Technik, die begeistert

Seit einiger Zeit folge ich dem Autor Wolfgang G., der einen Weblog namens „Pfaffes World“ betreibt. In seiner neuesten Nummer „Das Smartphone“ schreibt er von all der Mühe, die das neue Mobiltelefon seiner Mutter ihm bereitet. Ganz selbstverständlich wendet sich die 76jährige Dame nämlich an ihren Sohn, wenn sie Schwierigkeiten mit der neumodischen Technik hat. Da sage ich nur: Chapeau!

In meiner Familie oder im eigenen Freundeskreis käme niemand auch nur von ferne auf die Idee, mich um Hilfe anzugehen, so es um richtig praktische Handgriffe geht. Dass ich eine Kneifzange bemühen könnte, um ein verbogenes Ende des Ladekabels wieder flottzumachen, stellt sich in bezug auf mich kein Mensch meiner engeren und weiteren Umgebung annäherungsweise geschweige denn hoffnungsfroh überhaupt erst vor.

Solange alles reibungslos funktioniert, bin ich selber allerdings ein begeisterter Nutzer all der Geräte und Maschinen, die unsere Welt heutztage prägen. Dabei halte ich das Durcharbeiten von schlecht aus dem Englischen (oder Chinesischen, gar Koreanischen?) übersetzten Bedienungsanleitungen für eine völlig überbewertete Tätigkeit. Ich lese die ellenlangen Texte nie (seit dem Bonmot von US-Präsident Trump, er sei ein bekennender Nichtleser, darf das ja offen gesagt werden), sondern verfahre nach dem Motto trial and error. Doch, wie schon angedeutet: Das läuft bei mir nur, solange der Strom aus der Steckdose fließt und ich behaglich davon ausgehen kann, dass auf Knopfdruck jeweils das geschieht, was draufsteht.

Ich muss in die Tasten greifen können; und wenn ich mich vertippe, etwa ein CAPS LOOK mir nur noch Großbuchstaben serviert, bin ich aufgeschmissen: Wo war nochmal die Funktion, um das rückgängig zu machen? – Mein Kompjuhter sagt es mir dann ja nicht, ich sehe mich dem Zwang ausgesetzt, durch wildes Drücken an beiden Seiten der Buchstabentastatur alles höchstselbst herauszufinden. Vielleicht macht aber gerade solch eine Störung unbewusst heideggerischen „Zuhandenseins“ am Ende innovativ, um nicht zu sagen mutig.

Wie gut, dass die mechanische Schreibmaschine weitestgehend ausgedient hat. Aufgrund meiner einzigen Ausbildung, die ich in technischer Hinsicht einigermaßen erfolgreich durchlaufen habe, bestand nämlich früher, also im tiefsten Damals, bei mir immer die Gefahr, Akkorde anzuschlagen. Das Durcheinander in sich verhakter Buchstabenhämmerchen anschließend rein händisch wieder zu entwirren gestaltete sich zeitaufwendig, ergo geduldstrapazierend und auf eine mir befremdliche Weise enervierend fingerspitzengefühlig. Am Klavier war doch vieles bedeutend einfacher, und was ich an Fingerfertigkeit und durchaus auch Sensibilität besaß, fand ich dort sinnvoller eingesetzt und entfaltet.

Andererseits war mein Verhältnis zu namentlich rundfunktechnischen Errungenschaften unserer bundesdeutschen Zivilisation über weite Strecken meiner Kindheit eigentümlich personalisiert. Den Sprecher, dessen ernste Nachrichtenstimme aus einem bei uns zu Hause scherzhaft „Dampfradio“ genannten Apparat aus den Fünfzigern erklang, stellte ich mir in demselben sitzend umgeben von völliger Dunkelheit vor: Amt und Person derart übereinstimmend, dass sich die Umrisse des Kopfes nicht von der ewigen Nacht im klar ersichtlich fensterlosen Radiogerät unterscheiden ließen. Darin spiegelt sich wohl meine damalige Auffassung von Seriosität und Feierlichkeit. Notabene halte ich diese Erwartung an die Machart tagespolitischer Meldungen bis heute hin aufrecht.

Später, als es einen eigenen Fernseher bei uns gab (aus dem Impuls heraus, die Olympischen Spiele von München in den eigenen vier Wänden ansehen zu können), meinte ich, dass Programmansagerinnen oder Tagesschausprecher mich in unserem Wohnzimmer sehen könnten. Das zog erhöht angepeiltes gutes Benehmen und Aussehen coram Hanni Vanhaiden oder Karl-Heinz Köpcke nach sich.  Wer wollte sich schon blamieren, wenn die allabendlichen TV-Leute höchstpersönlich einen ansprachen? Auch diese Menschen brachten es doch fertig, exklusiv pro me dazusein. Wie sie es schafften, gleichzeitig auch all die anderen Millionen Haushalte mit ihrer Anwesenheit zu beglücken, blieb mir indes schleierhaft. Aber die Technik würde das schon hinkriegen, beschwichtigte ich mich selbst. Schließlich waren ja in diesen modernen Zeiten auch Mondlandungen möglich …

Völlig anders gelagert war mein Verhältnis zum gemieteten Fernsprechapparat der Deutschen Bundespost. Ich teilte die allgemein verbreitete Ansicht, es sei gut, dass man sich beim Telephongespräch nicht sehe. So konnte beispielsweise die Hausfrau auch während ihrer Arbeit einen Anruf entgegennehmen, ohne der sie so vielfach bedrängenden inneren Stimme „Schürze ab!“ tatsächlich Folge leisten zu müssen. Insgesamt galt die Grundregel: „Fasse dich kurz“; denn wir befanden uns eben nicht in West-Berlin, wo man für 23 Pfennig unbegrenzt lange fernmündlich sich zwischen Frohnau und Zehlendorf auslassen konnte. Für uns, den jungen Nachwuchs, war übrigens das graue Ding mit der Wählscheibe in Eigeninitiative tabu. Zur Illustration gab es dazu von den Erwachsenen eine Geschichte über Kinder, die aufs Geratewohl eine Nummer gewählt hatten und punktgenau in Japan gelandet waren. Die anschließende Rechnung an die Eltern wies eine Verbindung im Wert von über tausend Mark aus …

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Das Problem eines utopischen Bildtelefons kehrte sich während eigener Lektüre von Orwells „1984“ um in das der dystopischen Totalüberwachung. Technisch ist diese letztere mittlerweile nicht nur möglich geworden, sondern auch allgegenwärtig – derzeit allerdings noch in freundlicher Form. Genaueres wissen wir im übrigen ja nicht: Guckt der User durch seine Webcam nach außen, oder durchleuchtet die in Laptop respektive Smartphone eingebaute Heimkamera die eigene Wohnungsmisere und meldet deren mit Kleist, Büchner, Hoffmann, Nietzsche oder Adorno bestückten Bücherregale an irgendeine Zentrale?

Jedenfalls ist die Unterscheidung zwischen Hör- und Sprechmuschel im digitalen Zeitalter obsolet geworden. Viele Krawattenmenschen im Zugabteil sprechen lauthals in die Gegend, total wichtig: zwischen Bremen und Hamburg möglichst ununterbrochen. Als unfreiwilliger Mithörer bekomme ich mit, wer seine Präsentation in der Firmenleitung „unterirdisch“ abgeliefert hat, oder wessen Macke schnurstracks einen Kündigungsgrund darstellen muss, nach dem Motto: „Das geht GAR nicht“ … Technik und Transparenz schließen bei solchen Eisenbahnfahrten eine bezeichnende Ehe. Und auf dem Display blinkt zuverlässig die unlöslich-unlöschliche Verbindung auf. Das Sechste Gebot, hier kann es noch einmal so richtig auftrumpfen.

„Dann heirat‘ doch dein Büro“, sang Katja Ebstein 1980, und ihre vorwurfsvoll-selbstbewusste Stimme klingt herüber in unsere dienstbeflissen-humorlose Jetztzeit. Ein Unterschied zu damals ist, dass sich die räumlichen Dimensionen völlig verflüchtigt haben. Die imperativgesättigten Zeilen: „Stell dir ein Bett dort hinein / und schlaf mit den Akten und Computern ein“, locken heutzutage nur mitleidiges Lächeln hervor; denn dank der Kommunikationstechnik ist überall Arbeit und Freizeit, wo immer man sich aufhält: unvermischt und unverwandelt, ungeteilt und ungetrennt. Was einst im Konzil von Chalcedon im Jahre 451 von den zwei Naturen Christi vierfach ausgesagt wurde, ist mittlerweile völlig beliebig individualisiert und droht auseinanderzufließen in belanglose E-Mails, dröhnende „Sprachnachrichten“ oder undurchschaubare Algorithmen, an deren Stelle sich ein personal denkender einfacher Zeitgenosse gern wirkliche Menschen dächte, die den Informationsaustausch wohlwollend oder doch augenzwinkernd begleiteten …

„Pfaffes World“: Die Reformatoren sahen den Buchdruck als Gottesgeschenk an. Durch ihn konnten sie ihre Gedanken in Schriften und Liedern rasch und raumfüllend verbreiten. Das Internet schließt sich direkt an. Die guten, zu Unrecht oft geschmähten evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer nehmen das Wort nach wie vor ernst. Sie sind nicht etwa „noch“ erfüllt von der ihnen aufgetragenen Botschaft – als ob diese ein Relikt der Vergangenheit wäre, womöglich „nicht mehr zeitgemäß“ – , sondern die kirchlichen Amtsträger ringen wie am ersten Schöpfungstag um die jeweilige Bedeutung der großen vermittelnden Verheißung: „Und Gott sprach“. Für mich sage ich: Technisch reparieren kann ich nichts, aber gesprächsweise dasein und darin zugleich mediale Nähe wie erholsames Seinlassen verkörpern – das geht durchaus. Macht die Pfaffen nicht schlechter, als sie sind!

Foto: Fernsprechapparat der Deutschen Bundespost aus den siebziger Jahren.

„Gefällt“ gefällt

Seitdem Facebook die Möglichkeiten, auf Beiträge zu reagieren, vom bloßen „Gefällt mir“ in ein Spektrum vielfältiger Äußerungen verwandelt hat, ist der Druck gewachsen, stets ein Werturteil abgeben zu müssen. Es reicht nicht mehr, etwa auf die Meldung vom Tod einer berühmten Person hin sein Like abzusetzen, sondern es muss dann schon ein Emoticon her, das Trauer (Träne über die Wange rollend), Wut (rot angelaufenes Gesicht) oder Entsetzen (weit aufgerissener o-Mund) bekundet. Der hochgereckte Daumen lediglich in seiner Funktion als Lesezeichen hat somit im Bewusstsein etlicher Nutzer ausgedient. Wer ihn dennoch im beispielhaft genannten Fall verwendet, zieht umgehend den Verdacht auf sich, er freue sich, dass da jemand gestorben sei.

Man muss sich also festlegen. Ein flüchtiges Signal, zur Kenntnis genommen zu haben, ist missverständlich geworden. Meine Reaktion auf das Ableben Richard von Weizsäckers – par exemple hätten interne Zensoren demnach als Zustimmung werten können: Wie toll, dass der nun tot ist … Dass das Gegenteil der Fall war, hätte ich anhand der sichtbaren Spuren meiner Aktivitäten in besagtem „sozialen Netzwerk“ nicht belegen geschweige denn juristisch hieb-und stichfest beweisen können. Wo aber Eindeutigkeiten nicht sofort auszumachen sind und eine durch Knopfdruck eingeforderte „Ehrlichkeit“ zu fehlen scheint, da reagiert das Publikum heutiger Zeit in einer Spannbreite von verhalten verschnupft bis offen gewalttätig. „Zwiefach sind die Phantasien“, das war einmal. Nicht Wilhelm Busch ist mehr gefragt, sondern der wilde ungeschlachte Mob, dem Zwischentöne fremd und so gar nicht geheuer sind.

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Die Bereitstellung von Futter zu eigenständigem Denken wird derzeit unterderhand abgelöst durch die Erwartung, von persönlich-individueller kenntnisreich geäußerter Kritik sich zu verabschieden zugunsten einer unterschwellig abverlangten Hörigkeit allgemein bitteschön zustimmungsfähiger Gefühle. Argumente werden ersetzt durch Emoijsder gesunde Menschenverstand weicht wabernder Wellness-„Kultur“. Nach Geistesschärfe in öffentlichem Diskurs darf man da nicht länger fragen, und erst recht verpönt sind komplizierte oder gar längerdauernde Auseinandersetzungen um Sachverhalte. Ein Satz wie „Ich fühle mich gerade mit dem, was du sagst, sehr unwohl“ wiegt schwerer als der schneidend-fragende Einwand, wie sinnvoll solch ein Debattenbeitrag angesichts des gerade verhandelten (Sach-)Themas eigentlich sei … In diesem Zusammenhang nehmen Kuschelbedürftige gern die Phrase in den Mund: „Das finde ich jetzt schwierig“; schon schweigt der Rest der Runde – und wehe, wenn nicht!

„Schwierig“ ist eine relativ neue Vokabel: ziemlich tückisch, weil sie das Zeug hat, Objektivität vorzuspiegeln, obwohl in Wirklichkeit nichts dergleichen vorliegt. Wessen Meinung als „schwierig“ eingestuft wird, ist auf dem direktesten Wege in die „rechte“ Ecke, dieses eine Wort genügt als Signal und Fanal zugleich! „Schwierig“ beansprucht totales Urteil, ohne Sinn für interessante Details oder vielfältige Schattierungen, von Humor ganz zu schweigen. Völlig vergessen wird bei solcher Wortwahl, dass „schwierig“ keine Geschmackskategorie bezeichnet, sondern immer ein Sachproblem. So ist denn auch ein „schwieriger Mensch“ keinesfalls jemand, der eine originelle und deswegen verdächtige Meinung hätte, sondern einer, der weithin übliche Umgangsformen vermissen lässt.

„Schwierig“ sind nicht bestimmte Ansichten über Gott und die Welt, sondern Verhaltensweisen, die das Miteinander jenseits jeder subjektiven Befindlichkeit objektiv erschweren. Aber in Zeiten, wo alles persönlich genommen werden will, in seltsamer Aktualisierung der Betroffenheitsrhethorik aus den kirchentagsbewegten frühen Achtzigern, stören solche sachdienlich und ergo freundlich ausgesprochenen Hinweise womöglich eher, denn dass sie dankbar beherzigt würden. A propos: Eines der ulkigsten Emotionalzeichen ist gewiss das rosa eingefasste rein-weiße Herzchen (Love), gern ganz wenig „schwierigen“ Sujets zugedacht – Fotos aus dem Restaurant etwa, kurz bevor dann die handyupgeloadete Pizza Quattro Stagioni vom Urheber der geposteten Ablichtung freudig verspeist wird.

Bevor nun aber alle Welt massenhaft im world.wide.web „liebt“, sollte sie sich auch im klaren darüber sein, was dabei auf der Strecke bleibt. Knapp vor Beginn des digitalen Zeitalters, als man noch vom nahenden Äon des Wassermanns schwärmte, weil mit ihm Weiblichkeit und Friede und überhaupt Sanftheit kommen würde, da saß ich eines Morgens beim Frühstück in einer jugendherbergsähnlichen Unterkunft in Italien und fragte meinen US-amerikanischen Tischnachbarn, ob ich ihm denn auch eine Tasse Kaffee einschenken dürfe – woraufhin er barsch eindeutig entgegnete: „I hate coffee.“ Ich kann das weltgrößte soziale Netzwerk gut verstehen, dass es bislang ein regelrechtes Signum „Dislike“ nicht einführen mochte. So geplättet wie ich damals soll wohl heutzutage niemand zurückgelassen werden. Mein Daum hebt sich für solch eine Weisheit, die nicht den höflich Fragenden als Schuldigen brandmarkt. Ja, richtig gelesen: Daum, der korrekte Singular. Von ferne steckt immer noch das griechische deiknymi darin: „zeigen“.

Ein bloßes Zeichen, ein Hinweis, ein Signal ist noch längst keine Beurteilung. Deswegen bleibe ich beim offenen „Gefällt mir“ und meide die neuen Gefühlsäußerungen. So erhalte ich mir meine Freiheit jenseits von Entweder-Oder. Das bilde ich mir zumindest ein. Es steht zu hoffen, dass die Algorithmen aus Kalifornien dafür Verständnis aufbringen. Kann man darauf bauen, dass die angelsächsische Welt noch ihren Shakespeare kennt? Orlando soll den Ganymed so umgarnen, wie er es mit seiner verlustig gewähnten Freundin Rosalind täte. Hätte er da gesagt: „Ich hasse Männer, die Männer lieben“, dann wäre er für immer unbeweibt geblieben – denn der Holde, benannt nach dem Mundschenk des Zeus, „verwandelt“ sich zurück in die verlorene Geliebte, und Orlando kann seine Rosalind am Ende heiraten, As You Like It – wie es euch gefällt.

Die Aufmerksamen und Unangepassten sind gefragt! Doch sollten sie sich nicht in dieser Rolle selbst allzusehr gefallen. Viel Flexibles gestern und heute ist aus der Not heraus entstanden. Die flüchtige Gesellschaft im Wald, die der große englische Dramatiker ins Bild setzt, ist in ihrer Verwirrung offen für alles, was weiterhelfen und von daher „gefallen“ könnte. Konjunktiv und Optativ in entschlossenem Futur regieren letztlich das, was wir „Fortschritt“ nennen – aber nicht im zu oft trügerischen Bewusstsein, wir hätten ihn bereits vollständig erreicht und für alle Zukunft gepachtet. Wenn wir also den Button „Gefällt mir“ betätigen, dann bekunden wir doch lieber ohne vermeintlich wohlige, aber eigentlich unentschuldbare Übersättigung: Super, dass da ein Beitrag zu sehen ist, der mich interessiert und die eigenen kleinen grauen Zellen anregt. Darauf nochmals ein Like.

Foto: Mein sehr persönliches „Like“.