Irgendwann muss man zu Potte kommen. Genug sondiert. Es wäre langsam Zeit, ergiebige Gespräche anzusetzen, um rasch handelseinig zu werden und also handlungsfähig zu bleiben. Ein fernvergangen anmutendes und doch zugleich hochaktuelles Beispiel für Effizienz ohne regierungskoalitionäre Rücksichten auf falsche Eitelkeiten könnte die Lösung unseres laufenden Rätsels bieten. Eine gesunde Mischung aus Verkaufsveranstaltung und Volksfest, aus Feinabstimmungen und Folklore lässt uns an den uralten Zusammenhang von Gottesdienst und Schauspiel, von Liturgie und Drama erinnern.
Tempeldiener und Tragödiendarsteller haben seit jeher das Weltgeschehen bestimmt. Blutiger Ernst auf der einen, heitere Muse auf der anderen Seite, lockere Gottesbeziehung hie, zwingende Ausweglosigkeit da: Ob als Parabel oder Metapher, der Hamburger Dom hat das Zeug zum Paradigma, wie Aufklärung und Barbarei, Abbruch und Neubeginn, Wegräumen der Finsternis und Hoffnung auf Licht in eigenartiger Weise zusammengehen können. Geistliche Stellvertretung und weltliche Schaustellerei, Kirche und Konsum, sakrale Schranken und säkulare Schrankverkäufe haben hier in jahrhundertelanger Entwicklung letztlich ein gentleman agreement hervorgebracht, dem bei aller denkmalschützerisch immer wieder geäußerten Fragwürdigkeit doch eine konsequente Logik innewohnt.
Kann ein Restposten an den Zahn der Zeit mahnen, so wie es ein Gewöhnlicher Löwenzahn der ZEIT gegenüber tut? Durch unscharfe Zeiten nach den keineswegs zahnlosen Rückmeldungen auf die vorigen Beiträge „Restposten“ sowie „Rank und Schrank mit Schank“ gehen wir spurensicher mittels des hier eingerückten Fotos aus der Perspektive der Aussichtsplattform des Nicolaikirchturms in Richtung Rathaus auf jenen unterirdischen blinden Fleck zu, der die Hamburger Stadtsilhouette im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts so werden ließ, wie sie sich bis heute präsentiert:
Von den luftigen Höhen dieser zwei Türme steigen wir hinab in deren beidsam verbautes schlechtes Gewissen. Diejenigen, die schon länger hier sind (als Leser*innen dieses Weblogs), erinnern sich an das Foto, das ich nun auch all denen zugänglich mache, die sich erst jetzt zugeschaltet haben:
Dieses Foto ist an archäologischer Stätte entstanden. Wer nun seine Bibel hervorholt und beim Propheten Jesaja das sechste Kapitel aufschlägt, wird erschrecken: Dem großen Gott ist nämlich der ihm von Menschenhand gebaute Tempel viel zu klein, nur der Saum seines Mantels erfüllt den Raum, nach „oben“ hin ist alles offen … Der jugendliche Sohn des Amoz meldet sich freiwillig zum Dienst und wird von den Seraphim gesandt mit der Botschaft, die Herzen der Menschen nicht etwa zu öffnen, sondern zu – : verstocken. Abgründiger ist kaum je Gottlosigkeit benannt worden. Wer dann doch nach wüsten Verheerungen bei der Sache bleibt, gehört zum „heiligen Rest“.
Das Ausgegrabene wurde für die Nachwelt erhalten. Es kann nun bestaunt werden von denen, die hektisch vorbeizugehen im Begriff sind. Hamburg hat ja vieles zu bieten, da hält man sich mit Ruinen aus grauer Vorzeit nicht lange auf. So gesellt sich stabreimend und kalauernd die „eilige Rast“ hinzu, zumindest die Konsonanten stimmen überein. Da lacht uns ein Buchstabenspiel an, das den Propheten aus seiner eigenen hebräischen Sprachkunst her vielleicht erfreut hätte. Paradox genug geht es ja zu.
Jedenfalls muss Durchreisenden etwas geboten werden, sonst erzählen sie zu Hause nur von Jungfernstieg, Landungsbrücken, Reeperbahn, Michel und „König der Löwen“. Weil aber fragmentarisch Altes ganz allgemein nicht aus sich selbst heraus den Schaulustigen seinen vormaligen Zweck erschließt, ist ein Belehrungsschild vorhanden. Wer sich also für die freigelegten Überreste früheren gottesdienstlichen Lebens interessiert, kann alles Wissenswerte darüber auf einer wetterfesten Metallstellwand nachlesen.
Wie ist das Relikt präsentiert? Tony Buddenbrook & Morten Schwarzkopf liefern eine richtiggehende „Definition“, wie man sie sowohl in vormärzlichen Wörterbüchern als auch in biedermeierlichen Diarien hätte finden können: „Vereinsamt sein und sich langweilen“. Die Episode spielt im dritten Teil der „Buddenbrooks“, dem später literaturnobelpreisgekrönten Werk des gebürtigen Lübeckers Thomas Mann – in Travemünde, auf Spaziergängen am Strand und zum glazial überkommenen Findling „Möwenstein“. „Auf den Steinen sitzen“, hier am Speersort über Ziegeln im Klosterformat. Norddeutsche Backsteingotik, auf und über der man thront … Die installierten „Möbel“ auf der grünen Wiese mitten in Hamburg machen es möglich.
Gotische Reliquien und herbstlicher Gewöhnlicher Löwenzahn: Sie befinden sich zirka zweieinhalb Meter tief von jener durchsichtigen regenabweisenden Schutzschicht entfernt auf trockenem Grund. Es ist dieses eine Fenster, das die überdimensionierte „Hotelseife“ (lakonisches Wort eines Künstlers) im Nordwesten der Anlage von den vielen anderen sozusagen Seifensteinen (jerusalemisch-anastasistisch gesprochen) auf dem Platz unterscheidet.
Kunststoffige Kissen, also nicht zum kommunalen Kuscheln, sondern zum gesitteten Sitzen bestimmt, stecken den Raum ab, der früher einmal, bis in die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, von gewölberelevanten Pfeilern und Pfosten beherrscht war. Die Postenpositionen hat man nun in einem rasenumgreifenden ZEITbegrenzten Denkmal von anno 2009 nachgeahmt. Das sieht dann, etwas vergrößert, so aus:
Dieser Blick in die Tiefe von Löwenzahn und Ziegelstein ist mit Glas eingefasst und von weißer Sitzfläche umrahmt.
Hier sehen wir die „Hotelseife“ im ganzen. Im Hintergrund befindet sich die älteste Pfarrkirche Hamburgs, Sankt Petri.
Der Gegenblick eröffnet uns ein ganzes Feld von Sitzgelegenheiten, aber nur diese eine verfügt über ein Guckloch in den gotischen Untergrund. Und vielleicht kann hier die ZEIT Wunden heilen, jenes liberale Hamburger Wochenblatt mit dem Bremer Schlüssel im Zeitungskopf:
Dass dieser Platz öffentlich zugänglich ist, wäre keiner besonderen Erwähnung wert, gäbe es nicht seit wenigen Jahren dort die Möglichkeit, sich ausdrücklich mit dem Ursprung Hamburgs zu befassen. Nach etlichen Jahrzehnten Parkplatztristesse auf dem im Zweiten Weltkrieg durch Fliegerbomben völlig zerstörten Gelände des klassizistischen Johanneumgebäudes aus den letzten 1830er Jahren ist dies so, als hätte man sich ein Herz gefasst, der eigenen Geschichte ins Gesicht zu blicken. Jede Sitzgelegenheit markiert ein Pfeilerfundament jener fünfschiffigen gotischen dömlichen Hallenkirche, die man Anfang des neunzehnten Jahrhunderts meinte abreißen zu müssen.
Eine Fixierung auf die ökologische „Wahrheit“ mag wünschen, dass „jede Biene, jeder Schmetterling, jeder Vogel“ nachgerade „wissen“ soll, wer sich für sie einsetzt … Es ist ratsam, gegenüber allem parteigrün Affinen gesunden Abstand zu wahren, will man dort doch sogar die flugfähige Fauna mit Verstand ausstatten und sie damit vermenschlichen, ja den eigenen ideologischen Zwecken gefügig machen. Wir hingegen halten uns lieber schlicht und einfach an die Tatsache, dass tief unten Gewöhnlicher Löwenzahn ganz eigenständig und von aufgeregten „Grünen“-Sprecherinnen völlig unbetreut wächst, blüht, verwelkt und sich in alle Winde verstreut, wie die Blume auf dem Felde bei Hiob, im Psalter, beim zweiten Jesaja oder im ersten Petrusbrief, vom Hamburger Jung Johannes Brahms in seinem Deutschen Requiem so einzigartig in oratorisch-romantische Töne gesetzt und notabene im Dom zu Bremen uraufgeführt.
Wer ökonomisch denkt, wird seine Freude haben an den Überlegungen im Rathaus, nachdem der ganze in Rede stehende Bezirk endlich an die Stadt Hamburg gefallen war. Was könnte man mit dem Grundstück mitten im Zentrum alles erwirtschaften, wären erst einmal die schändlich verwahrlosten Häuser und dieses gotisch-finstere Monstrum selbst abgeräumt? Die Makler der Zukunft sahen in dem Areal nichts weiter als einen möglichst rasch zu beseitigenden Makel der Vergangenheit.
Wer ökumenisch sich der Sache annimmt, lernt, dass anno 1892 in Sankt Georg die erste katholische Kirche seit der Hamburger Reformation eingeweiht wurde. Sie versteht sich bis heute als Nachfolgerin des einst so unbeliebten Heiligtums und wahrt die geistliche Kontinuität einer seit dem neunten Jahrhundert bremischen Dependance: Bischof Ansgar verlegte seinen Sitz von Elbe und Alster an die Weser; den Kirchenoberen in Hamburg verblieben aber ihre Pfründen am Ort. Der heutige römisch-katholische St.-Marien-Dom, seit 1995 Kathedralkirche, ist in seinen architektonischen Außenformen ganz bewusst als Kleinausgabe des Bremer Doms errichtet.
Dass in Hamburgs St.-Petri-Kirche heutzutage evangelisch-katholisch-orthodoxe Andachten am Ansgaritag abgehalten werden, also in unmittelbarer Nachbarschaft zu den eingesessenen „Steinen“ und deren ZEITläuften, lässt jedes irenisch und liberal gestimmte Herz höher schlagen. Und eigenartig mutet an, dass ein langer Atem den Katholiken nach tausendeinhundertfünfzig Jahren wieder einen Erzbischofssitz in Hamburg beschert hat.
Das letzte erhaltene trockenlehmziegelsteinige Fundament des einstmals großartigen Kirchengebäudes aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert ist also dem seit dem Jahre 1806 sonst restlos verlorenen Hamburger Mariendom zuzuordnen. Es gehört schon einiges an Kühnheit hinzu, seine eigene Geschichte derart rabiat zu entsorgen. Zum Schluss dieses Beitrags mögen einige historische Anmerkungen zu diesem aus heutiger Sicht befremdlichen Vorgang ausgesprochen sein.
Bereits seit dem Jahr 845 gab es in Hamburg keinen Bischof mehr. Dennoch blieben adlige Domherren dort, die in dem ihnen zustehenden Bezirk Unabhängigkeit von jedwedem weltlichen Recht genossen. Die aufblühende Hafen- und Handelsstadt barg mithin in ihren Mauern ein exterritoriales Gebiet, das der Bürgerschaft wenig Nutzen und manchen Ärger einbrachte.
Die bremische Enklave wurde im Zuge der Reformation, wie die Stadt Hamburg, lutherisch, wobei alle Privilegien erhalten blieben. Im Westfälischen Frieden von 1648 kam der Dom (wie auch die Mutterkirche in Bremen) an Schweden; ab anno 1719 gehörte das Areal zum Kurfürstentum Hannover und war faktisch (wegen der herrscherlichen Personalunion mit London) seitdem der britischen Krone untertan. Die gottesdienstliche Versorgung erfolgte durch hamburgische Pastoren und Kirchenmusiker (z.B. Thomas Tallis, Johann Mattheson und Georg Philipp Telemann), aber wegen der Nichtzugehörigkeit zur Freien und Hansestadt erhielt der Dom niemals den Status einer Hauptkirche.
Für die Händler, die rund um das Gemäuer ihre Waren verkauften, war der Dom vor allem bei Regenwetter praktisch. Dann zogen sie, namentlich die Tischler, mit ihren Ständen in eine Halle, die im spätgotischen Stil nördlich Ende des Mittelalters angebaut worden war, den sogenannten „Schappendom“, von niederdeutsch „Schapp“ = „Schrank“. Ansonsten kümmerte sich die hannoversche Regierung aber so gut wie gar nicht um den Erhalt des Geländes: Kirche und umliegende Gebäude verfielen, manche Ecken mussten baupolizeilich abgesperrt werden.
Spätestens mit dem stattlichen hellen Neubau der Michaeliskirche, der 1762 eingeweiht werden konnte, sah man den gesamten Dombezirk als städtebaulichen Schandfleck an. Der Stadtrat startete 1772 eine Initiative mit dem Ziel, das Areal käuflich zu erwerben. Weil man aber eine diplomatische Auseinandersetzung mit dem Handelspartner England scheute, wurde daraus nichts. Der durch die hannoversche Regierung 1784 veranlasste Ausverkauf der bis dahin frei zugänglichen Dombibliothek mit kostbaren und einzigartigen Dokumenten zur hamburgischen Geschichte erzürnte viele kulturbeflissene Bürger und zeigte zugleich, wie sehr mit der überkommenen Domfreiheit auch insgesamt das „alte gotische Gebäude des Reiches“ am Ende war. Die dämlichen Dömlinge vor Ort passten allen aufklärerisch Gesinnten da nur zu gut ins Bild.
Als mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 die geistlichen Territorien aufgelöst wurden und infolgedessen der Dom an die Stadt Hamburg fiel, war kein Halten mehr. Bereis im Januar 1804 beschloss der Stadtrat den Abriss der „dunklen Höhle“, im Laufe des Jahres 1805 barg man die Gebeine aus den Gräbern im Kirchengebäude, um sie auf umliegenden Friedhöfen neu zu bestatten. Einen Großteil des Inventars verkaufte man, nur weniges brachte man in anderen Kirchen oder in Museen unter. Künstler wie Ludwig Tieck und Philipp Otto Runge suchten den verschwindenden Ort auf, machten Aufzeichnungen und blickten zwar romantisierend, aber keineswegs wehmütig auf die fortschreitend zur Ruine sich wandelnde Stätte.
Ende 1806, einige Monate nach dem Abschied des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aus der Weltgeschichte, war von dem gotischen Ungetüm nur noch ein Schutthaufen übrig. Auch der wurde abgetragen, und man grub sogar die Fundamente aus, einesteils der Steine wegen, andernteils, um ein für allemal vollendete Tatsachen zu schaffen und den Regensburger Beschluss von 1803 wirklich unumkehrbar zu machen.
Kirchenorganisatorisch empfand man allgemein Genugtuung. Ein Gotteshaus ohne feste Gemeinde war nun endlich weg, ein alter Zopf erfolgreich abgeschnitten. Später erging es anderen sakralen Gebäuden ähnlich: Das Johanniskloster und die Magdalenenkirche machte man in den 1820er und 1830er Jahren ebenso dem Erdboden gleich, wenn auch unter deutlich vernehmbaren Protesten. Denn nach den Befreiungskriegen begann in ganz Deutschland eine Rückbesinnung auf die eigene Geschichte; die Auffindung der originalen Baupläne zum Kölner Dom leitete eine neugotische Bewegung unter den Architekten ein. Nach dem Hamburger Stadtbrand von 1842 schleifte man die Ruine der Nicolaikirche und errichtete dort einen riesigen Kirchenneubau, gotischer, als der verschwundene Dom es jemals gewesen war. Mit dem Rathausturm aus den 1880er Jahren wurde dann die Anzahl der Türme im Stadtbild wieder komplettiert.
Auf einem winzigen Rest von Steinen kann man sitzen, einsam und allein den Träumen an eine große Vergangenheit nachhängend. Ruderalvegetation wie jener Gewöhnliche Löwenzahn lässt uns in je neuer Gegenwart aber auch den rudus, den „Schutt“ vor Augen führen, von dem sich die Altvorderen einst befreiten. Der alte Hamburger Dom lebt genau dort weiter, wo ihn die Stadtväter Ende des neunzehnten Jahrhunderts in seiner nützlichen und unterhaltsamen Version installierten: auf dem Heiligengeistfeld, in freier konsumorientierter Entfaltung. Die klerikale Fassung zog um nach St. Georg, wo heutzutage die gelungene bauliche Vereinigung von Neuromanik, Wiederaufbauarchitektur nach dem Zweiten Weltkrieg und jüngsten Renovierungen beeindruckt – oder sie zeigt sich als Mahnung an die Schrecken des Feuersturms von 1943 am heutigen Turm von St. Nicolai.
Ein Gleichnis auf die deutsche Geschichte der letzten zweihundertfünfzig Jahre? Durchaus. Und auch ein Fingerzeig auf all die Kirchengebäude, die heutzutage entwidmet werden, weil ihnen die sie einstmals füllenden Gottesdienstgemeinden abhandenkamen. Dies zu konstatieren sine ira et studio ist vielleicht auch eine Erkenntnis aus dem Blick in den Untergrund am Hamburger Speersort, hinab zum letzten verbliebenen Mauerrest, den der Löwenzahn dennoch und trotzdem als rudimentär dömlich ausweist. Hier koaliert versöhnt die Vergangenheit mit der Gegenwart und lässt auf eine Zukunft hoffen, da sämtliche Sondierungen zu brauchbarem Abschluss und alle Agierenden zu Potte gekommen sind.
Lesehinweise:
Joist Grolle: Ein Stachel im Gedächtnis der Stadt. Der Abriß des Hamburger Doms, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte Band 84, 1998, Seiten 1 bis 50 (als PDF-Datei abrufbar).
Uwe Bahnsen: Warum der Dom in Hamburg 1804 abgerissen wurde, in: Die Welt vom 1. Februar 2014.