Meine Deutschstunde

Völlig losgelöst von allem Kleingedruckten versuche ich, den Geist meiner Muttersprache in Ehren zu halten. Von Rechtschreibreformen will ich ebensowenig etwas wissen wie von einer soundsovielten „Revision“ der Lutherbibel – das wird sich langsam unter denen, die mich auch nur ansatzweise kennen, herumgesprochen haben. Solche Aversionen hege ich seltsamerweise bereits von Kindesbeinen an. Gäbe es einen geborenen Rentner, dann mich. Fragt sich nur, woher diese Perhorreszierung jeglicher Neuerungen rührt.

Nehmen wir nur in den siebziger Jahren die Einführung von „Familiengottesdiensten“: Ich fand sie von Anfang an rein formaliter ziemlich missraten – obwohl ich damals in einem Alter war, dem unterstellt wurde, es wäre für die Kirche nur zu halten, wenn man ihm solche „zeitgemäßen“ Formate anböte. Aber mir kam es so vor, als würde in dieser Art von Modernisierung – etwa bei Gruppenarbeiten, aus denen dann mit Stichworten beschriftete bunte Zettel als „Ergebnis“ herauskamen – einer verhängnisvollen Versimpelung Vorschub geleistet. Verflachte nicht in deren Folge die Sprache? Verkümmerte nicht die Fähigkeit, komplexere Gedanken angemessen auszudrücken, geschweige denn diese sich aus berufenerem Munde schlicht und einfach sagen zu lassen? Vor allem: Blieb da nicht der Sinn für das über die Wörter hinausgehende Unaussprechliche auf der Strecke? Wurde nicht im Wahn, alles auf Anhieb verstehen zu wollen und zu sollen – gar nach sogenannter „Murmelphase“ ergebnisgesichert zu Papier bringen zu können – die Dimension des Glaubens selbst weggenommen? Setzte nicht solch pädagogisierendes Ansinnen einen geistlichen Abwärtsstrudel, ja im wahrsten Sinne des Wortes einen – : Teufelskreis in Gang?

Ich fiel also schon als Zehnjähriger vollkommen aus der Zeit. „Engagierte“ „Aktionen“ „zum Mitmachen“ ausgerechnet in Sphären des Heiligen waren mir suspekt. Übertrieben autoritätsgläubig? Aber wie konnte das eigentlich sein inmitten einer damals immer freizügigeren Umgebung, geprägt von „Emma“-Emanzipierung und regierungsamtlichen Reformen in solch rascher Folge, dass einem, bei Lichte betrachtet, gar kein Atemzug blieb, deren Sinnhaftigkeit in der Tiefe zu befragen? Die frühen bis mittleren Siebziger in ihrem Gesamtduktus und in ihrer konsequenten Durchsetzung von einmal für als „richtig“ befundenen Dingen ließen doch bei ihren Kindern kaum etwas anderes zu als eindeutige Zustimmung! Was konnten denn die Heranwachsenden anderes kennen und wollen als genau diese augenblickliche  fortschrittliche achtundsechzigerische sozialliberale sorglose vollbeschäftigte erfolgsverwöhnte bundesdeutsche Wohlstandswelt?

Wie komfortabel fand ich es da, über einen inneren Schatz abseits des rein Zeitverhafteten zu verfügen, mit ihm zu erwägen und im Herzen zu bewegen – und keine einseitigen Beurteilungen über die Lippen gehen zu lassen. Ich konnte meine Zunge im Zaum halten, ohne jedoch deswegen aufzuhören, Fragen zu stellen. Diese doppelte Fähigkeit führe ich darauf zurück, dass in mir von Anfang an Sinn für Sprache und also auch fürs Schweigen geweckt wurde – zunächst im Elternhaus, dann in der Schule, später auch im sogenannten „Leben“. Zeitweilig erwog ich gar, später, wenn ich groß und bedeutend sein würde, mich dafür einzusetzen, dass das gute alte 48er-Lied „Die Gedanken sind frei, / wer kann sie erraten?“ ins kirchliche Gesangbuch aufgenommen werde. Allseits bekannte urchristliche Arkandisziplin wäre doch so ganz besonders erfrischend anders verstanden dargestellt, bestechend gut ausgedrückt und zudem – formal gegen ihre eigene Intention und inhaltlich zugleich doch mit ihr – für einmal kräftig verlautbart, oder?

„Ich weiß etwas, was du nicht weißt“ – Rumpelstilzchen lässt krachend grüßen, selbstsicher über dem verderblichen Schlund, der sich allzubald auftut. „Ein Teil meiner Antwort würde die Bevölkerung nur verunsichern“, sprach neulich diesbezüglich sogar der Bundesinnenminister. Und ein Satiriker aus dem Mainzelmännchenfernsehen hat nun darunter zu leiden, dass er Schmähungen zum Ausdruck brachte, die man besser ungesagt lässt – wiewohl mit entsprechend freundlicher eigens ausformulierter Einleitung, dass man eben genau dieses tatsächlich nicht tun dürfe: damit auch der letzte Dummkopf merken hätte können sollen, dass es sich um einen erfunden-zitierten, also nur simulierten Rechtsbruch handele. Aber so dialektisch-austariert denken Realpolitiker*innen eben dann doch nicht mit. Weder in Germanien noch in Anatolien.

Übrigens bin ich trotz solcher verschlungenen Gedankengänge bisher niemals sonderlich als ein Bücherwurm aufgefallen. Und die Frage selbst von vertrauten Mitmenschen, woher ich eigentlich all das wisse, was ich so weiß, stürzt mich regelmäßig in eine enervierende Ratlosigkeit. Gewiss, die Begeisterung für Gedrucktes war mir schon im vierten Lebensjahr alles andere als fremd – nur entzündete sie sich zunächst an den Leuchtreklamen westdeutscher Fußgängerzonen und am Kursbuch der Deutschen Bundesbahn. Lichter der Großstadt ganz ohne blinde Blumenfrau oder betrunkenen Millionär: dafür aber mit blinkenden Textbanderolen an Hochhäusern sowie Tabellen für An- und Abfahrtszeiten nebst kleinen Symbolen für Eisenbahnwaggons und Triebwagen … das wurde mir zum Urgrund meiner geistigen Interessen!

Ein zweites trat hinzu: Erinnerter Stimmenklang vom Vorlesen, Nacherzählen und Gespräch. Grimms Märchen sprach ich in großen Teilen auswendig daher, blätterte manchmal sogar im passenden Moment die Seite im Buch um – so dass ich, der Vierjährige, meine liebe Mitwelt glauben machte, ich könne fehlerlos lesen (und womöglich auch schon schreiben). Dabei hatte ich die mir zugetanen Erwachsenen lediglich recht aufmerksam dabei beobachtet, an welchen Stellen des Vortrags das Blatt zu wenden sei … Also: Optisch-akustische Fähigkeiten einigermaßen fein entwickelt, aber doch, wie ich fand, nachvollziehbar – und in diesem Sinne selbstverständlich, irgendwie „normal“. Nichts mehr, nichts weniger.

Solch Camouflage bereitete mir von früh auf viel Freude. Nicht von ungefähr wurden die breit angelegte Josephserzählung und die Emmausgeschichte meine liebsten biblischen Weggefährten. Wie der ägyptische Vizekönig seine eigenen Brüder beim Wiedersehen nach Jahrzehnten erst einmal im Unklaren lässt und dadurch alle Herzen erweicht – und wie der Auferstandene zunächst horcht, was man so über sein irdisches Leben sagt, um dann die beiden trauernden Jünger behutsam zu neuer froher Erkenntnis zu führen … Kalkuliertes freundliches Stillhalten zum Behufe größerer Weisheit – ich fand und finde das bis heute bewundernswert. Es lässt sich allerdings im Lärm der heutigen Zeiten kaum je durchhalten. Und meine eigene Redelust durchkreuzte oftmals das im eigenen Innern so glücklich gefundene Ideal. Wie gut, dass es die entwaffnende rhetorische Frage gab und gibt: „Bin ich Jesus?“

Jedenfalls ist solch selbsttätiger Umgang mit eigener Sprache kaum vermittelbar in einer Zeit, die völlig einseitig nach „Kommunikation“ und „Transparenz“ giert. Ich habe bestimmt nichts gegen Gesprächsbereitschaft und Offenheit – aber ich durchschaue und höre durchaus, wie solche Begriffe in ihr glattes Gegenteil verkehrt werden können: Ist jemand, der eines höheren künftigen, aber noch ganz ungewissen Zieles wegen – etwa wenn es um die Finanzierung eines Projektes geht – nicht gleich alles sagt, „unkommunikativ“? Macht eine, die zum Beispiel in Personalfragen – um niemandes Namen zu „verbrennen“ – solange schweigt, bis Entscheidungen gefallen sind, sich eines „intransparenten“ Verhaltens verdächtig?

Da gab es über Jahre hindurch einen ungenannten, ja völlig unbekannten wohltätigen Menschen, der seiner Heimatstadt regelmäßig eine halbe Million Euro überwies. Im Namen von „Kommunikation“ und „Transparenz“ hätte man alles daransetzen müssen, ihn ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Auch wäre es geraten gewesen, aufgrund dieses wiederholten Vorfalls gar ein Gesetz zu erlassen, um solch dunkles undurchschaubares, also unkommunikatives und intransparentes Gebaren zu unterbinden. Aber war es nicht vielmehr zum Segen für die beschenkte Kommune, dass ihre Vertreter nicht weiter nachbohrten? Selbst auf die Gefahr hin, dass ja immerhin dahinter ein Briefkasten aus Panama gesteckt haben könnte? Man muss eben nicht immer alles lückenlos aufklären wollen.

Es ist das Heinzelmännchen-Syndrom, das derzeit alles wie von Sinnen und besessen erfassen will. Wenn einmal etwas wie von selbst super läuft, dann muss es gleich gemäß politischer Korrektheit irgendwie dingfest gemacht werden, also „nachvollziehbar“ – um nicht zu sagen „überprüfbar“, „gelistet“, „analysiert“: – eben in ihrem Eigenverständnis „kommunikativ“ und „transparent“. Freude über selbstlos geleistete Dienste im Verborgenen weicht dann Erwägungen darüber, ob denn auch alles mit rechtlich-rechten Dingen zugegangen sei. Letztlich scheinen dann Probleme wie Tarifgruppeneinordnung, Kontrolle über die Einhaltung von Pausen während der Arbeitszeit oder Beachtung einer Frauenquote wichtiger zu sein als die schlichte Dankbarkeit über diese nächtlichen Wichte. Und am Ende wird womöglich gegen den Nikolaus ermittelt, weil er dringend im Verdacht steht, unerlaubte Hilfen unter Umgehung des Fiskus gewährt zu haben.

Rumpelstilzchen – Mainzelmännchen – Heinzelmännchen … Zwischen kleinlichen Kreaturen und niedlichen Diminutivgestalten schwankt ihr Charakterbild in der Geschichte. Sie schillern alle drei …  Von Wut bis Ergebung ist hier alles vertreten. Da tanzt der böse Rotschopf irre um sein einsames nächtliches Feuer, hohnlachend und selbstsicher. Da grunzen und plärren liebe kindliche Zweitprogrammgestalten jeweils ganz persönlich den Zuschauern entgegen, feixend und täppisch. Da tun dienstbare Geister in bequem gewordenen Häusern ihre Arbeit, leise und unsichtbar. Doch „Mühe allein lohnt nicht“, wie einst eine Waschmittelwerbung so treffend festzustellen wusste. Die Prinzessin hat lauschen lassen; die Kunden lachen erst, wenn einem zeichentrickigen Gnom ein Malheur geschieht; die kölsche Magd durch ihre Neugier vertreibt, also: verdirbt alle bürgerliche Freude am süßen Nichtstun.

„Lass mich man machen“ – solch ein Satz kann ebenso hilfsbereit wie bevormundend gesagt und gemeint sein. In heutiger Zeit ist nichts mehr sicher codiert. Ob diese Wörter auf einem schwarzen, roten, dunkelroten, grünen, gelben, blauen oder braunen Zettel notiert sind, ist im derzeitigen Deutschland ein riesiger Unterschied. Unsere Nachbarn, die herzigen Ösis, haben sich in ihrer Bundespräsidentenwahl gerade gegenseitig grün und blau geschlagen. Wir hingegen hier im Piefke-Land können uns womöglich glücklich schätzen, dass wir eine vornehme, nur zum Zwecke der Ermittelung eines Staatsoberhauptes zusammentretende Bundesversammlung für diesen normalerweise alle fünf Jahre sich vollziehenden Akt haben. Sollte auch noch diese Prozedur popularisiert werden – also: entfallen zugunsten einer Direktwahl – , würde das, wie im ach so felix Austria der letzten Tage, zu medialen und plebejischen Schlammschlachten sondergleichen führen.

Mehr Demokratie-Wogen? Dafür haben wir neuerdings doch zur Genüge  die sogenannten „sozialen Medien“, wo jede und jeder ihren/seinen orthographisch wie syntaktisch wie semantisch eigensinnigen bis sinnfreien Senf dazugeben kann. Lieber dann doch, statt großer Welle, ein bedächtiges und distinguiertes, gerne richtig abgehobenes elitäres rechtschaffen bedächtiges ratsam-weises „Erst wäg’s, dann wag’s“ …

Sonst wäre eine repressive Hemdsärmeligkeit en vogue, analog dem einst von Theodor Wiesengrund Adorno gefürchteten Blockwartsprech: „So wird das hier gemacht“ – oder wie es später Joachim Witt im Fahrwasser der Neuen Deutschen Welle ausdrückte: „Ich bin hier der Herbergsvater“; oder aber noch griffiger, aus Grand-Massage, unübertroffen triomäßig: „Da, da, da“. Frankfurt am Main, Hamburg und Großenkneten: Drei Orte, hier einmal verbunden in der Abwehr von philiströsen Autoritäten – und jenen Massen abhold, die den selbstverliebten Lübecker Senatorensohn Thomas Mann bereits vor der Mitte des letzten Jahrhunderts seufzend notieren ließen, es würden allzuviele Leute Bücher schreiben. Ganz zu schweigen von einem Martin Heidegger, der die plebs zum „Man“ bündelte und damit einen der ganz großen unverstandenen Bucherfolge („Sein und Zeit“) landete, damals, im Zeitalter von Fritz Langs „Metropolis“, aber auch Hans Pfitzners Kantate „Von deutscher Seele“ oder Dimitri Schostakowitschs erster Sinfonie (mit Klavier!).

Heidegger, so unmusikalisch wie fußballbegeistert, dessen Lesepensum den ganzen Kirchenvater Augustinus und ebenso den kompletten Luther einbegriff, ist als „gut“ wohl noch zu entdecken. Allzu groß war ja seine Nähe zum „Dritten Reich“, nicht nur zu verstehen aus gewissen Eitelkeiten heraus, sondern auch von der Überzeugung genährt, in dieser „Bewegung“ könnten die Widersprüche von Natur und Technik in moderner Art und Weise bearbeitet und überwunden werden. Gern trat er in Ski-Ausrüstung vor seine Studenten; Vorlesungen und Bücher entwarf er in einer Hütte hoch oben im tiefen Schwarzwald. Großstädte nahm er nur als seinsvergessene monopolisierte Massenzerstreuungen wahr, worin der Einzelne nichts mehr zu melden habe. Der einzig dagegen mögliche Protest: die Seele, die sich ihres Daseins vergewissert und über Feld, Wald und Wiesen philosophiert. Nur: So deutlich hat er das kaum jemals gesagt – aber so wurde er verstanden, im – linken – französischen Existenzialismus, im fernen Japan, bei den bundesdeutschen grünen Ökopaxen … „Nur noch ein Gott kann uns retten“, sagte er im Gespräch mit Rudolf Augstein 1966 und verfügte zugleich, dass dieses Interview erst nach seinem Tode veröffentlicht werden dürfe. Also erschien es zehn Jahre später, als er dann tatsächlich gestorben war und niemand mehr Genaueres bei ihm persönlich nachfragen konnte. Warum diese Verheimlichungen?

Geschwiegen haben viele. Wer seit 1968 bei uns von „Deutschstunde“ spricht, tut dies immer auch auf der Folie des gleichnamigen Romans von Siegfried Lenz. Ein standhafter Kunstmaler in den nebeligen Weiten Nordfrieslands wird da in schöner Sprache zu einem Vorbild hochstilisiert. Wir wissen heute, dass die Gedankenwelt eines Emil Nolde denn doch ein wenig anders aussah. Erdverbundener, schollengebundener, zeitverhafteter als nachkriegsheroisierend gedacht. Aber was bedeutet das in Hinsicht auf seine Bilder? Müssen die „Ungemalten“ jetzt umgemalt werden?

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Ist ein mit Betätigungsverbot belegter Künstler, der dennoch jeden sich im herrschenden „System“ bietenden Auftrag wahrzunehmen bereit ist, um in der mörderischen Diktatur zu überleben, ein Unmensch? Wer sind wir Nachgeborenen, in der Tat ja letztlich doch begünstigt im Sinne der so oft verrissenen Kohlschen Formulierung einer „Gnade der späten Geburt“, dass wir uns zu Richtern aufschwingen? Obwohl mit dem hehren Anspruch in Zirkeln wie der „Gruppe 47“ gestartet, alles so auf den Tisch zu bringen, wie es wirklich war, ist die unfehlbare bundesdeutsche Nachkriegsliteraturdreifaltigkeit Grassbölllenz mitsamt ihren rechtschaffenen Trabanten und eifrigen Epigonen eben auch nicht ohne Klitterungen ausgekommen.

Die bunten Zettel aus der emanzipierten Episode haben längst ausgedient. Man kann die Dinge schwerlich auf den Punkt bringen, wenn das Universum der Sprache kontinuierlich gewollt schrumpft. Selbst Fragmente sind nur dann sinnvoll, wenn sie aus dem Ganzen aller denkbaren Möglichkeiten schöpfen. Ja, bruchstückhaft ist alles, was überhaupt noch wagt, ausgedrückt zu werden. In der Lektüre der Buchstaben, Wörter, Sätze und Abschnitte immer auch das Verborgene, Verschwiegene, Versagte herauszulesen und mitzuhören – wäre das nicht eigentlich die Kunst? Bilder leuchten hervor, Töne klingen auf, phantasievolle Verknüpfungen stellen sich ein … Gewiss ist das alles längst unter das grausame Verdikt getan: „Nicht mehr zeitgemäß“. Aber dieses harte Urteil ist ebenso falsch wie der Satz, der es nur morgensternig tut „um des Reimes willen“, der da so bösartig indulgent – und noch nicht einmal im Konjunktiv – lautet: „Träume sind Schäume“. Ein Schelm, wer Gutes dabei denkt.

Jede Zeit modelliert sich ihre eigenen Held*inn*en. Welche Rechtschreibung wird eigentlich in den heutigen Deutschkursen für Flüchtlinge gelehrt? Und gibt es in der demnächst unter die Leute gebrachten Veränderung der Lutherbibel doch noch Stellen, wo die „Brüder“ ohne die jetzt – völlig befreit von urtextlichen Anhaltspunkten – hinzugesetzten „Schwestern“ erscheinen dürfen? Und sei es nur um des dichterischen Klanges willen? Wie entfuhr es Max Reger, als er die neuesten Stücke von Arnold Schönberg durchsah? „Es ist zum Konservativ-Werden!“ Ich überlege ernsthaft, demnächst die letzte an der Sprachmelodie Luthers sich orientierende Version der Heiligen Schrift hervorzuholen, schon allein aus sich verschärfenden Gründen einer treuen Beachtung des Bachkantatenkompatibilitätsgrundsatzes: die Fassung aus dem Jahre 1912 … Aber das auszuwalzen im Für und Wider – es wäre ein neues Thema, ein briestig weites Feld.

Abbildung:  Reproduktion eines Nolde-Aquarells.