Gespenstische Geistkraft

Pünktlich zum Pfingstfest möchte ich ein kleines Gedicht darbieten, das ich bis zur jetzigen Stunde noch nie schriftlich sah, sondern eines besonders wachen Tages in meiner frühesten Kindheit erst ratlos, dann, nachdem ich glücklich selber – also ohne elterliche Hilfe – die Auflösung gefunden hatte, erheitert gehört und seitdem bei jeder mehr oder weniger passenden Gelegenheit amüsiert, in witziger und sich steigernder zungenbrecherischer Rasanz aus dem Gedächtnis nachgesprochen und in dieser Weise vorgetragen habe.

Man nennt so etwas die Treue zur „mündlichen Überlieferung“, und mit diesem terminus technicus ist ja bekanntlich die längste Zeit jeglicher Sprachtradition erschöpfend umrissen. Unsere Vorfahren waren Meister darin, Texte rasch auswendig zu lernen und humorvoll ausgeschmückt in großer geselliger Runde zum Besten zu geben.

im grünen

Hier präsentiere ich meine Transkription jener Versansammlung, die walthervondervogelweideartig beginnt, um in rechtschaffener Requisite sowie moralisch-religiösem Duktus sofort in die Nocturne-Welt des betuchten sechzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts hinüberzuwechseln. Akzente bezeichnen betonte Silben. Doppelpunkte stehen für Dehnungen: Jene „e“-Laute innerhalb von am Anfang großgeschriebenen Wortteilen sind norddeutsch-lang zu nehmen. „St“ respektive „Sp“ im Wort steht immer dort mit Majuskel-S, wo, entgegen den Gepflogenheiten deutscher Bühnensprache, betreffender Diphthong über’n s-pitzen S-tein ges-tolpert ausgesprochen werden soll.

Im übrigen möge sich niemand über das von ausschließlich lautlichen Vorgaben inspirierte und diesbezüglich stimmlich-stimmig nachschaffende Schriftbild mokieren: In einer Zeit der seit den Tagen der Völkerwanderung immer wieder einmal um sich greifenden Motivik von spätrömischer Dekadenz, die sich beispielsweise in den notorisch ideologiehörigen und – darin leider allzu verlässlich! – jeden musikalischen Sprachfluss abwürgenden Unterstrichen und Gendersternchen manifestiert, dürften politisch-korrekt „geschulte“ Mensch*inn*en mit Reimereien wie diesen keine unüberwindlichen noetisch-phonetisch verursachten Probleme bekommen. Auch eventuelle streitlustig evozierte Reibereien wegen eines Versmaßwechsels nach der dritten Zeile sollten klug vermieden werden können.

helles licht

Wie heißt es doch so schön in einem karolingischen Hymnus, den der saft- und kraftvolle Schöpfer unserer d**t****n Hochsprache, dessen Name seit einem Jubiläum vor bald zwei Jahren in der kritischen Öffentlichkeit besser nicht mehr genannt wird, aus dem Lateinischen übertrug? – : „Zünd uns ein Licht an im Verstand“; entsprechend der Zeilenanzahl hoffentlich „mit Gaben siebenfalt“, jedenfalls, in einem durchaus gemütlichen Parlando beginnend, ab der fünften Zeile ins Allegro con spirito umschaltend, insgesamt lebhaft aufzuführen:

Ich saß an meinem SchúbfenSte:rchen,

Da kam ein kleines GéSpenSte:rchen,

Das zupfte mich an meinem PélzärMe:lchen

Und sagte:

ÓSterblicher músst SterBe:n;

DénnSterBe:n ohn ÉglauBe:n

Íst ewiges VérderBe:n.

Nun wünsche ich viel Spaß bei der Entschlüsselung dieser kleinen feinen Weisheit, die umso heller strahlt, je mehr sie vor düsterem Hintergrund gewogen und befunden wird. Die verängstigten Jünger samt dem „Haus, in dem sie saßen“ – vulgo: in das sie sich verkrümelt hatten – werden durch ein „Brausen des Himmels“ in die richtige Spur gelenkt. Manch rhythmische Rückung nebst freier Akzentverschiebung hie und da möge sich ungezwungen verknüpfen mit fröhlich frommer Geistesgegenwart. In diesem Sinne: Pfróhe: Výnxdn.

Der erwähnte karolingische Hymnus, in unsere Sprache übertragen, findet sich im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 126. Zitiert habe ich die erste Zeile von Strophe drei sowie einen Teil aus der ersten Zeile von Strophe vier.
Vom „Brausen“ etc. lesen wir in der Pfingsterzählung, wie sie die Apostelgeschichte des Lukas im zweiten Kapitel überliefert. In der Lutherübersetzung wird sie selbst zu einem akustischen Großereignis.
Die beiden Fotografien zeigen, wie der reine helle Geist auch abgeschieden im Grünen gelegene ältere kleine Häuser, denen man Schiebefenster andichten könnte, stimmungsmäßig – und gänzlich ohne Klimapanikattacken – vollkommen verwandelt: Sogar im kühlen Norddeutschland!

Platte(n-)Tektonik

Bevor aus den lärmenden Fankurven von Künstlertochter Greta („schlimmste Krise der Menschheit“) und Pfarrerssohn Rezo („Zerstörung der CDU“) der gemeinsame apokalyptische Abgesang mit Unterstützung von deren höchst eigentümlichen Panikorchestern (ohne sich auf Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ berufen zu können) in unfreiwillig urdeutschester Manier („Waldsterben“, „saurer Regen“, „Ozonloch“) erschallt, möchte ich hier zu guter Letzt („das Ende ist Nahles“) in aller Plattheit ganz andere Zusammenhänge kurz („Sebastian“) noch zum Besten geben.

Man soll ja ruiniert rüberkommen. Die Plaza von Laodizäa mit ihren Säulenstümpfen auf dem Hochplateau der piazza strahlt im morgendlichen Nebel genau jene zielgerichtete Morbidität aus, die Lust auf weitere Katastrophen macht:

laodizäa

Solch griechische Tragödie setzt sich von Kleinasien und Attika dann durch die Jahrtausende unausgesetzt fort bis ins heutige Zeitalter der Containerterminals an den Piers von Plattdeutschland. Die bös amerikanisierte Waterkant von Bremerhaven ist da eines der abschreckendsten Beispiele. Höchste Zeit also, dass Kreti und Plethi abgelöst werden durch Greti und Rezi. Wirtschaft war gestern; jetzt kommen Gretifikation und Rezolution endlich zu ihrem Kinderrecht. Da muss jeder Kranwahn endgültig, blitzschnell und eiskalt zermalmt werden.

bremerhaven

Antike von rechts, Industriezeitalter von rechts … äh nein, von links – in unterschiedlichen Spurgrößen zwar [ab jetzt: Ironie off], aber perspektivisch durchaus kombinierbar mit den piatti beim Letzten Abendmahl des Leonardo da Vinci. Indem ich hier eine Reproduktion aus einem oldenburgischen Gesangbuch des neunzehnten Jahrhunderts einrücke, bekenne ich mich ausdrücklich zu jenem großartigen, aber in unverschuldet heftigen Misskredit geratenen Kulturprotestantismus, dem kein Zacken aus der Krone brach, wenn er (Achtung, hier werden nun lauter römisch-katholisch sozialisierte Autoren bzw. deren Werke aufgezählt:) Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem oder Beethovens Missa solemnis ebenso zur Aufführung brachte wie die Kuppel der vatikanischen Peterskirche, die Geburt der Venus von Botticelli oder eben besagtes Fresko aus dem Refektorium eines Mailänder Klostergebäudes zu Vorbildern eigenen künstlerischen Schaffens machte.

leonardo abendmahl

Liebe Leserinnen und Leser, die Frage an Sie und Euch lautet nun: Können Verbindungen unter den drei Abbildungen in diesem Text hergestellt werden? Denken wir uns die Welt noch als festgebackene Pizza oder doch schon als bewegliche Kugel? — Da Mitmachaktionen erfahrungsgemäß aber immer noch, trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts, schleppend bis gar nicht anlaufen, teile ich im folgenden schon mal einige Lösungsansätze mit. Wer präferiert was?

Erstens:

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Zweitens:

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Drittens:

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Für weitere Anregungen wäre ich dankbar. Unser 500-Jahres-Gedenkmann war schließlich nicht irgendwer; die Technik hat ihn ebenso begeistert wie die Antike. Beides kulminiert bei ihm in einer kühnen Interpretation christlicher Überlieferung. Etliche Linien führen direkt dorthin und perspektivisch weit darüber hinaus. Der Renaissancemensch lebt im übrigen bei uns weiter (denn die Geschichte schritt ja fort) in seinem optimistischen Humanismus, in den Spuren von Athen, Rom und Jerusalem.

Fazit: Bevor wir in der Mitte Europas uns zopfig gretagrünschnablig und haarig rezoblauäugig von derselben mit furchtbar deutscher Gründlichkeit gewaltsam lossagen wollten, wäre es vielleicht angebracht, doch noch einmal innezuhalten. Das entspräche nicht nur den besten romantischen Gedanken, die unsere Kultur ja auch hervorgebracht hat; es wäre zudem allem Denken, Reden und Tun angemessen, welches ein menschengemachtes Beben in unserer kulturellen Plattentektonik wenn nicht absolut verhindern so doch mit freundlich langem Atem abmildern bis entschärfen könnte.