Normaljahr 1981

Waffen nach Saudiarabien? Der Bundeskanzler sprach sich dafür aus. Panzerlieferungen sollten es sein, aber die Frage kam auf, ob die nicht womöglich die Sicherheit des Staates Israel gefährden könnten. Helmut Schmidt hielt dies für unwahrscheinlich, das Königreich mochte also seiner Meinung nach das gewünschte Gerät bekommen. Das war im Jahre 1981. Eine neunte Klasse saß in einem Gymnasium irgendwo in Nordwestdeutschland über einem Deutschaufsatz. Das Interview mit dem Kanzler wurde per Kassettenrekorder eingespielt, und wir sollten uns schriftlich und zeugnisnotenrelevant dazu äußern.

Einige Tage später erhielten wir unsere umfangreich korrigierten Arbeiten vom Lehrer zurück. Der entschuldigte sich ja immer, wenn er es nicht gleich zur nächsten Deutschstunde geschafft hatte, alles durchgesehen und benotet zu haben. Er war neugierig genug, sofort nachzugucken, wer was gemeint und argumentativ begründet habe. So auch diesmal: Sein Lesepensum bot wieder Anlass zur Bewunderung – und sein Auffassungsvermögen hatte ihn nicht im Stich gelassen. Es gab zwei Einsen. Die so ausgezeichneten Jungs hatten aber mitnichten ähnliche Ansichten zu Papier gebracht. Gelinde gesagt, sie waren zu völlig unterschiedlichen Standpunkten gelangt.

Während der eine pragmatisch das Öl, den Westen an sich mit seinen arabischen Verbündeten und die Möglichkeit, dadurch auch Israel zu schützen, ins Feld der Argumentation brachte, sah der andere, bergpredigtbesoffen, allein den Vers aus Matthäus Kapitel 5 Vers 9 als den Stein der Weisen an. Ich habe danach übrigens nie wieder derart bekennend-biblisch geredet oder geschrieben. Und trotzdem: Unserem Deutschlehrer, noch im letzten Kriegsjahr als Soldat eingesetzt und sogar kurzzeitig in französische Gefangenschaft geraten, galt das starke und überzeugende Wort an sich mehr als die inhaltliche Einzelmeinung. Mein Klassenkamerad war nicht der „Nazi“, und ich war nicht der „linke Spinner“ – sondern wir wurden von diesem Lehrer als besonders sprachfähige, differenziert denkende und redlich argumentierende junge Menschen wahrgenommen.

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Mein Deutschlehrer ist vor einigen Jahren gestorben. Bei meinem letzten Besuch zeigte er sich ganz angetan von neuerlicher Lektüre ausgerechnet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seines Lieblingsschriftstellers Thomas Mann. Dabei hätten wir ihn immer eher mit Herrn Settembrini aus dem „Zauberberg“ vergleichen wollen. Aber sein Humanismus war eben weiter als das, was uns heutzutage als „alternativlos“ angedient wird. Auch ein Naphta (Gegenpart des weltläufigen heiteren Italieners in dem epochalen Roman) muss seine Rolle spielen dürfen, und sei es, um sich selbst zu läutern … Hans Castorp, Tonio Kröger, Hanno Buddenbrook … – sie haben eigentlich keine festgezurrte Meinung, sie sehen, gleich dem reinen Tor Parsifal, auf das Reinmenschliche …

An einem 10. November, Geburtstag von Martin Luther (1483) und Friedrich Schiller (1759), Todestag von Mustafa Kemal Pascha (1938), starb 2015 völlig unerwartet im siebenundneunzigsten Lebensjahr jener Weltpolitiker, der nie gleichgeschaltete Meinungen mochte, der sich über Rechtschreibreformen und Rauchverbote hinwegsetzte, der seiner evangelischen Kirche nur noch deshalb die Treue hielt, weil sie Künstler wie Johann Sebastian Bach und Bischöfe wie Eduard Lohse hervorgebracht hatte. Ich würde mich gern täuschen, wenn es nicht stimmte, dass seitdem die Welt noch einmal kälter, gleichgültiger und zugleich diktatorischer geworden ist.

Aus völlig anderen Gründen als damals, 1981, bin ich zwar der Ansicht, dass die neureichen grausamen Hüter „heiliger Stätten“ weiterhin keine Waffen von uns bekommen dürfen – aber ich setze mich nach wie vor dafür ein, dass auch andere Meinungen geäußert werden können: und nicht aufgrund „politisch korrekter“ Erwägungen gelöscht werden. Die gegenwärtige Erfahrung zeigt aber sowieso ein anderes Bild: Islamismus wird, warum auch immer, geduldet – und dessen Gegner werden mundtot gemacht. Da regt sich das unerschütterlich „westliche“ Herz: Meine bundesdeutsch geprägte Vorstellung von Gedankenfreiheit lasse ich mir nicht rauben.

Das bin ich nicht dem unweisen König Salman schuldig (denn der fragt nicht danach) – aber durchaus meinem lieben Deutschlehrer, der weder für noch gegen Schmidts Panzerlieferungen agitierte, sondern vielmehr unserer schönen deutschen Sprache das gelehrte und wunderbar überlegene Wort redete.

Abbildung: Matthäus 5, 9 aus einer der Lutherbibeln, die ich in den achtziger Jahren benutzte: Hier in der revidierten Fassung von 1892, gedruckt 1906.