Pusteblume

Irgendwie reden wir im öffentlichen Raum seit längerem schon an den eigentlichen Dingen stets grandios vorbei. Es ist allerdings eine Kunst für sich, mit Vehemenz jedes Thema zielgenau zu verfehlen. Sogar in Wahlkampfzeiten – oder gerade dann? – wird diese Unart mittlerweile gehegt und gepflegt. Die Kombattanten haben offensichtlich überhaupt keine Lust, sich produktiv zu streiten. Eher „bedanken“ sie sich noch für Beiträge ihrer jeweiligen Gegner und meinen wohl, damit besonders kultiviert und gelassen, gar cool zu wirken. Wenn sich dennoch kontroverse Szenen aufbauen und es wirklich interessant zu werden droht, greifen Moderatoren derart oberlehrerhaft ein, dass einem alles vergeht. Potenz geht anders.

Was gesagt werden muss, wird abgebügelt: findet nicht statt. Bei islamistischen Terroranschlägen haben wir uns bereits daran gewöhnt, dass unsere politisch Verantwortlichen rituelle Beileidsbekundungen ohne jeden Biss absondern, vorzugsweise die Fernen und nicht die Nächsten im Blick. So jettete zum Beispiel die Kanzlerin gern nach Paris zur Prominentendemo gegen die Attentäter vom Januar 2015, aber einer Sprecherin der Hinterbliebenen des Massakers vom Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 weicht sie bis zum heutigen Tag – also sogar beziehungsweise speziell im Bundestagswahlkampf – lieber aus. Und damit kommt sie durch.

War das früher auch so? Ich erinnere mich an leidenschaftliche Reden zugunsten unserer Gesellschaftsordnung, die oftmals den Topos der Verdammung ruchloser Gewalttäter mit einschlossen. Rhetorische Entschiedenheit prägte vor vierzig Jahren im „Deutschen Herbst“ alle Debatten, ohne dass entsprechende Taten ausblieben. Niemand hätte sich damals auch nur annähernd in die Richtung geäußert, es handle sich um Ereignisse, mit denen wir nun einmal leben müssten – wie als ob es bei Attentaten, Entführungen und Morden um Naturkatastrophen ginge. Seinerzeit nahm kein anständiger Westdeutscher blutiges Unrecht einfach so geisteslahm hin. Er wusste sich darin einig mit den Regierenden.

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Die Zeichnung „Gemeinsam gegen den Terrorismus“ von Josef Partykiewicz (1914-2003) aus dem Jahr 1977 ist so gesehen eine wenig boshafte Karikatur. Zwar zeigt sie das Unvermögen von Kanzler Schmidt, Vizekanzler Genscher und Oppositionsführer Kohl auf, wirkmächtig die Lunte an der Bombe oben auf der Anrichte auszublasen, aber an redlichen Versuchen, mit vereinten Leibeskräften unternommen, mangelt es eben nicht. Die Politiker erscheinen hier letztlich sympathisch, weil man ja von ihnen wusste, dass sie sich – auch persönlich – niemals durch brutale Staatsfeinde erpressen lassen würden.

Und heute? Man weicht aus und verkämpft sich an Nebenschauplätzen. Die aber können einem wirklich das Genick brechen: Wohlweislich habe ich deshalb von dem Bild nur einen Ausschnitt wiedergegeben, so ohne Besitz irgendwelcher Rechte daran. In der Jetzt- und damit Echtzeit bringen wir damit vieles zum Erliegen, was früher Ansporn für wache und spritzige Auseinandersetzung war. Man gut, dass ich sagen kann, mir sei diese Karikatur in einer Lokalzeitung begegnet. Was die Presse bringt, zumal unter dem Datum des 31. Dezember 1977 innerhalb eines Jahresrückblicks, halte ich derzeit immer noch für frei heranziehbar. Aber aus solchen Vorgängen werden in diesen Zeiten nicht selten Skandale konstruiert und irrsinnige Plagiatsvorwürfe erhoben: Diebstahl geistigen Eigentums oder so ähnlich, auch wenn es sich offensichtlich nur um eine Art Zitat handelt. Doch wem die Argumente ausgehen, besinnt sich plötzlich aufs Urheber- oder Nutzungsrecht.

Genau das hat jüngst die „Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt“ getan. Anlass: ein Wahlplakat der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands. Darauf ist Martin Luther abgebildet, daneben prangen die Worte: „Ich würde NPD wählen. Ich könnte nicht anders.“ Das führt nun zu juristischem Streit. Die Klägerin meint, eine Wiedergabe des Lutherbildes – Cranach-Gemälde von 1528, Teil der Dauerausstellung im Lutherhaus zu Wittenberg – sei unzulässig, weil sämtliche Rechte an der Fotografie des Porträts eben bei der Stiftung lägen. Dies wird gesagt mit dem Ziel, das Plakat verbieten zu lassen. – Im Gegensatz dazu meinen andere, am besten sei es, überhaupt nicht auf die Provokation einzugehen.

Beidemal wird die echte Diskussion umgangen. Dabei wäre doch wohl jene Klippe in Ansatz zu bringen, die das 500-Jahres-Jubiläum 2017 soeben glücklich umschifft zu haben glaubte. Die Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte bei der Abschlussveranstaltung der Weltausstellung in Wittenberg gerade noch frohlockt, es sei gelungen, im Gegensatz zu den Jubelfeiern von 1817 und 1917 diesmal weltoffen, ökumenisch und eben nicht deutsch-national geredet zu haben. Liegt es da nicht eigentlich nahe, erst einmal die übergriffige Dreistigkeit als solche zu benennen, mit der die rechtsextreme Splitterpartei den Luther des Wormser Reichstags von 1521 für sich vereinnahmt?

Wir rütteln an einem Tabu des Reformationsjubiläums 2017. Beschwiegen wird weithin die historische Tatsache, dass die Leute um das Stichjahr 1517 herum dachten, der Mönch, Priester und Professor aus Wittenberg würde sich auch der „Beschwernisse Deutschlands“ annehmen, der Gravamina Germaniae, die man schon so lange unbearbeitet vor sich her geschoben hatte. Viele Menschen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation hegten die Hoffnung, jetzt würde endlich mal Politik mit dem Hammer gemacht. Freilich ist das nun kein Grund, dem Reformator eine Vertrautheit mit demokratischen Spielregeln zu unterschieben. Luther wäre gar nicht auf die Idee gekommen, man müsse Parteien wählen können –  sein Obrigkeitsdenken hätte ihn angesichts einer Wahl, wie wir sie heute kennen, völlig überfordert. Das kann ihm niemand vorwerfen: Nirgendwo im damaligen Europa gab es ein politisches System, das auch nur ansatzweise mit den modernen westlichen Verfassungen im Einklang sich befunden hätte. Selbst die italienischen Stadtrepubliken waren von anderem, nämlich nepotististischem Strickmuster.

Was die Szene vor dem Kaiser und den Reichsständen in Worms angeht: Da steht Luther eben ganz allein auf sich selbst gestellt, und die Überlieferung hat das, wenn auch historisch nicht wortwörtlich, so doch charakteristisch wahrhaftig erfasst: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ – Der dort standhaft steht, ist jedoch kein „Deutscher“ nach der Definition seit dem neunzehnten Jahrhundert, sondern einer, der direkt aus der Heiligen Schrift und mit Vernunftgründen seine Thesen und Bücher verteidigt und deshalb nicht widerrufen kann. Der entscheidende Ausspruch wird oft beim Zitieren vergessen: „Mein Gewissen ist in Gottes Wort gefangen.“ Luthers Heldentum ist also begründet im Evangelium. Die Liebe des Gekreuzigten und Auferstandenen, wodurch die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben geschieht, ist ihm Beweggrund, recht bald nach diesem Ereignis mit seiner Bibelübersetzung zu beginnen – als Entführter und zugleich durch seinen Kurfürsten Geretteter, als Junker Jörg auf der Wartburg.

So wenig wir aus Luther einen „Nationalen“ oder „Demokraten“ modellieren können, so unmöglich ist er uns als Gewährsmann für heutiges Verständnis von individueller Freiheit, religiöser Toleranz oder unbegrenzter Wissenschaft verfügbar. Er sah sich stattdessen in weltlichen Dingen jedermann untertan; auch streitend im Kampf gegen papistische Hetzer, jüdische „Toledot Jesu“-Schriften und türkische Kriegesmannen; und argumentationsfreudig in der Auseinandersetzung mit Humanisten und Heliozentrikern. Die Wittenberger Reformation eignet sich so gar nicht für „zeitgemäße“ Selbstprojektionen, sobald man sich entfernt von den hermeneutischen Grundthemen und den sich daraus entwickelnden zunächst musikalischen, später auch anderskünstlerischen Wirkungen. In der Klangrede aber ist sie großartig und abseits der Moden im Prinzip zeitlos gültig: Die Deutsche Bibel ist bis heute das maßgebliche deutschsprachige Literaturereignis; dieses wurde/wird übertragen auf etliche andere Sprachen dieser Erde; und die protestantische Kirchenmusik als erste kunstvolle Auswirkung der reformatorischen Entdeckung „allein aus dem Glauben allein Christus allein aus Gnaden allein aus der Schrift“ – sola fide solus Christus sola gratia sola scriptura – will ernsthaft niemand missen.

An der rückwärtigen Seite des Cotta’schen Hauses in Eisenach ist – ebenfalls nach historischer Vorlage – ein Luther gepinnt, der ein wenig und ganz von ferne aussieht wie ein Mainzelmännchen, das seine Zipfelmütze abgenommen hat: Der Unterschied ist jedoch, dass das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) nach dem relaunching seiner Werbezwerge keinesfalls frischer geworden ist, sondern sich, zusammen mit den Sendeanstalten des „Ersten“, eher als Staatsfernsehen hervortut, fast so, als müsste es berichten von den ersten gesamtdeutschen Volkskammerwahlen … Es ist keine Lust zu leben … – lieber Ulrich von Hutten, seien Sie froh, dass Sie diese geistige Wüste hier nicht mehr erleben müssen! Der Lateinschüler Martin Luder hingegen lebte von 1498 bis 1501 als Gast in einer Familie, wo das freie ununterbrochene Wort regierte. Unmoderierte Rede und Gegenrede waren willkommen, weil das den Geist schärfte und stählte. Den Teenager hat diese gesprächsweise liberale Atmosphäre so sehr geprägt, dass er noch viele Jahrzehnte später sich immer gern an seine „liebe Stadt“ erinnerte. Erfreut hätte er zur Kenntnis genommen, dass dort in Eisenach später (1685) der nachmals berühmte Sohn des Stadtpfeifers Ambrosius Bach, Johann Sebastian, das Licht der Welt erblickte, dem Luthertum seine Musik sowohl deutschgründlich als auch kosmosweitgespannt aufprägend …

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Wieso all diese hier angedeuteten Freiheiten im 2017er Bundestagswahlkampf nicht zum Tragen gekommen sind, wird ja vielleicht irgendwann einmal Stoff werden für wissenschaftliche Forschungen. Man wird dann womöglich sehen, wie eine reiche Sprache verhunzt wurde, weil sie vor lauter Bestreben nach „zeitgemäßer“  Anbiederung sich selbst ohne Not einschränkte, aus Angst, nicht „politisch korrekt“, nicht „genderistisch“, „antirassistisch“ oder „antifaschistisch“ genug, also nicht „gerecht“ oder sonstwie ideologisch genehm gewesen zu sein, statt dessen grandios vorbeigeredet und vehement zielgenau verfehlt. Wie satisfaktorisch wäre es, wenn jemand dann herausfände: Alles Pustekuchen! Die impotenten Slogans und Versatzstücke von damals sind als das zu beurteilen, was sie bei ihrer Entstehung und ihrem zeitgenössischen Gebrauch bereits waren, ohne dass nennenswert viele Menschen den Mut aufbrachten, es auszusprechen und dagegen aufzubegehren: Schall und Rauch, inhaltsleere Floskeln, dem vergänglichen Zeitgeist restlos unterworfen – im Ergebnis und bildlich ausgedrückt: Zittern wie Espenlaub, Haschen nach Wind – Pusteblume.

Fotos: (1) Nordwest-Zeitung vom 31. Dezember 1977; (2) Eisenach, Rückseite des Lutherhauses, Zustand 2017.