürger hätte stets gesagt, dass seit der Umgestaltung des kleinen Hafenortes Byzantium in die prächtige Stadt Nea Roma (Neu-Rom) durch Kaiser Konstantin (bis zum Jahr 330) ebendort die alleinige Hauptstadt des Orbis Romanus zu suchen und zu finden gewesen sei. Noch nicht einmal kann aus dieser Sicht gesagt werden, dafür sei das bisherige Rom am Tiber durch die sogenannte „Konstantinsche Schenkung“ Besitz des dortigen Bischofs geworden (der sich später als „Papst“ und gar „Stellvertreter Christi auf Erden“ verstand) …; denn ALLES war ja im Neuen Rom beheimatet!

Von der Konstantin-Stadt: Constantinopolis = Konstantinopel: regierte der eine Kaiser weiterhin das eine Römische Imperium, wenngleich die Amtsstubensprache im neunten Jahrhundert vom Lateinischen ins Griechische wechselte und die mentalen Unterschiede zwischen dem lateinischsprachigen Westen und dem griechischsprachigen Osten schon immer groß waren … Doch selbst nach dem Schisma des Jahres 1054, als die kirchlichen Gegner ihre jeweiligen Verfluchungserklärungen auf dem Altar der Hagia Sophia niederlegten, galt doch in weltlicher Hinsicht der Anspruch der einzig verbliebenen Cäsaren auch über die Gebiete im durch die Völkerwanderung verlorenen Westen.

Das Bewusstsein der Reichsbürger war also ein ungebrochen römisches, nicht ein zweit- oder oströmisches. Man hielt sich als echter Römer, gräzisiert zu Rhomäer, zur Metropole und ging „in DIE Stadt“, eis teen polin, aus welcher Redewendung dann später der Name Istanbul wurde. Die griechische Umgangssprache bot die Folie für den heutigen türkischen Namen der neuen urbs, jenes Zentrums, das gleich seinem Vorbild in Latium auf sieben Hügeln und beileibe nicht an einem Tag erbaut wurde. Hony soit, qui mal y pense.

Kompliziert wurde alles erst, als sich am Weihnachtstag des Jahres 800 ein fränkischer König in Rom am Tiber durch den dortigen Bischof zum Imperator krönen ließ. Die seither sogenannte „Zweikaiserproblematik“ ist also aufs engste mit der Person Karls des Großen verbunden. Die Karolingische Renaissance, so segensreich sie für den Aufschwung der Bildung in Westeuropa war, wurde im Osten als Konkurrenzunternehmen angesehen. Erstes Mittel zur Neutralisierung: Konstantinopel schenkte Aachen ein Organum, womit die Orgel als Königin der Instrumente Einzug in die abendländische Kirche hielt.

In der Ottonischen Zeit, also um die erste christliche Jahrtausendwende, suchte man den Unterschied zu überspielen, indem Kaiser Otto II. eine Armenierin heiratete: Mit Kaiserin Theophanu kam das Griechentum nach Germanien, und der gemeinsame Sohn, später Kaiser Otto III., sollte die Verbindung ganz leiblich ins Werk setzen. Mit dessen frühem Tod aber fiel diese Idee der Vergessenheit anheim. Konstantinopel, die größte Stadt der Christenheit, befand sich aus der Sicht der fränkisch-ottonisch geprägten abendländischen und von dort ausgehend mittelalterlichen Gesellschaft am Rande der Zivilisation, während diese selbst sich berechtigterweise am Ort der Kirche zur Heiligen Weisheit durchaus im Zentrum sitzend empfand.

Doppeldeutigkeiten, wohin man blickt: Lange vor der Katastrophe des Jahres 1204, als venezianische Kreuzfahrer Konstantinopel eroberten und ausplünderten, kursierte der Begriff „die Franken“ als Schimpfwort, besonders unter den sich für rechtgläubig – orthodox – haltenden Theologen. Denn bereits im sechsten Jahrhundert hatten spanische Denker das Filioque in die gelehrte kirchliche Debatte geworfen, und die fränkischen Reichssynoden des beginnenden neunten Jahrhunderts machten sich diesen Zusatz im Nicaenoconstantinopolitanum zueigen. Dass der Heilige Geist vom Vater und dem Sohn gleichermaßen ausgehe, wurde im Neuen Rom nicht aus (theo)logischen, sondern aus traditionellen Gründen rundweg bestritten – man wollte sich strikt an den Wortlaut des Zweiten Ökumenischen Konzils aus dem Jahre 381 halten …

In diesem Sinne fanden dann Verzückungen am „Nabel der Welt“ statt: Kaiser Justinian konnte nicht an sich halten, als die von ihm erdachte Sophienkirche, prächtigstes und größtes christliches Gotteshaus für die weiteren über neunhundert Jahre, in seinem Beisein Anno Domini  537 eingeweiht wurde –  aber Kemal Mustafa Pascha konnte es im Jahre 1934 auch nicht lassen, pathetisch zu werden: Hier, wo sich einst zwei Konfessionen trennten, würden nunmehr zwei Religionen zusammengeführt; er meinte zum einen die zerstrittenen Kirchen von 1054 und zum anderen die Christen und Muslime seiner Zeit: Heraus kam bekanntlich ein – Museum: Im gedenkverliebten zwanzigsten Jahrhundert offensichtlich die einzige Option, historische Gegensätze friedlich zu überbrücken.

Innerhalb der Christenheit aber hatte sich mittlerweile eine dritte Kirchenfamilie herausgebildet. Zum 450. Geburtstag Martin Luthers wurden 1933 im gerade nationalsozialistisch machtergriffenen Deutschen Reich etliche diesbezügliche Feiern zelebriert, mehr dem neuen „Führer“ zu Ehren denn dem Jubilar… – während auch das Dritte Rom zur gleichen Zeit sich anschickte, den überlieferten sogenannten Byzantinismus in einen knallharten Personenkult umzufunktionieren. So, wie in San Vitale zu Ravenna das römische Kaiserpaar Justinian und Theodora streng in Form kunstvoller Mosaiken auf die versammelte Gottesdienstgemeinde blickt, ohne dass Charlemagne eine Chance gehabt hätte, auch sich selber musivisch in seiner nach ravennatischen Vorbildern errichteten Öcher Pfalzkapelle zu implementieren, – so falschverstanden und übergriffig wollte der entlaufene georgische Theologiestudent Stalin sich an die Stelle von Christus setzen. Diesen pervertierten Messianismus hat sich Hitler ebenso zueigen gemacht – vollkommen ungermanisch und natürlich auch überhaupt nicht griechisch.

Folgende Stichwörter bleiben hier und heute unbearbeitet, aber anregend weiterwirkend, vielleicht sogar für zukünftig zu Schreibendes: Ikonoklasmus; Nizäa und Bursa; Rom – Konstantinopel – Moskau; Griechen und Türken, Slawen und Araber, Europäer und Asiaten; Hannoversch Münden, Ravenna, Byzanz; Jesus-Moschee, Marien-Kirche, Nikolaus-Basilika; „Lebt im Kemalismus das religiös indifferente Volk der unarabisierten Altai-Türken weiter?“; Islamische Blütezeit – eine Adaption rhomäischer Kultur?

Erhofftes subversives Byzanz

Es gibt ein Dokument, das einen direkten Anbandelungsversuch der lutherischen zur orthodoxen Kirche belegt, und zwar das Augsburger Bekenntnis in griechischer Übersetzung. Kein Geringerer als Philipp Melanchthon hat diese Fassung hergestellt. Die deutsche und lateinische Version, die nebeneinander zum Reichstag 1530 vorlagen, genügten bekanntlich keineswegs, dem deutschen König und römischen Kaiser Karl V. nur irgendein wie auch immer geartetes Verständnis zu entlocken. Papistische Confutatio und wiederum allumfassend-kirchlich („katholisch“) gemeinte evangelische Apologie folgten im nicht endenwollenden Glaubenskonflikt in deutschen Landen.

Da spitzte der Gräzist aus Wittenberg seine feine Feder und schickte eine Confessio Augustana graeca an den Patriarchen von Konstantinopel. Er erhielt niemals eine Antwort. Wahrscheinlich war dem christlichen Bischof in Istanbul der gesamte Streitgegenstand theologisch völlig fremd. Und vor allem wird die Kirchenbehörde in der Hauptstadt des nunmehr muslimischen Kaisers wenig Interesse daran gehabt haben, die ohnehin schwierigen Beziehungen zum Sultan noch mit einem innerkirchlichen und nach außen hin vor Ort völlig unverständlich-unvermittelbaren Streit zu belasten.

Melanchthon mag sich ideelle Unterstützung durch jene Kirche erhofft haben, die den Römerbrief des Apostels Paulus in dessen Originalsprache gottesdienstlich zu verlesen imstande war. Rechtes Schriftverständnis aus biblischem Ursprung heraus hätte dann wundervolle Argumente gegen die Papstkirche liefern können. Und, wer weiß? – Hieronymus Wolf wäre womöglich von seinem bisweilen abergläubischen Professor mental hinübergewechselt zu einem geerdeten lutherischen Mann, ganz ohne Angst vor Spinnen und womöglich auch ohne Respekt vor devotem „Byzantinismus“. Doch DAS ist natürlich reine Spekulation.

Foto: Hagia Sophia in Konstantinopel.